
Interview: Claus Peter Simon
GEO WISSEN: Herr Dr. Hansch, Stress, so heißt es oft etwas diffus, könne den Einzelnen in einen Burnout oder gar eine Depression treiben. Was genau ist eigentlich Stress?
Dr. Dietmar Hansch: Letztlich ist es immer eine Reaktion des Körpers und der Psyche auf starke Widerstände, die sich uns entgegenstellen.
Aber Widerstände gehören zum Leben, es gibt sie seit Urzeiten, ohne dass sie viele Menschen krank gemacht hätten.
Natürlich, der Mensch ist evolutionär darauf ausgelegt, sich mit Herausforderungen auseinanderzusetzen: bei Gefahr entweder zu kämpfen oder zu fliehen, etwa wenn ihm ein wildes Tier gegenübersteht. Dann werden Stresshormone ausgeschüttet, steigen Blutdruck und Muskelspannung, erhöht sich der Herzschlag, Gefühle wie Wut oder Angst kommen auf. Nach einer Flucht oder einem Kampf normalisieren sich die Reaktionen des Körpers dann aber rasch.
Und das ist heute anders?
Unsere moderne Gesellschaft hat sich weit von den natürlichen Lebensbedingungen entfernt, für die unser Organismus und unser Geist ursprünglich konstruiert worden sind. Wir haben
weniger mit Gefahren zu kämpfen, die unseren Körper bedrohen, sondern mit Widerständen, die unsere Psyche gefährden. Ein Beispiel: Wir müssen im Büro als Verantwortlicher unbedingt ein wichtiges Projekt noch in diesem Monat abschließen. Dabei gibt es viele Schwierigkeiten – Kollegen, die nicht richtig mitziehen, dreinredende Vorgesetzte ohne Sachkenntnis, nicht zuletzt der eigene Erfolgsanspruch. Dem können Sie nicht einfach entfliehen.
Auch dabei kann man aber für das Gelingen kämpfen.
Es ist jedoch kein kurzer körperlicher Kampf, nach dem Stresshormone rasch wieder abgebaut werden. Blutdruck, Herzschlag und Muskelspannung bleiben längere Zeit auf einem
höheren Erregungsniveau, die innere Anspannung besteht über Tage und Wochen. Es kann dann zu dauerhaften Symptomen wie Gereiztheit, innerer Unruhe, negativen Gefühlen, Grübelei, Konzentrationsstörungen und Denkblockaden kommen. Aber auch zu körperlichen Folgen wie Verspannungen, Kopf- und Rückenschmerzen, Bluthochdruck, Herzstolpern, Schlafstörungen. Und am Ende drohen das Burnout-Syndrom oder eine Depression.

Wie äußert sich das konkret?
Wir können mit unserem Willen zwar unsere Hände kontrollieren, aber über unsere Gefühle haben wir keine direkte Willenskontrolle. Wenn wir versuchen, gegen negative Emotionen zu kämpfen, schaukeln wir sie auf und verstärken sie: Wir ärgern uns, dass wir den Ärger nicht abstellen können, und sind deprimiert darüber, dass wir deprimiert sind. Ein weiterer Teufelskreis entsteht, wenn wir uns beim Handeln ständig selbst beobachten und bewerten; das lenkt uns vom eigentlichen Ziel ab, wir verkrampfen und scheitern dann noch schneller.
Wir wollen in den Augen der anderen gut dastehen – sind unsere Mitbürger ein Hauptstressor?
Ein sehr mächtiger sogar, denn für unsere Vorfahren war soziales Eingebundensein absolut überlebensnotwendig. Unser Drang nach sozialer Anerkennung ist deshalb außerordentlich
stark. Und er entfaltet sich in Gehirnen, die ständig zur Reflexion neigen: „Warum haben meine Kollegen so schweigsam auf meinen Wortbeitrag reagiert? Haben sie etwas falsch verstanden?“ – „Was denken sie wohl, was ich gemeint habe, als ich sagte ...“ Hinzu kommt, dass unser Denken eine Tendenz zur Idealisierung, Übertreibung und Verabsolutierung hat:
Wir wollen von allen geliebt werden, wollen, dass alle unsere Erwartungen erfüllen. Ist das nicht so, macht uns das unweigerlich Stress.
Nimmt der Stress und nehmen Folgeerkrankungen wie Burnout-Syndrom und Depressionen in der Bevölkerung tatsächlich zu?
Ein nicht unerheblicher Teil der steigenden Zahl an Krankschreibungen aufgrund psychischer Probleme resultiert aus der höheren Aufmerksamkeit für solche Erkrankungen und die häufiger gestellten Diagnosen. Aber meine Erfahrung als Mediziner sagt mir: Auch die tatsächliche Zahl der Fälle hat zugenommen.
Gibt es neben den inneren auch äußere Ursachen dafür?
Vor allem die gesellschaftlichen Veränderungen, etwa die Arbeitsverdichtung in vielen Berufen und die Unsicherheit durch die Globalisierung. Darüber hinaus führen die Digitalisierung
und die neuen Medien zu einer Informationsüberflutung bei gleichzeitiger Forderung nach ständiger Erreichbarkeit. Die Beschleunigung bringt auch Entwertungen mit sich, indem etwa Wissen eine immer kürzere Halbwertzeit hat. Ständig müssen wir energiezehrende Entscheidungen treffen, sei es bei der Wahl des Stromanbieters oder des Mobilfunkvertrags. Gleichzeitig erscheinen uns die Entwicklungen auf der Welt zunehmend unberechenbar, undurchschaubar und damit unserer Kontrolle entzogen – etwa die Bedrohung durch Börsenturbulenzen oder den Terrorismus.
Das klingt, als sei der Mensch für die moderne Welt nicht geschaffen.
Das ist er auch nur begrenzt, denn als Gewohnheitstier kommt er am besten klar, wenn es viele Routinen gibt. Das kann entlasten und Energie sparen. Daher treten Stress und psychische Erkrankungen in modernen Gesellschaften häufiger auf als in traditionellen Gemeinschaften – und in Metropolen häufiger als auf dem Lande. Wenn aber Normen und Werte nicht mehr viel gelten, weiß der Einzelne nicht mehr intuitiv, was richtig und was falsch ist. Wenn familiäre Verbindungen sich auflösen, muss er sich selbst um seine Beziehungen
kümmern. Das alles kostet psychische Energie.
Wie kommt es dann im konkreten Fall zu einer – wie Sie es nennen – Erschöpfungsspirale, die in das Burnout-Syndrom oder eine Depression übergehen kann?
Der Einzelne erlebt die Anspannung und den Kampf gegen Widerstände zunächst als belastend. Er erkennt, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen der Realität und den eigenen Ansprüchen, den inneren Muss-Vorstellungen: „Ich muss in diesem Monat unbedingt den neuen Projektantrag schreiben.“ – „Der Vortrag nächste Woche vor den Kollegen muss perfekt werden.“ – „Ich muss meinen Sohn endlich dazu bringen, dass er mehr für die Schule tut.“ Es folgt dann eine Phase, in der der Einzelne vermehrt kämpft, verbissen versucht, das Ziel zu erreichen. Schließlich stellt er fest, dass er die Widerstände nicht überwinden kann.
Was geschieht anschließend?
Es kommt zur Eskalation. Das beginnt bei dem Gefühl „Ich schaffe es nicht“. Der Betreffende sieht sich bedroht durch die unüberwindbar erscheinenden Widerstände, steigert sich in seinen Ärger hinein, fasst Katastrophengedanken: „Ich verliere meinen Job.“ – „Ich werde sozial geächtet.“ – „Mein Kind gehört zu den Verlierern.“ Er wird hektisch und verkrampft, kann nicht mehr strategisch denken und kreativ sein. Höhere geistige Funktionen blockieren, weil die Stressreaktion Energie für körperliche Anstrengungen freisetzt, nicht aber für psychische. Es kommt zu einem Tunnelblick.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Die Geschichte vom Wanderer und Holzfäller illustriert das gut: Ein Wanderer sieht, wie ein Holzfäller mit viel Mühe einen Baum sägt, aber nicht vorankommt, weil die Säge nicht scharf ist. Auf die Frage, warum er die Säge nicht schärfe, sagt der Arbeiter: „Dazu habe ich keine Zeit, ich muss noch viele Bäume fällen.“ Wie dumm von ihm, werden Sie sagen. Aber ab einem bestimmten Grad des Drucks bleiben wir in der Nahperspektive gefangen und spulen nur noch gelernte Automatismen ab. Dann sind wir auf dem besten Weg, innerlich auszubrennen
oder depressiv zu werden.
Aber bestimmte Dinge müssen wir erreichen, allein um zu überleben.
Wir müssen uns ernähren, wir müssen atmen, wir müssen es warm haben – das sind Grundbedürfnisse unseres Organismus. Dann gibt es Muss-Vorstellungen, hinter denen berechtigte
Wünsche stehen, die aber nicht überlebensnotwendig sind: Ich muss einen Partner haben, ich muss von meinen Kollegen gemocht werden, ich muss in einem schönen Haus leben. Und schließlich sind da Muss-Vorstellungen in unserem Kopf, die reine Erfindungen unseres Geistes sind: Ich muss eine halbe Million Euro im Jahr verdienen, sonst lachen mich alle aus. Mein Mann muss Sternbild Schütze sein, sonst hat die Ehe keine Chance. Wirklich müssen müssen wir also nur sehr wenig.
Können derartige Vorstellungen krankhaft werden?
Durchaus, bei Menschen mit Helfersyndrom etwa müssen die Erwartungen aller anderen immer vollauf befriedigt werden. Bei Narzissten müssen die Dinge so laufen, dass es ihnen Bewunderung einbringt. Bei Perfektionisten dreht sich fast alles um die Erfüllung äußerer Erfolgskriterien.
Wann spätestens sollte der Einzelne großen Stress ernst nehmen und versuchen, etwas zu ändern?
Sobald die stressbedingte Erschöpfung beginnt, die Regenerationsfähigkeit zu untergraben. Wenn man nicht mehr abschalten kann, man sich auch nach einem Wochenende nicht mehr
erholt fühlt – wenn der subjektiv empfundene Ladestand der körpereigenen Batterien dann nicht wieder mindestens 80 Prozent erreicht hat. Spätestens wenn es zu starken Schlafstörungen kommt, sollte man etwas unternehmen.
Was könnte das konkret sein?
Direkt entlasten kann mitunter schon ein Urlaub – oder dass man eine Aufgabe an andere abgibt. Sich Zeit für Muße oder Sport einzuräumen wirkt eindeutig stressmindernd.
Da werden die meisten sagen: Das ist ja gerade das Problem, ich kann im Moment keinen Urlaub machen oder die Belastung nicht vermindern, daher geht es mir so schlecht.
Sicher, es gibt Fälle, wo man auch als Therapeut sagen muss, da lässt sich der Druck nicht sofort reduzieren. Aber meist hängen die Probleme mit unseren unhinterfragten Muss-Vorstellungen zusammen. Muss ich wirklich ein großes Haus und zwei Autos haben und deswegen den nächsten Karriereschritt machen? Was an psychischem Leid nehme ich dafür in Kauf?
Das Neinsagen fällt vielen Menschen aber extrem schwer.
Dabei zählt es zu den wichtigsten Kompetenzen der individuellen Burnout-Vorbeugung: Nein zu sagen gegenüber den eigenen Ansprüchen und äußeren Anforderungen. Aber wir wollen
andere nicht vor den Kopf stoßen, nicht in ein schlechtes Licht geraten, Arbeit nicht auf andere abschieben. Doch für die Psyche ist es gesünder, loszulassen, seine Wertehierarchie zu hinterfragen, auch materielle Verluste hinzunehmen. Das schmälert nicht das Lebensglück, im Gegenteil.