Interview: Patrick Blume und Bertram Weiß
GEO WISSEN: Herr Professor Grimm, wohl mehr als fünf Millionen Deutsche ernähren sich vegetarisch, knapp eine Million leben gar vegan. Folgen diese Menschen nur einem Trend – ist
das alles eine zeitweilige Mode?
Prof. Dr. Herwig Grimm: Nein, wir beobachten einen tief greifenden Wandel in der Beziehung zwischen Tieren und Menschen. Immer mehr Menschen machen sich Gedanken darüber,
welche Bedürfnisse Tiere haben und wie wir mit ihnen umgehen. Und ein beachtlicher Teil der Bevölkerung zieht weitreichende Konsequenzen für seine Ernährungsgewohnheiten, verändert grundlegend seinen Lebensstil, verzichtet auf durchaus wohlschmeckende und nahrhafte Lebensmittel und sucht engagiert nach Alternativen.
Sollten alle Vegetarier werden? Oder sogar Veganer?
Ich bin kein Schiedsrichter und fälle keine Urteile. Niemand kann einem diese Entscheidung abnehmen; die muss jeder selbst für sich treffen. Aber es gibt neben gesundheitlichen,
ökonomischen und religiösen Gründen eben auch gute ethische Argumente, auf Fleisch und andere Produkte aus tierischer Haltung zu verzichten.
Um welche Argumente geht es?
Das hängt von den Vorstellungen der Menschen darüber ab, was gut und was schlecht ist. Doch es ist wichtig, ein Argument mit Wissen zu untermauern. Erst mit ausreichend Informationen kann man überhaupt eine gute ethische Entscheidung treffen. Nehmen wir an, es stellt sich die Frage: Soll ich dieses Schnitzel essen oder nicht? Will ich zu einer gut begründeten Antwort gelangen, muss ich weitere Fragen beantworten, etwa: Unter welchen Bedingungen hat das Tier gelebt, hatte es Auslauf oder stand es sein Leben lang in einem Stall? Wie erlebte es die Welt, kann es etwa planen oder Gefühle entwickeln? Wie ist es gestorben, schnell und schmerzlos oder grausam? Aber auch: Unter welchen Bedingungen arbeitet der Bauer, hätte er einen ökonomischen Spielraum, seine Tiere anders zu halten? All diese und noch mehr Fragen sind notwendig, um eine ethische Abwägung zu beginnen.
Wer sich fleischlos ernährt, will oft einfach nicht schuld sein am Tod von Tieren.
Wenn wir Schuld als etwas verstehen, das durch die Verletzung der Interessen eines anderen Lebewesens entsteht, dann macht sich jemand, der kein Fleisch isst, sicherlich weniger
schuldig. Aber deshalb wird er nicht zwangsläufig zum besseren Menschen. Denn wer an diesem Punkt aufhört nachzudenken, macht es sich zu einfach. Für die Produktion von Eiern etwa braucht man ja vor allem weibliche Tiere. Die männlichen Küken werden in der Regel direkt nach dem Schlüpfen getötet, indem sie geschreddert oder vergast werden. Viele Millionen jedes Jahr. Wer Eier isst, ist auch dafür mitverantwortlich.
Für ein reines Gewissen müssten wir also vegan leben?
Viele Menschen suchen nach einer definitiven Grenze, die verspricht: Wenn ich die einhalte, dann muss ich mir keine Gedanken mehr machen. Eine solche Grenze gibt es aber nicht.
Es kann kein Leben geben, ohne das Leben anderer Kreaturen zu beeinträchtigen; wir können nicht essen, ohne schuldig zu werden, und wir werden auch nie einen Lebensstil finden, der keine moralischen Fragen mehr aufwirft. Aber jeder kann und muss für sich entscheiden, wie er mit dieser Situation umgeht. Deshalb ergibt es meines Erachtens keinen Sinn, eine harte Linie zu ziehen: hier die Vegetarier, die Guten, dort die Fleischesser, die Schlechten. Denn selbst Veganer sind, zumindest indirekt, für Tod oder Leid von Tieren mitverantwortlich. Wenn ein Feld für den Anbau von Soja oder Getreide umgepflügt wird, kommen dabei Mäuse, Würmer und Schlangen ums Leben. Das lässt sich weder wegdiskutieren noch vermeiden.