Windhoek bis Kalahari
LOGBUCH MARKUS, WINDHOEK [KM 0] WORAUF WIR UNS EINGELASSEN HABEN, ahne ich erst, als ich unser Auto sehe. Ein bulliger Jeep mit Ersatzrad am Heck, einer Schaufel und einem Reservekanister an der Außenseite. Dabei fasst schon der Haupttank 140 Liter. Aber damit scheint man nicht weit zu kommen in einer Region, in der es kaum Menschen gibt, nur Landschaft. Der Süden Namibias ist das große, spektakuläre Nichts.
Ins Nichts fährt man nur mit dem richtigen Fahrzeug und dem richtigen Freund. Das Auto leihen wir uns vor Ort, den Freund habe ich aus Deutschland mitgebracht; seit ich ihn kenne, trägt er den Spitznamen Fabio. Er ist der weniger zögerliche, der abenteuerfreudigere von uns beiden. Man könnte auch sagen: der mutigere. Er lässt es sich nicht anmerken, aber vermutlich bedauert er es, dass wir nicht noch diese Sandbleche erhalten, die meines Wissens immer eingesetzt werden, wenn höllenartige Stürme alle Straßen verweht haben.
LOGBUCH FABIO, WINDHOEK [KM 0] WENN ICH MIT MARKUS VERREISE, ist es eigentlich egal, in welches Land wir fahren, wir geraten immer in absurde Situationen. Oft kommen wir vor Lachen nicht weiter. Aber jetzt steht auf dem Hof der Autovermietung ein ernster Mann vor uns. Er sagt, wir sollen die Schlösser unseres Wagens mit Klebeband abdichten, weil sie sonst der Sand zusetzt, der dort draußen überall sei. Er zeigt, wie wir von Frontantrieb auf Allrad umschalten. Er warnt uns vor „negligent driving“, was hier so viel bedeutet wie Raserei auf Sandpisten. Dann zeigt er auf die Autowracks, die mit eingedrückten Kühlern und Dächern im Hof stehen, und für einen Moment denke ich: Vielleicht wird es diesmal doch kein Spaß.
LOGBUCH MARKUS, WINDHOEK [KM 6] WIR HABEN EINGEKAUFT. Beim Blick in den Einkaufswagen könnte man meinen, wir wollten nicht nur Namibias Süden, sondern ganz Afrika durchqueren. Fabio hat sich anschließend wie selbstverständlich ans Steuer des Jeeps gesetzt und muss sich nicht nur an den Linksverkehr gewöhnen. Auch daran, dass die Schalthebel für die Blinker links sitzen und die für die Scheibenwischer rechts, was dazu führt, dass er die ersten Kilometer ständig wischt, obwohl er abbiegen will. Allerdings blinkt er nie, statt zu wischen; schließlich ist Trockenzeit.
LOGBUCH FABIO, HOACHANAS [KM 224 ] KURZ HINTER WINDHOEK endet plötzlich der Asphalt. Die Straße besteht jetzt nur noch aus planiertem Sand. Ich versuche, den Wagen in den ausgefahrenen Spuren zu halten, aber wir schlingern wie ein Boot. Als ich schneller fahre, beruhigt sich der Jeep, aber nun bin ich für meinen Mut zu schnell. Verkrampft sitze ich hinterm Steuer, die Bilder der Wracks in der Autovermietung noch im Kopf, und erwarte die nächste Kurve. Als Markus fragt, wie ich zurechtkomme, sage ich: „Sehr gut.“ Je weiter wir fahren, desto leerer wirkt die Landschaft. Erst gibt es keine Akazien mehr, dann keine Sträucher, dann Gras nur noch als Büschel. Irgendwann taucht eine kleine Kirche auf, umstanden von grünen Bäumen. „Erbaut 1857“ steht über dem Eingang. Von drinnen kommt Gesang. Eine kleine schwarze Frau mit einer Flickenschürze tritt heraus und begrüßt uns auf Deutsch. Susanna Kopar ist die Pastorin. In den 1980er Jahren habe sie in Wuppertal gewohnt, sagt sie, und einmal sei sie auch in der DDR gewesen, auf der Wartburg. Dann verschwindet sie in einem Haus und kehrt mit einem blauen Lederetui zurück, in dem eine weiße Plakette mit dem Kopf von Martin Luther liegt. Als wir uns verabschieden, sagt sie: „Gute Heimreise. Falls wir uns nicht mehr sehen.“
LOGBUCH MARKUS, KALAHARI ANIB LODGE [KM 312] FABIO HÄTTE AM LIEBSTEN WILD GECAMPT. Aber das meiste Land ist eingezäunt, was mir ganz lieb ist. So erreichen wir in der Dämmerung unseren ersten Zeltplatz. Ein halbes Dutzend gemauerter Häuschen mit Strom und Wasser, umgeben von Akazien. Leise fluchend, lädt Fabio das dank eines Luftschlitzes im Kofferraum wie mit feinem Sand panierte Gepäck aus. Mein Fluchen gilt der völlig unverständlichen Dachzeltkonstruktion: viel zu viele Stangen für zu wenig Zelt. Eine Stunde später sitzen wir am Feuer. Nur das Knistern des Kameldorn-Holzes ist zu hören, das schwer wie Stein war, als wir es im Supermarkt kauften. Jetzt brennt es wie Papier. So angenehm ermattet bin ich, dass ich sogar die Funken ignoriere, die aus der Glut auf meine Hose springen. Auf dem Grill wendet Fabio inzwischen boerewors, mit Koriander gewürzte Wurstschnecken. Ich höre ihn noch sagen, dass wir bislang vermutlich mehr Tiere gegessen als gesehen hätten. Dann schlafe ich ein.
Mariental bis Fish River Canyon
LOGBUCH FABIO, MARIENTAL [KM 335] WIR BRECHEN FRÜH AUF und erreichen schon nach kurzer Zeit eine Stadt mit Namen Mariental. Fünf Kirchen, drei Supermärkte, ein Bahnhof. Der Ort gleicht einem Quadrat, alle Straßen schneiden sich im rechten Winkel, rundherum ist Wüste. Offenbar fängt der Mensch, wenn er im Nichts neu beginnt, erst einmal gerade an. Erst mit der Zeit wird alles krumm. Ich fahre uns weiter in die Kalahari hinein. Keiner außer unserer eigenen Staubwolke kann folgen. Nach einer Stunde kommt uns ein Jeep entgegen. Kurz bevor er passiert, drückt Markus mit drei Fingern von innen gegen die Frontscheibe. Es sieht aus, als wolle er grüßen, also hebt auch der Mann im Jeep seine Hand. „Was soll das denn?“, frage ich. Das sei kein Gruß, antwortet Markus. Das sei ein Trick, um die Spannung im Glas zu verringern, damit sie bei einem Steinschlag nicht zerspringt. Er habe das in Australien gelernt. Bis zum Ende der Reise frage ich mich, ob das Unsinn ist. Andererseits gelten wir nun vermutlich als die freundlichsten Reisenden ganz Namibias.
LOGBUCH MARKUS, KÖCHERBAUMWALD [KM 613] NOCH IMMER WIRKT DIE WEITE DER KALAHARI etwas einschüchternd auf mich. Fabio nötigen die Sandpisten weitaus weniger Respekt ab. Hin und wieder überlegt er sogar, das sture Geradeausfahren durch einen kurzen Abstecher in eine der gelegentlich fernab der Straße auftauchenden Sandhosen zu unterbrechen. Bremsen kann ich ihn nicht. Allerdings reicht meist ein kurzes „negligent driving!“, um ihn wieder auf Kurs zu bringen.
Übernachtung auf einem Campingplatz unterhalb einer Reihe von Köcherbäumen. Mein Schlaf ist unruhig. Die Zeltbahnen flattern, als würde ein Elefant an ihnen rütteln. Da aber die einzigen Tiere, die wir auf dem Gelände gesehen haben, ein dreibeiniger Hund und ein altersschwaches Warzenschwein gewesen sind, wird es wohl der Wind sein.
LOGBUCH FABIO, KEETMANSHOOP [KM 630] DAS DENKMAL STEHT VOR EINER TANKSTELLE. Auf dem Sockel die Figur eines Farmers, ein Lamm auf den Armen, da¬neben das Mutterschaf. Es sieht aus wie ein Denkmal für den unbekannten Landmann, aber es ist ein Denkmal für das Schaf. Knapp hundert Jahre ist es her, dass die Deutschen das Karakulschaf aus dem heutigen Usbekistan in ihre Kolonie nach Südwestafrika einführten. Ein anspruchsloses Tier, dessen Fell sich weltweit teuer verkaufen ließ, solange es von neugeborenen Lämmern stammte. Das Schaf hat dem Menschen ein Überleben in der Wüste ermöglicht, und dafür setzt er ihm ein Denkmal. Ich bin gerührt und übersehe gern, dass sich in die Darstellung ein kleiner Fehler eingeschlichen hat: Der Farmer auf dem Sockel ist nicht weiß, sondern schwarz.
LOGBUCH MARKUS, SEEHEIM [KM 657] KAUM HAT FABIO auf dem Beifahrersitz Platz genommen, ist er eingeschlafen. Wie eine in sich gesunkene Marionette hängt er leicht wippend im Gurt. Ich suche ein Radioprogramm, finde allerdings nur eines mit extremen Tonaussetzern. Erst nach einer Weile merke ich, dass es sich um ein Programm in der Schnalz- und Klicklautsprache der Buschleute handelt. Begleitet vom Motorengeräusch, fahre ich geradeaus, immer geradeaus, und schnalze leise vor mich hin.
LOGBUCH MARKUS,
ZWISCHEN SEEHEIM UND FISH RIVER CANYON [KM 765] IRGENDWO WEIT HINTER SEEHEIM sitzen drei Menschen abseits der Straße. Hinter ihnen eine Maschine mit gewaltigen Rädern. Damit planiert ihr Besitzer Straßen, vielmehr: diese Straße. Seit einem Jahr ist Franz Grove auf ihr unterwegs. Nur langsam kommt er voran, 15 Kilometer pro Tag, einer riesigen Schnecke gleich; sein Haus hat er immer dabei – einen mit Alu-Platten verkleideten Anhänger. Den teilt sich er sich mit seinem schwarzen Assistenten Allan und seiner dunkelhäutigen Frau Hindrina, die auf der Metalltreppe sitzt und die Zeitschrift „huis“ liest, „Haus“. Auf Seiten der Südafrikaner hat Grove
einst als Weißer gegen die Rebellen der SWAPO gekämpft. „Für die Freiheit!“, sagte er damals. Jetzt breitet er die Arme vor der Weite aus und sagt: „Was für eine Freiheit!“ Ein Auto besitzt Grove nicht, eingekauft wird, wenn die Planiermaschine eine Ortschaft erreicht. Meist einmal im Monat. In der Woche zuvor ist ihm der Sprit für seine Kühltruhe ausgegangen. Wir lassen ein paar Dosen kaltes Bier da und sehen im Rückspiegel, wie Grove sie gegen seine nackte Brust drückt. Und lacht.
LOGBUCH FABIO, FISH RIVER CANYON [KM 801] DER FISH RIVER CANYON IST DER GRÖßTE CANYON AFRIKAS, 160 Kilometer lang, bis zu 550 Meter tief, aber wir haben noch nie von ihm gehört, und wir sehen auch nichts von ihm, bis wir direkt an seinem Abgrund stehen. Um die Mittagszeit kann es dort unten fünfzig Grad heiß werden. Darum ist es verboten, hinunterzugehen. Wir stehen hinter einer Absperrung, auf deren Geländer ein paar schwarze Vögel sitzen. Sie sehen aus wie Amseln und beobachten uns wie die Spatzen, die zu Hause die Cafés umkreisen, in der Hoffnung auf Krümel. Ich gehe zum Auto, hole eine Handvoll Müsli und stelle mich mit ausgestrecktem Arm auf. Innerhalb von Sekunden ist er komplett unter schwarzen Federn verschwunden. Markus sagt, ich sehe aus wie ein Denkmal für den unbekannten Vogel. Da bin ich schon wieder gerührt.
Oranje bis Kolmannskuppe
LOGBUCH MARKUS, ORANJE [KM 952] IRGENDWANN ERREICHEN WIR EINE SANDIGE PISTE, die sogar auf unserer Karte als Nebenstrecke bezeichnet wird; dabei ist bislang selbst die rumpeligste Straße als „Main Road“ auf ihr ausgewiesen. „Und, sollen wir die nehmen?“, fragt Fabio in einem Ton, als erwarte er von mir ohnehin kein Ja. Aber zu meiner Überraschung ist kaum etwas vom Unbehagen geblieben, das ich zu Beginn der Reise auf den Straßen empfunden habe. Kurz darauf jagt der Jeep eine – fast zu meinem Bedauern – tadellose Piste entlang. Einige Stunden später nimmt die Vegetation zu, wird üppiger und üppiger, und die Wüste faltet sich zu Bergen. Dann erreichen wir den Oranje, der sich rund 600 Kilometer an der Grenze zu Südafrika entlangschlängelt. Palmen und dichte Büsche hat das Wasser der vermeintlichen Ödnis entlockt und die Uferzone in ein sattgrünes Band verwandelt. Beeindruckt setzen wir uns in den Schatten eines Baumes und überlegen, was wohl geschähe, wenn wir einen Monat lang nur einen Quadratmeter Wüste gießen würden. Vielleicht entstünde eine Mini-Oase, mutmaße ich. Fabio ist weniger optimistisch. „Wahrscheinlich“, sagt er, „verläuft’s sich im Sand.“
LOGBUCH FABIO, MINENSTADT ROSH PINAH [KM 1032] ROSH PINAH LIEGT HINTER EINER HALDE, die wir erst für einen Berg halten. Im Kreisverkehr werden wir angehupt, das erste Mal seit Tagen. Eigentlich wollen wir weiter, aber unsere Vorräte gehen zur Neige, und so halten wir vor einem Einkaufszentrum. Am Schwarzen Brett sucht jemand eine Mitfahrgelegenheit nach Windhoek für einen Tag in zwei Monaten. Der Augenarzt kündigt sein Kommen für nächsten Dienstag an. Die Polizei fahndet nach Zeugen eines Einbruchs in eine Bar. Am Ausgang spricht uns ein Mann an. Er hat in uns die einzigen Touristen im Ort erkannt. Sein Name ist Andries Aspara, er stellt sich als Stadtplaner vor und bietet an, uns Rosh Pinah zu zeigen. Obwohl die Stadt so abseits liegt, ist sie erstaunlich gut ausgestattet – und zugleich wirkt sie seltsam unbenutzt. Tennisplätze, Fußballfelder, eine Reihenhaussiedlung, Carports, Straßenlaternen, getrennte Mülleimer für Plastik und Papier. Eine kleine Oase im Nichts, Andries Aspara hat sie erschaffen. Aber bezahlt hat sie die Mine, die vor Jahren hinter der Stadt erschlossen wurde. Sie fördert Zink, die Halde ist der Abraum, der dabei anfällt. Das Unternehmen ernährt 6000 Arbeiter und ihre Familien, es wird das noch die nächsten zwanzig Jahre tun. Dann muss Rosh Pinah von etwas anderem leben. „Vielleicht Tourismus?“, fragt Andries Aspara, und als wir nicht antworten, sagt er: „Sie haben doch auch hierher gefunden.“
LOGBUCH MARKUS, AUS [KM 1006] WIR SIND IM NAMIBISCHEN REISEALLTAG ANGEKOMMEN. In den kleinen Shops, die wir unterwegs finden, kaufe ich Feuerholz und Antilopensteaks inzwischen so selbstverständlich wie in Deutschland Grillkohle und Schweinenacken. Und längst bauen wir auch bei Dunkelheit das Nachtlager in zügiger Arbeitsteilung auf, die keine Abstimmung mehr braucht. Mit ebenfalls beachtlicher Routine nicken wir dann am Feuer ein.
LOGBUCH FABIO, KOLMANSKUPPE [KM 1219] JE NÄHER WIR DER KÜSTE KOMMEN, umso tiefer fahren wir in etwas hinein, das wie Nebel aussieht, aber eine Staubwolke ist. In der Autovermietung hatte man gesagt, wir sollten uns bei Sturm nicht hierher wagen, weil uns der Wind den Lack vom Blech schmirgeln werde wie ein Sandstrahlgerät. Als wir in Kolmanskuppe aussteigen, ist der Lack noch dran. Dafür wird in den nächsten Minuten die Haut sandgestrahlt.
Kolmanskuppe liegt auf einer Anhöhe zwischen Wüste und Meer. Es wurde um 1908 gegründet, nachdem man in der Gegend Diamanten fand. Heute ist es eine Geisterstadt. Die Wohnhäuser, das Vereinsheim, das Krankenhaus, alles verlassen. Der Wind hat Dünen in die Gebäude geschoben, an deren Wänden noch immer die alte Farbe haftet. Es ist, als stünden wir im Inneren einer riesigen Sanduhr und könnten sehen, wie die Zeit vergeht. Ich muss an Rosh Pinah denken, die Stadt, die ihre Existenz einer Mine verdankt und aus der Andries Aspara einen Ort machen will, der aus sich heraus lebt. Kolmanskuppe hat es nicht geschafft.
Lüderitz bis Windhoek
LOGBUCH MARKUS, LÜDERITZ [KM 1229] MITTAG IN DER KÜSTENSTADT LÜDERITZ, in der einst die ersten deutschen Siedler an Land gegangen sind. Inzwischen ist es eine skurrile Kulisse aus Wüste, Fachwerk und schiefen Tannen, gebogen vom Wind. Der kommt vom Meer und bläst kräftig und unaufhörlich, schlägt Verkehrsschilder gegen ihre Stangen und weht Tüten in nicht endendem Looping durch die Luft. Innerhalb von Minuten bereitet dieser Wind Kopfschmerzen. Blieben wir länger, triebe er mich wahrscheinlich in den Wahnsinn. Ich vermute, dass es bereits so weit ist, als ich aus dem Supermarkt komme und zwei pinkfarbene, mit langhaarigen Blondinen besetzte Reisebusse sehe.
LOGBUCH FABIO, AUF DER STRAßE C13 [KM 1369] EINE STUNDE, NACHDEM WIR GETANKT HABEN, steht unsere Anzeige schon wieder auf Reserve. Wir halten. Markus rutscht unter den Jeep, als wolle er etwas kontrollieren. Das wirkt ganz fachmännisch, bis er fragt: „Wo ist eigentlich der Tank, Fabio?“ Schließlich steigen wir wieder ein, und je länger wir unterwegs sind, desto höher steigt die Tankanzeige. Vielleicht haben wir ein Auto, das man nicht leer fahren, nur voll fahren kann.
LOGBUCH FABIO, AUF DER D707 [KM 1399] MIT DER ZEIT BEKOMMEN WIR EINEN BLICK FÜR DAS NICHTS. Wir bemerken die kleinen Veränderungen in der Vegetation, die sich anfangs nie zu ändern schien. Wir achten auf die Farben des Sandes. Wir weisen uns auf die bienenkorbartigen Nester der Siedelweber hin und auf eine der seltenen Wolken. Wir vergleichen Sonnenuntergänge und die Stärke des Windes. Wir sehen mehr, je länger wir schauen.
LOGBUCH MARKUS, KOIIMASIS [KM 1459] SEIT STUNDEN NUR ROTE DÜNEN UND GRAS, das so spitz aus dem Boden wächst, als habe man Stachelschweine eingegraben. An einem Farmschild halten wir, öffnen ein Tor und biegen aus Neugier auf ein privates Grundstück ab. Immer wieder muss ich aus dem Wagen steigen, Tore öffnen, Tore schließen. Über gigantische Flächen erstrecken sich die Farmen im Süden Namibias, wo das Land fast nichts kostet, weil es seinen Besitzern nichts bietet außer Schönheit. Die Farm Koiimasis, die wir irgendwann erreichen, ist etwa so groß wie Liechtenstein. Die Männer, die uns begrüßen, sprechen Deutsch. Es sind Ralf, der sich früher bei Mercedes um die Logistik kümmerte und hier nun Ausritte anbietet, und Roland, ein heimatmüder Maurer aus Thüringen. Gemeinsam mit dem Farmbesitzer haben sie vier Chalets in die Felsen gebaut und sich selbst ein Versteck vor der Welt. Zum Essen gehen wir ins höhlenartig anmutende Haupthaus. „Wie bei Erdmännchens zu Hause“, sagt Fabio leise. Ich frage mich, woher er das weiß.
LOGBUCH FABIO, SOSSUSVLEI [KM 1688] „WIE SIEHT’S DENN HIER AUS?“, fragt Markus, als wir in Sossusvlei stehen. Rechts und links gewaltige Dünen aus rotem Sand, wie zu einem riesigen Waschbrett aufgereiht, vor uns ein Band aus schwarzem Asphalt, über uns der blaue Himmel. Drei Farben, eine Landschaft, eine Kulisse wie ausgedacht. Derart weit sind wir also gefahren, denke ich, dass es jetzt so aussieht, als seien wir schon nicht mehr auf der Erde.
LOGBUCH MARKUS, HINTER SOLITAIRE [KM 1827] WIR HABEN EINE ANHALTERIN MITGENOMMEN, die mehrere Stunden mit ihren Kindern in der Sonne gewartet hatte. Ihr Mann arbeitet auf einer Farm, etwa 100 Kilometer entfernt. Dort setzen wir sie ab und sehen vor einem Schuppen einen Mann mit weißem Bart und Schlapphut stehen. Wieder ein Deutscher, wieder ein Zufall. Franz-Josef Gilles hat in dieser Ab¬geschie¬denheit eine Parallelwelt gefunden, sogar ein Paral¬lel¬universum: Seit über zwölf Jahren kommt der 70-jährige Düsseldorfer für Monate nach Namibia und wartet in der Hitze des Spätnachmittags darauf, dass sich der klare Nachthimmel wie eine kühlende Decke über ihn zieht. Dann fährt er das rollbare Dach der ehemaligen Quarantänestallung zurück und richtet ein Teleskop nach oben. Fotografiert Galaxien, Kometen, Nebel, die er in Namibia so viel besser sehen kann als in Deutschland, wo das Licht der Städte den Himmel überstrahlt.
LOGBUCH MARKUS, WINDHOEK [KM 2069] ALS WIR WINDHOEK ERREICHEN, pressen wir beide drei Finger gegen die Frontscheibe. Diesmal ist es wirklich ein Gruß. Wir parken vor „Joe’s Beerhouse“, einer deutsch-afrikanischen Biergartenfantasie aus Holz, Reetdächern und leeren Jägermeisterflaschen.