Städtebaulicher Stillstand
Der Krieg, der einen guten Teil der Stadt zerstört haben muss, kann noch nicht lange vorbei sein. Es wird dauern, bis die Überlebenden sich wieder auf die Straße trauen und an den Wiederaufbau denken. Sie haben wahrscheinlich noch Angst vor den Bombardierungen, die diese Trümmerspur hinterließen, es fällt ihnen schwer, sich manche Ecken wieder ganz vorzustellen.
Doch es gab keinen Krieg.
Bleibt also die Hypothese einer Naturkatastrophe, die schuld sein könnte an den abblätternden Fassaden, den vielen Sprüngen in Balken und Säulen, an den Balkonen, die sich von den Mauern lösen, an den Löchern im Boden und, unter der Oberfläche, am Versagen der Kanalisation, an den lecken Stellen der Wasserrohre, den unterbrochenen elektrischen Kabeln, den undichten Leitungen, die in manchen Gegenden der Stadt Gasgeruch verströmen.
Aber auch dieses Erdbeben gab es nicht.
Größter städtebaulicher Stillstand
Havanna hat kein Bombardment und kein Beben erlitten. Falls man darunter nicht das halbe Jahrhundert revolutionärer Verwaltung versteht. Denn die Revolution, die 1959 triumphierte, hat dieses grandiose Ruinenpanorama zustande gebracht. Das beharrliche Regieren des gleichen Führers und der gleichen politischen Partei zog diesen Verfall nach sich. Eine lange Reihe von Gesetzen führte, vielleicht im Streben nach sozialer Gerechtigkeit, zum größten städtebaulichen Stillstand der kubanischen Geschichte.
War dies die Absicht der politischen Führer des Landes? Es gibt Leute, die das zu behaupten wagen und die die Ansicht vertreten, der bäuerliche Groll dieser Politiker habe Havanna letztlich zugrunde gerichtet. Sie straften in der Hauptstadt den ganzen Wirbel und Glanz, der einmal ihr Kennzeichen war. Sie ließen die Stadt dafür zahlen, dass sie hinter all dem Vergnügen und Reichtum große Flecken elender Viertel verbarg, die vorrevolutionären Slums.
Ein gewisser puritanischer Eifer (religiöser oder revolutionärer Natur) sieht im Havanna der 1950er Jahre was die Bibel in Babylon sieht, die Gestalt der Großen Hure. So betrachtet, stellen die Ruinen die Strafe für die vergeudeten Jahre dar, für die Wollust, die man hier lebte. Es gibt auch Leute, die das Los der Stadt deuten, als handle es sich um ein neues Atlantis, eine so perfekte Welt, dass sie zwangsläufig erlöschen musste.
Zerstört durch Planlosigkeit
Zerstört durch vollkommene Planlosigkeit
Diese und andere Erklärungen kann man erwägen. Außer Zweifel steht, dass alles unter dem politischen Regime der vergangenen 50 Jahre geschah. Es könnte sich wirklich um eine sorgfältig vollstreckte Rache handeln. Doch obwohl es vielen Revolutionsführern an brennenden Rachegefühlen nicht gefehlt hat, scheinen die Gründe banaler zu sein, weniger außergewöhnlich oder romanhaft. Havanna wurde nicht in wohlüberlegter Rache zerstört, sondern durch vollkommene Planlosigkeit. Durch die pure und kriminelle Leichtferigkeit derer, die die Stadt seit einem halben Jahrhundert regieren.
Kaum war das revolutionäre Regime an der Macht, fegte der Kampf gegen das Privateigentum als Ursprung aller Ungerechtigkeit einen Gutteil von Havannas Vitalität hinweg. Beim Blick auf die 1960er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wird meist den geschlossenen Bordellen und Spelunken und Casinos Aufmerksamkeit geschenkt, nicht jedoch den kleinen Läden, die ebenfalls geschlossen wurden, bis der Staat sich zum einzigen möglichen Unternehmer aufwarf.
Die neue Verwaltung räumte die Geschäfte der Stadt, und später räumte sie die Stadt von Geschäften. Sie kümmerte sich solange um alle Restaurants und Cafés, bis gewährleistet war, dass die Speisekarten übereinstimmten. Sie zwang allen Kinos die gleichen Filme auf. Sie mischte sich in das Programm der Theater, der Radiostationen, der Fernsehkanäle. Die allgemeine Freude (und angesichts des revolutionären Triumphs gab es sie reichlich) wurde Vorschriften unterworfen. Der Enthusiasmus musste den Mitteln und Wegen der revolutionären Pädagogik entsprechen.
Ausnahmestadt im Ausnahmezustand
Eine Ausnahmestadt im Ausnahmezustand
Havanna begann, in der Ausnahme zu leben. Es war schon Ende der 1950er Jahre eine Ausnahmestadt, auf dem besten Weg, sich in die Welthauptstadt des Rouletts zu verwandeln. Doch die Revolution von 1959 verhinderte dieses Schicksal und teilte der Stadt ein nicht weniger trauriges und außerordentliches zu: das einer Metropole, in die jeden Moment der Feind einfallen kann, immer unter Waffen, regiert von Kriegsgesetzen, zum Opfer bereit.
Im Schutz dieser Außerordentlichkeit maßten die kubanischen Autoritäten sich das Recht an, die Besitztümer all jener zu beschlagnahmen, die aus Kuba weggingen. Und nach den gleichen, für eine Ausnahmesituation erlassenen Gesetzen verlieren Emigranten auch heute Haus und Besitz. Die Stadt und das Land gehören in Wirklichkeit zu einer fiebrigen Fiktion, einer Kriegsatmosphäre, die auf ein halbes Jahrhundert ausgedehnt wurde. Keine Wohnung ist wirklich Eigentum, sie wurde nur zur Benutzung überlassen. Und diese Vorläufigkeit, dieses Gefühl, dass einem nichts gehört, erklärt die Verwahrlosung Havannas. Warum sich Mühe geben, Räume instandzuhalten, wenn diese im Grunde fremd und provisorisch sind? Warum die Apokalypse mit Möbeln ausstatten?
In vielen Fällen ist eine eiserne Pädagogik kontraproduktiv. In dem Versuch, Unrecht zu begleichen, hat die kubanische Regierung womöglich größeres Unrecht verursacht. Obwohl ihre städtebauliche Unlust sich nicht nur in Gleichgültigkeit gegenüber der geerbten Stadt zeigte, sondern auch darin, dass sie nichts baute.
Zement vom Schwarzmarkt
Zement vom Schwarzmarkt
Selbst ohne Antrieb, neue Wohnhäuser zu errichten, kriminalisierte sie viele individuelle Gesten. Wenn ein Sack Zement nur auf dem Schwarzmarkt zu haben war, musste jeder, der die Risse in einer Mauer eindämmen wollte, zwangsläufig mit einer Strafe belegt werden. Man würde ihn für schuldig befinden, in einem heiklen Moment wertvolle Ressourcen abzuzweigen, sein persönliches Interesse über das der Gemeinschaft zu stellen, über seine Möglichkeiten zu leben (wenn die einzige Möglichkeite der mehr oder weniger unmittelbar bevorstehende Zusammenbruch ist).
So viel administrative Willensschwäche konnte mit dem US-Embargo erklärt werden, mit dem Verschwinden des Sowjetblocks, mit den Bedingungen in der Dritten Welt. In der andauernden Krise, in der das Land lebte (und lebt), wäre es kontraprodukiv gewesen, neue Hochhäuser zu errichten oder sich um den Zustand der schon existierenden zu sorgen. Der Bau einer wahrhaftigen Stadt durch und für den neuen Menschen wurde auf später verschoben. Havanna wäre dann Utopia.
Doch solange sich diese Pläne nicht erfüllen (die revolutionäre Rhetorik geht verschwenderisch mit Vertagungen um), verfällt Havanna. Schwärme von Touristen und professionellen Fotografen betrachten seine Ruinen. An seinen wie angenagt aussehenden Ecken verliert man sich in Phantasien. Wie wäre diese Stadt, hätte der revolutionäre Coup nicht stattgefunden? Wie berauschend, hätte sie nicht den Rausch einer Revolution verdient?
Es gilt nicht, nur nach der Geschichte zu fragen, die die Revolution unterbrach; es gilt, auch nach dem Havanna zu fragen, das all die revolutionären Reden versprachen.
Das große Finale
Kein Schritt bedeutet kein falscher Schritt
Was für eine Stadt wäre es, entpuppten sich die Reden und Versprechungen nicht als hohl? In den Augen von Städtebauern und Planern ist das Erlahmen jeglicher Bautätigkeit auf lange Sicht ein Segen. Weil die Stadt vor den schändlichen Eingriffen bewahrt wurde, die andere lateinamerikanische Städte erlitten. Indem Havanna keinen Schritt tat, tat es keine falschen Schritte. Es gibt hier noch Straßen und ganze Viertel, die anderswo schwerlich zu finden sind, auch wenn man ahnt, dass der Wiederaufbau gigantische Anstrengungen erfordern wird.
Müsste man dem revolutionären Regime also für seinen geringen Hang zum Bauen danken? Von all den Diktatoren in der Diktatorengallerie des Landes war Fidel Castro der am wenigsten architektonische. Welche Vorzüge man am gegenwärtigen Zustand der Stadt auch entdecken mag, es handelt sich um Kollateralnutzen: Sie waren so wenig angestrebt wie die Kollateralschäden eines Flugzeugangriffs.
Und von den Vorteilen für die Zukunft zu reden hat den Nachteil, jene zu übergehen, die die Stadt unter diesen harten Bedingungen bewohnen und bewohnten. Denselben Haken hat die Bewunderung von Havannas Ruinen: die prachtvollen, baufälligen Mauern beherbergen Menschen, die ein besseres Los verdienten. Und indem man sich für die unleugbare Schönheit dieser Ruinen begeistert, läuft man Gefahr, das Elend ihrer Bewohner zu preisen.