Die Verwandlung
Ich sitze wieder einmal im Zug Praha-Berlin und warte ungeduldig auf den Moment der Verwandlung, der stets direkt hinter der Grenze in Bad Schandau kommt. Der Zug rattert, ich schlafe ein. Und träume davon, dass mein Express nicht durch die langweilige Brandenburger Ebene nach Berlin rauscht, sondern ganz woanders hinstrebt, nach oben, zum Himmel. Er durchbricht die Wolken und fährt geradewegs zum Mond. Dort bremst er scharf ab und hält. Ich steige aus und sehe, dass mir Jurij Gagarin und die anderen Astronauten aus der Weltraumkneipe zuwinken. Und natürlich haken sie mich sofort unter; wir gehen gemeinsam „Erde gucken“.
Als Kind stellte ich mir gern vor, ich würde mein Land vom Mond aus betrachten. Damals half mir mein alter Globus „made in German Democratic Republic“ bei den Höhenflügen. Aber die Zeiten ändern sich, heute haben wir Google Earth. Ich schwebe also hoch über der Erde und nehme mein Geburtsland ins Visier. Von oben sieht Tschechien wie eine Kinderbadewanne aus, in der ein zu groß geratenes, molliges Baby planscht. Ein Beinchen streckt es nach Polen, das andere in die Slowakei; und wenn es die Arme nach hinten reckt, fliegen in Sachsen und Bayern sogleich ein paar Städte weg.
Die Talmenschen
Man sagt, der böhmische, von Bergketten gesäumte Kessel sei durch den Einschlag eines Riesenmeteoriten oder durch das Verschwinden des Urmeeres entstanden. Ein übergeschnappter Freund konspirativer Theorien beschuldigt gar eine extraterrestrische Atomexplosion, verursacht von einem UFO. Wie es wirklich gewesen ist, kann kaum aufgeklärt werden, jedenfalls steht fest: Diese sanfte Vertiefung lässt mich und meine Landsleute zu einem Volk der Talmenschen werden und macht eine ewige Sehnsucht nach frischem Wind, nach Bewegung und Weitblick zu unserem Schicksal. Doch zugleich, ich will es nicht leugnen, ist da auch die Furcht, sich bei zu viel Frischluft einen Schnupfen zu holen.
Das breite böhmische Tal ist unsere Heimat – und ein Kerker, in dem unsere Sehnsucht gefangen gehalten wird. Das Land zu verlassen, heißt nicht nur, die Bergketten von Riesengebirge, Erzgebirge und Böhmerwald zu überwinden, sondern auch sich selbst. Die meisten Tschechen sind dafür zu bequem und bleiben lieber zu Hause. Von den fünf Freunden, mit denen ich in der Grundschule einst Astronaut gespielt habe, leben drei noch dort, wo sie geboren wurden. Sie können nicht fassen, wie ich ein Jahr in Berlin und über zehn Jahre in Prag verbringen konnte, ohne zu denaturieren.
Tschechen bewegen sich nicht fort. Sie hassen es umzuziehen (oder auch nur, über einen Umzug nachzudenken). Und verlassen sie das geliebte Land doch einmal, tasten sie sich tatsächlich einen vom Mond aus gesehen winzigen Schritt weit in die Welt vor, dann drohen sie an Heimweh zu sterben: touha po domově gilt hierzulande als Krankheit, die unheilbar ist. Vergeblich suchen dann meine verlorenen Mit-Tschechen auf Planeten wie New York oder Paris nach dem passenden Mehl für böhmische Knödel und den Zutaten für utopence, Ertrunkene. Gemeint sind nicht die Menschen selbst, sondern Fleischwurst, fein eingelegt in Essig, Pfeffer und Zwiebeln, die so unnachahmlich nach Heimat schmecken, weil sie nur in Tschechien serviert werden.
Das Böhmische Paradies
Als ich so neben Gagarin stehe, fällt mein Blick – 50° 35' N, 15° 9' O – unwillkürlich auf den behäbigen Ort, in dem ich geboren wurde: Turnov, gelegen in einer Landschaft, die man Böhmisches Paradies nennt. Das Paradies im engen geographischen Sinn besteht aus ein paar markant geformten Felsen, verlassenen Märchenburgen, in denen es spukt, und aus unendlich langen Kirschbaumalleen. Im weiteren Sinne aber umfasst es für einen Tschechen selbstverständlich das ganze unvergleichliche Land.
Nehmen Sie Prag, eine moderne, der globalisierten Zukunft entgegenrasende Großstadt, von der sich jeden Tag Tausende von Touristen unsichtbare Scheiben abschneiden. Möglicherweise verschwindet sie eines Tages auf diese Weise ganz. Dann wäre auch mein Freund Thomas im fernen Hamburg schuld. Er ist der klassische Mann – Typ Jäger. Mit jedem erlegten menschlichen Rehkitz bricht er sofort zu einem Liebeswochenende nach Prag auf. Immer dasselbe Ritual: ein Spaziergang vom Hradschin über die Karlsbrücke bis zur astronomischen Uhr am Altstädter Ring, von der zur vollen Stunde die Apostel herabblicken. Abschließend zeigt er seiner jeweils aktuellen Angebeteten die verrauchte Kneipe „U vystřelenýho oka“, Zum ausgeschossenen Auge. Die Frauen finden das schön, lassen Thomas aber kurz nach dem Ausflug wieder sitzen. Und der Arme weiß nicht, was er falsch macht. Ich sage dann immer, er sei zu romantisch, und rate zu einem Besuch beim Psychologen oder einem Ausflug nach Poděbrady – einem an der Elbe gelegenen Heilbad, in dem Herzkrankheiten kuriert werden. „Aber Prag ist Prag“, entgegnet Thomas stets. Da hat er natürlich recht.
Ich bin in Prag zu Hause, aber beileibe kein Prager, so wenig, wie es die meisten meiner Freunde sind. Ich gehöre zur sogenannten náplava, Anschwemmung. Zu jenen Provinzlern also, die von der Aussicht auf Arbeit in die Hauptstadt gelockt wurden. Oder von der Liebe. Oder von der Langweile.
Bei mir war es alles zusammen, und dennoch schrecke ich vor einer Selbstbezeichnung als Prager zurück, denn der Rest von Tschechien mag die so abgestempelten Menschen nicht. Sie gelten als arrogante, parfümierte Hohlköpfe, so abgehoben, wie es die Marsmissionen dieser Tage sind. Wahrscheinlich habe ich mich deshalb im ehemaligen Arbeiterviertel Žižkov mit seinen bröckelnden Hausfassaden und dem wohltuenden Hauch von Provinzialität niedergelassen. Es liegt auf einem Hügel unweit des Stadtzentrums, aber doch ziemlich weit entfernt von allen touristischen Umlaufbahnen. Wer das echte Prag kennenlernen will, der muss hierherkommen. Denn Prag ist nicht nur Brücke und Burg, wie die aus der Peripherie stammenden Hip-Hopper PSH ganz richtig rappen.
Innerhalb von Žižkov bin ich bereits viermal umgezogen – pro Wohnung eine Beziehung. Und bei jedem Umzug dehne ich, ganz tschechischer Erdling, mein Territorium nur um eine einzige Straße aus. Mittlerweile wohne ich direkt unter dem futuristischsten und höchsten Gebäude Prags: dem Fernsehturm. Auf seinem Körper krabbeln schwarze Babys, keiner weiß, wohin und warum; irgendwie erfrischend. Die Menschlein sehen aus wie Außerirdische. Der Turm gleicht ihrer kosmischen Rakete, mit der auch wir Hauptstädter vielleicht bald fliehen. Spätestens, wenn die Regierung das nächste Mal so grandios kollabiert wie gerade erst.
Lichtjahre in die Vergangenheit
Unweit der Rakete wohnen auch die meisten meiner Freunde. Wir haben hier unser „Kino Aero“, unser „Café Pavlač“ und die Lieblingskneipen „U Houdků“ und „U Sadu“. Im Grunde, so bemerke ich mit gehörigem Abstand, ist aus mir ein Dörfler inmitten einer Großstadt geworden.
Vom Mond aus betrachte ich auch die Ränder der tschechischen Badewanne. Liberec in Nordböhmen liegt verhangen da; die Wolken kommen von der Nordsee und schütten ihre nasse Last regelmäßig genau über dieser Stadt aus. Nirgendwo in Tschechien scheint es häufiger zu regnen. Das kann ich mit Sicherheit sagen, denn ausgerechnet dort habe ich neun Jahre lang studiert, gelebt und als Portier im Grandhotel gearbeitet.
Ich erinnere mich an das Gästebuch des hohen Hauses, in dem sich die ganze Geschichte Mitteleuropas widerspiegelte: Kaiser Franz Joseph hatte sich in ihm verewigt, Hitler und Himmler hatten Signaturen gesetzt, die kom¬munistischen Oberhäupter Gottwald und Ulbricht, der Astronaut Gagarin und auch die unsterbliche goldene Stimme von Prag – Karel Gott. Doch dann hat irgendein Idiot das Buch geklaut und die Geschichte gleich mitgenommen. Das ist bezeich-nend, denn in Tschechien bedeutet Geschichte auch immer Suche.
Reichenberg, wie Liberec einst hieß, war die Kapitale der Sudeten, eine wahre sudetendeutsche Metropole. Als ich zum ersten Mal in der Stadt war, ein kleiner Junge, haben mich die Aufschriften fasziniert. Nicht die tschechischen, aber die deutschen Worte, die zwar übermalt, aber doch noch sichtbar waren: „Posthaus“, „Güterabfertigung“, „Strumpfwaren“. Bis heute ist das Sudetenland eine Gegend mit stark dramatischem Potenzial geblieben – eine vernarbte und trotzdem unglaublich schöne Landschaft.
Momentan wird sie von Neuzeitromantikern wiederentdeckt, von Schriftstellern und Künstlern, die nach ihren gebrochenen Wurzeln suchen. Früher ein Tabu, in der Schule haben wir über die Deutschen wenig gelernt. Erst später erfuhr ich, dass sie – anders als wir Tschechen – von „Vertreibung“ sprachen. Und erst dadurch wurde mir klar, in welcher äußerst glücklichen kosmischen Minute wir augenblicklich leben. Ich wünschte, es möge für immer so bleiben, aber hier bei uns hat es die Ruhe noch nie lange ausgehalten.
Der Tscheche an sich
Die Tschechen sind wahre Meiste im Abheben, Weltmeister der Was-wäre-wenn-Fantasie. Über einem halben Liter Bier lassen sich mit herrlicher Leichtigkeit Politik und Geschichte machen, weltumspannende Reisen planen, herausragende Romane schreiben und Erfindungen erdenken, mit denen alle Galaxien offenstehen.
Es gibt Menschen, die sich kopflos in ihre Bierliebe stürzen und das Glas in einem einzigen langen Zug leeren. Es gibt aber auch die scheuen Romantiker, die mit ihrem Bier zunächst nur flirten. Bevor sie den ersten Schluck nehmen, schnuppern sie an ihrem goldenen Trunk, liebkosen mit den Fingern den Bierschaum, ja manchmal schmieren sie sich sogar etwas von ihm ins Haar. Das nennen sie Taufe. In einem aber sind alle gleich: Nach dem dritten Glas muss der gemeine Tscheche auf die Toilette, und dort wird er nicht nur vom Bier, sondern auch von allen Ideen und Illusionen verlassen. Daher fängt er von Neuem mit dem Trinken an. Das ist der verflixte Kreislauf der tschechischen Kreativität.
Ich sitze also auf dem Mond, trinke aus irdischer Gewohnheit – und spüre schmerzlich die Distanz zu meinem Heimatland. Wir Tschechen haben es nämlich nicht gelernt, Abschied zu nehmen. Bei uns schmeißt man noch nicht mal etwas weg, weil alles eines Tages zupasskommen kann. Kauft man bei Ikea neue Möbel, heißt es noch lange nicht, dass man die alten aussortiert. Sie werden im Wochenendhaus gebraucht, auf den Dachboden geschleppt, irgendwo untergestellt. Im schlimmsten Fall baut sich ein Tscheche im Laufe seines Lebens die eigenen vier Wände komplett zu. Weshalb der Besuch einer tschechischen Wohnung nicht selten der Erkundung eines fremden Sonnensystems gleicht. Terra incognita. Als Gast müssen Sie vor der Tür Ihre Schuhe ausziehen und bekommen spezielle, meist altersschwache Hausschlappen ausgehändigt. Merke: Die Wohnung ist des Tschechen Heiligtum.
Und lassen Sie sich bei einem solchen Besuch bloß nicht von der singenden Sprache der Hausherren verwirren, diesem schnellen melodischen Tschechischen, in dem ab und an ein verballhorntes deutsches Wort mitschwingt, das im Laufe der Zeit eingesaugt wurde. „Nonono“ kann Nein bedeuten, aber auch ein nachdenkliches Ja. Und „Jojojo“ heißt noch lange nicht freudige Zustimmung, sondern manchmal das Gegenteil. Wir Tschechen können uns eben selbst schlecht entscheiden. Unser Hang zu Verharrung und Sentiment wird zum Glück ausgeglichen durch Selbstironie: die einzige nationale Eigenschaft, die ich wirklich mag und die letztlich immer gewinnt. Die uns alle rettet. Und das ist auch gut so.