Als ich klein war und nur eine vage Vorstellung von der Welt besaß, hatte das Paradies die Form eines kleinen Gartens mit Laube, in dem jedes Wochenende gegrillt wurde. Um den Grillmeister, meinen Vater, versammelten sich die Nachbarn, und mit wachsenden Fleischbergen häuften sich zufriedene Ausrufe, dass das hier ja das Paradies auf Erden sei. Im Laufe der Zeit kamen mir jedoch Zweifel. Vor allem, als ich in einem Buch über Entdecker las, dass Christoph Kolumbus den Titel „Paradies auf Erden“ bereits vor über 500 Jahren vergeben hatte. Und zwar keineswegs an einen Wurstgarten, sondern an einen Archipel, den er auf seiner dritten Reise in die Karibik entdeckt hatte. Es hieß: Los Roques.
„Nie gehört!“, behauptete mein Vater. „Es gehört zu Venezuela“, sagte ich in einem so selbstverständlichen Ton, als wüsste ich sogar, wo Venezuela liegt. Ich sprang auf die Rückbank unseres Autos und begann einen kleinen Monolog. Wie ein erfahrener Nachrichtensprecher trug ich auf der Fahrt zu unserem Garten aus dem Entdeckerbuch vor: Los Roques, Archipel mit mehr als 40 Inseln, deren größte El Gran Roque heißt, benannt nach dem einzigen Felsen, der seit Zigmillionen Jahren einsam in die Höhe ragt.
„Auf Spanisch bedeutet Felsen ‚Roque‘“, fügte ich mit erhobenem Sprecherblick hinzu. „Danke!“, sagte mein Vater. Ich senkte erneut meine Augen und verlas, dass bereits vor 3000 Jahren Venezuelas Ureinwohner mit Einbaumbooten vom Festland wegen Fischen, Langusten und Schildkröten zu den Inseln ruderten. 160 Kilometer lang folgten sie nur den Sternen, durch Wellen, die häufig noch größer waren, als ich es auf dem Rücksitz mit ausgestreckten Armen zeigen konnte. Deshalb durften nur starke Männer reisen. Häuptlinge, Krieger und Schamanen. Ihre Frauen nahmen sie angeblich nur als Tonfiguren mit. „Interessant!“, bemerkte Vater und sagte, dass er auf diese Art durchaus auch einmal in den Urlaub fahren könnte. Ich spürte, dass Los Roques auch ihm langsam gefiel. Deshalb fragte ich, ob wir am nächsten Wochenende statt in den Garten nicht nach Venezuela fahren könnten. Er antwortete, das müssten wir mal sehen.


Weil es bis zum Wochenende noch drei Tage waren, baute ich für eine Testreise in meinem Zimmer die Inselwelt nach. Im Küchenschrank meiner Mutter fand ich ausreichend Zutaten für den Strand, der nach Angaben eines schweren Karibik-Reiseführers fein und hell wie Mehl ist. Aus Müllsäcken bastelte ich tiefblaues Meer, und auf den Flur stellte ich schließlich vier Stühle, auf denen sich mein Vater, meine Mutter und mein Bruder setzen mussten. Das war der Flieger. Als Pilot der Airline „Sol del America“ war ich verantwortlich für den Flug von Venezuelas Hauptstadt Caracas nach El Gran Roque und erklärte nach einer kurzen Begrüßung, dass es sich beim Flugzeug um eine DC-3 handele, ein bewährtes Transportflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg. Meine Mutter blickte skeptisch. Ich beruhigte sie jedoch und versicherte, dass sie keine Angst haben müsse. Ich flog etwas schneller, weil mein Vater sagte, er wolle nun aber nicht dreieinhalb Stunden im Flur sitzen müssen.
Nach der Landung öffnete ich die Tür zu meinem Kinderzimmer. Beim Anblick der Mehlberge traf meine Mutter zunächst der Schlag und sie schrie, ich solle sofort die Sauerei wegmachen. In strengem Ton erwiderte ich, dass das nicht möglich sei, da die 2200 Quadratkilometer große Inselwelt bereits 1972 zum Nationalpark erklärt worden sei und höchsten Schutzauflagen unterliege. Ich müsse daher auch meiner Pflicht nachkommen und sie auf Harpunen und Netze kontrollieren, da eventuelles Fischen in meinen blauen Müllsäcken ausschließlich mit Handangel und Langustenreuse erlaubt sei. Selbstverständlich mussten alle drei bei ihrer Einreise an der Tür die Schuhe aus¬ziehen, da sich die meisten der 1200 Einheimischen von El Gran Roque barfuß in den autofreien und mit Sand gefüllten Gassen des Dorfes bewegen.
Schon nach einem Schritt begann mein Vater zu fluchen, weil er in eine meiner leeren Himbeer-Schleckmuscheln getreten war. Ich sagte, das sei authentisch, da auf Los Roques viele Straßen mit Muscheln de¬koriert sind. Als wir per Schiff zu einer Insel zwei Müllsäcke weiter aufbrechen wollten, war es bereits Mittag und ich verteilte Sonnenmilch mit Sonnenschutzfaktor 30.
In einem geräumigen Umzugskarton trieben wir dann durch die blaue See, und ich deutete auf eine kleine Insel links, Carenero, auf der die Hütten und Möbel der wenigen Fischer aus Strandgut bestehen. „Dort drüben am Horizont“, rief ich und winkte in Richtung Gardinen, „liegt Isla Fernando. Da wohnen nur 98 Männer und zwei Frauen!“ „Hört, hört!“, rief meine Mutter, „eine Karibikinsel mit 98 Prozent Männeranteil!“ Ich war erstaunt, wie schnell meine Mutter immer alles umrechnen konnte. Nur mei¬nem Vater schien das nicht zu imponieren.
Als wir schließlich auf einer namenlosen Insel eintrafen, lief ich kurz aus meinem Zimmer und kehrte kurz darauf mit Augenklappe, Säbel und Kopftuch als Pirat zurück. Ich versprach mir von meinem Überfall eine gute Ausbeute. Zu Zeiten der Konquistadoren im 16. Jahrhundert betrug die auf den Nachbarinseln Coche, Cubagua und Margarita an Land geschaffte Menge Perlen immerhin Hunderte Kilo monatlich. Diese mussten die Eroberer aber meist wieder an die Piraten abgeben, die sich im Labyrinth der Inseln versteckt hielten. Meine Einnahmen waren jedoch mager und beschränkten sich auf die Geldbörse meines Vaters. Allerdings hatte ich noch nie von einem Piraten gehört, der im 16. Jahrhundert Kreditkarten akzeptierte. Also ließ ich die drei gehen, zog mich um, und wir fuhren im Karton zurück.


Die Heimreise nach Deutschland verlief schnell und ohne Zwischenfälle. Meine Mutter half mir anschließend sogar beim Wegsaugen der Strände. Am Abend setzte sich mein Vater zu mir ans Bett und fragte, ob wir denn am Wochenende unbedingt noch einmal nach Venezuela reisen müssten, jetzt, wo wir doch schon einmal auf Los Roques gewesen seien und das Paradies quasi wie unsere Westentasche kannten. Ich überlegte kurz. Am Samstag fuhren wir dann in unseren Garten und grillten.