
Was wäre gewesen, wenn ich nicht über dieses Video im Netz gestolpert wäre - und nicht der jungen Frau mit knallblauen Pumps im Aufzug begegnet wäre? Schwer zu sagen. Sicher ist nur: Es wäre alles ganz anders gekommen. Aber der Reihe nach.
Als ich aufbrach, um über den Hong Kong Jockey Club zu berichten, hatte ich keinen Schimmer von Pferderennen. Nur aus dem Fernsehen kannte ich die teuren Gäule und die aufgetakelten Damen und die faltigen Zocker, die die zugigen Tribünen von Hamburg-Horn oder Berlin-Marienfelde bevölkern. Ich hatte mir, um mein Unwissen wenigstens ein bisschen zu kaschieren, einige Bücher besorgt, im Stil von "Alles über Pferdewetten" und "Alles über Rennpferde". Ich hatte das schön erzählte, erfolgreich verfilmte Buch über "Seabiscuit" gelesen, ein legendäres Rennpferd aus den USA. Und war, drittens, im Vorbeisurfen auf eine Dokumentation über die Pferderennen in Hong Kong gestoßen, in der ein gewisser Michael Cox vorkam.
Cox hat mich, wie nett, gleich am ersten Morgen in Hongkong mit nach Sha Tin genommen, zum Morgentraining, wo zig Hilfsjockeys die gut 1200 Rennpferde der Stadt trainieren. Cox kannte alles und jeden, erklärte, stellte mich vor. Die Eindrücke prasselten nur so, wie am Beginn jeder Recherche. Überwältigend viele Eindrücke, ungefiltert, ungeordnet, unverstanden. Welche waren wichtig? Was war die Geschichte? Welches der rote Faden?
An den Abenden saß ich in meinem winzigen Apartment, stellte die Klimaanlage auf eiskalt und schaute mir Videos im Netz an. Jockey-Unfälle, große Rennen, so ein Zeug. Und stieß, welch Zufall, auf ein Pferd, das mich auf Anhieb faszinierte. Sein Vorteil: Es war hellgrau, so dass auch ich Ahnungsloser es das ganze Rennen über verfolgen konnte. Und es war ungewöhnlich klein und hatte einen besonderen Laufstil: In mehreren Rennen kam es von ganz hinten, wirklich: vom letzten Platz und arbeitete sich, in schier unglaublichen Schlussspurts, bis auf den ersten Platz nach vorn. Unglaublich spannend war das. Jedes einzelne Rennen von California Memory schaute ich mir an, sie sind auf der Website des Jockey Clubs hinterlegt, ich konnte nicht genug kriegen.

Ganz klar: Das war die Geschichte. Der Kern. Um dieses Pferd herum müsste ich meine Recherche anordnen. Julia Tsang, die Pressesprecherin, half mir, wo sie konnte, organisierte ein Interview mit dem Besitzer, dem Trainer, dem Jockey. Und schaffte es sogar, mich in den Hochsicherheits-Pferdestall zu schleusen, in dem man üblicherweise eine Spezies ganz sicher niemals sieht: Reporter.
Und dort, eines Morgens, stand ich dann zusammen mit Matthew Chadwick, dem Jockey, und Tony Cruz, dem Trainer, im sandigen Innenhof eines Stalls. Das Morgentraining war gerade vorbei, die Stallburschen flätzten in kurzen Hosen und Gummistiefeln herum, da rief Tony Cruz einem von ihnen zu, er möge California Memory herbringen. Und plötzlich, ich war gerade abgelenkt, stand das Pferd vor mir, wie eine Erscheinung.
Wie gesagt: Ich verstehe nichts von Pferden. Aber ich war schwer beeindruckt. Ein stummer Star, den halb Hongkong verehrt. Klar, das war nur Einbildung – aber in dem Augenblick schien es mir, als umgebe eine besondere Aura dieses Pferd. Und wie durchtrainiert California Memory war, jeder einzelne Muskel zeichnete sich unter seinem grauen Fell ab. Und wie ruhig, wie aufmerksam er da stand und uns zuzuhören schien. "Er ist ein Mini Cooper mit Porsche-Motor", erklärte Tony Cruz, "seine letzten Viertel gehören zu den schnellsten, die je in Hongkong gelaufen worden sind."
Und was war nun mit der Frau mit den Pumps? Eines mittwochs, ich war auf dem Weg zur Rennbahn, stieg ich in meinem 20-Stöcker in den Aufzug - und da stand eine sehr hübsche Frau mit sehr blauen Schuhen. Natürlich musste ich sagen: "Schöne Schuhe." Sie lächelte, bedankte sich und stöckelte davon. Einige Stunden später, am Rand der Rennbahn, sehe ich plötzlich... genau diese Schuhe! Klar musste ich dann noch einmal hingehen und mich meiner Nachbarin vorstellen. Sie war mit ihrer besten Freundin da, Ann So. Und die wiederum wusste wirklich alles über das Innenleben des Clubs, weil sie reich geworden war mit Pferdewetten. Ich durfte sie begleiten zu ihrer Reitstunde im hochexklusiven Landsitz des Jockey Clubs. Niemals wären wir ohne Ann da hinein gekommen.