
Ein Pinguin schaut mich vom Straßenrand aus an: »Caution«, mahnt er auf dem gelb-schwarzen Warnschild. Ich gelobe, vorsichtig zu sein, Neuseelands Südinsel hält nämlich einige Herausforderungen für Autofahrer parat: Außer flugunfähigen Vögeln, die gelegentlich Straßen queren, gibt es mehr Kurven als Geraden, einspurige Brücken, Schotter in Haarnadelkurven, Steilhänge, im Winter Eis und Schnee und zum Ablenken großartige Ausblicke. Ich reise Mitte Mai von Christchurch, das im Osten die schmalste Stelle der Insel markiert, übers Gebirge nach Greymouth und Hokitika, an der Westküste entlang und über die Neuseeländischen Alpen nach Wanaka und Queenstown. Zum Eingewöhnen aber überlasse ich das Navigieren einem bärtigen Herrn mit Wollmütze. Der klettert mit einem Kaffee in die Diesellok des TranzAlpine- Zugs und haut aufs Signalhorn. In den nächsten fünf Stunden haben Pinguine nichts zu befürchten.
Tag 1: Christchurch – Greymouth – Hokitika
Die Vororte von Christchurch lassen wir nach 15 Minuten hinter uns. Der Zug gleitet über die Canterbury Plains, Neuseelands größte Tiefebene. Kaum merklich geht es bergauf, vorbei an Schafen, Höfen und Feldern. Laut Zugkommentar, Informationen, denen jeder per Kopfhörer folgen kann, wachsen hier fast 80 Prozent des neuseeländischen Getreides.
»Atemberaubend« ist ein großes Wort, das ich selten benutze – zu dieser Zugreise passt es: Im offenen Aussichtswagen bläst mir der Fahrtwind ins Gesicht. Je höher wir klettern, desto tiefer sinkt die Temperatur, die Szenerie wechselt rasant: Schluchten rechts, Felswände links, Wasserfälle in faltigen Hängen. Neuseeland ist geologisch eines der jüngsten Länder der Erde, Tektonik und Naturgewalten sind hier überaus aktiv: Berge rutschen und bröckeln, es bebt und brodelt unter der Oberfläche. Ohne Vorwarnung hebt sich der Vorhang für ein Naturspektakel: Die Morgensonne strahlt die Zweitausender in der Ferne an und lässt die Gipfel rosa leuchten. Vor Tagen ist der erste Schnee gefallen.
Joanna Carr macht mir im Bordcafé einen Macchiato. »Die Vorteile der Nebensaison«, sagt die junge Frau, »da haben sogar wir Muße, den Blick zu genießen.« Die Hänge werden steiler, das breite Becken des Waimakariri River verengt sich zur türkis funkelnden Schlucht. Wir rollen durch Tunnel und über schwindelhohe Viadukte, die scharfe Schatten aufs Gestein werfen.
Auf 737 Metern halten wir in Arthur’s Pass. Die Bänke auf dem Bahnsteig sind vereist. Joanna reicht dem Lokführer einen Kaffee, dann fährt er uns durch den Otira-Tunnel in eine andere Welt im Westen der Neuseeländischen Alpen: Kühe grasen auf der Hochebene, Regenwald säumt den Lake Brunner, wir scheuchen Seevögel auf, Palmen, Baumfarne und Flachs glänzen. Der Zugkommentar klärt auf, warum: 1500 Millimeter Regen fallen im Osten pro Jahr – an der Westküste sind es bis zu 5000.
Heute jedoch sonnt sich der Hafenort Greymouth am Fuß der Berge in wolkenloser Sonntagslaune. Im Garten und in der Schankstube der Brauerei »Monteith’s« sind fast alle Plätze besetzt. Ich habe wenig Lust, in den Mietwagen zu steigen.
Aber es sind nur 40 Kilometer nach Hokitika, wo ich übernachten möchte. Dem Küstenort steht die Abendstimmung gut: Orange rutscht im Westen die Sonne in die Tasmansee, Himmel, Sand und Meer verschwimmen im Dunst. Im Süden zeichnen die Sonnenstrahlen rote Zacken auf Mount Cook, Neuseelands höchsten Berg, den die Maori »Aoraki« nennen – »Wolken-Stecher«. Bis 2013 maß er offiziell 3754 Meter, tatsächlich hatte er nach einem Erdrutsch im Jahr 1991 rund 30 Meter verloren.

Tag 2: Hokitika – Gillespies Beach
Am Morgen ist der Himmel so grau wie der Turm von Hokitikas St. Mary’s Church. Ein Schild warnt: »Nicht erdbebensicher«. Mir ist ohnehin mehr nach Kaffee als nach Kirche. Im »Ramble + Ritual« weckt mich ein starker Flat White. Die Bäckerin Tina holt Walnuss-Bananen-Muffins aus dem Ofen. Hokitika ist berühmt für sein »Wildfoods Festival« im März, das alles feiert, was wild und mehr oder weniger genießbar ist. Echte Kerle vertilgen Skorpione, Fischaugen oder Hasenhoden, heruntergespült mit Alkohol und Musik. Jetzt im Mai ist der Ort ruhig. Seit Eleanor Cattons Roman »Die Gestirne«, der in Hokitika spielt und 2013 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde, kennen neben Maden-Gourmets auch Literaturfans den Ort. Sie suchen nach Romanspuren aus der Goldrausch-Ära um 1860 und werden belohnt: Einige Steingebäude und Holz-Cottages haben das Jahrhundert überlebt, Hobbyschürfer finden sogar manchmal Gold in den Bergen und an Bachläufen ringsum.
Vor allem aber lockt Pounamu, Neuseelands »Grünstein«, nach Hokitika. Dutzende Läden bieten Nephrit-Jade an – manche Shops sind so groß wie Supermärkte, andere eher intime Museen. Nicht jeder darf Grünstein »ernten«. Bei »Heritage Jade« treffe ich Colin Davidson. Als Maori vom Stamm der Ngai Tahu darf er in Flussbetten nach den Steinen suchen, oder besser: sie zu sich kommen lassen. »Wir Maori sagen, Pounamu findet dich«, erzählt Colin Davidson, der seine Fundstücke zu Anhängern in Spiral- oder Hakenform schleift. In der Kultur der Maori erzählt Pounamu vom Berg, aus dem er stammt, und vom Fluss, der ihn zum Meer trägt. Ihn zu stehlen bringt Unglück.
Gut 30 kurvige Kilometer südlich von Hokitika bringt die Hokitika-Schlucht eine neue Variante ins allgegenwärtige Grün des wilden Westens: Der Hokitika River leuchtet in den Becken der Schlucht in einem Türkis, das selbst bei bedecktem Himmel fast künstlich wirkt. Über eine Hängebrücke laufe ich zu einem winzigen Strand am anderen Ufer. Zwei grau-braune Fächerschwänze – einheimische Sperlingsvögel – fangen Insekten, fliegen akrobatische Kreise und wedeln aufgeregt mit dem Gefieder. Ihre Ruhelosigkeit steckt mich an, es wird Zeit, von der Schlucht aus wieder Richtung Küstenstraße zu fahren. Dort kurve ich durch dichten Regenwald und überquere zig einspurige Brücken. Von moosgepolsterten Felswänden winken mir Federfarne zu. 185 Kilometer sind es bis zum nächsten Ziel, dem Fox Glacier. Ein paar Holzhäuser und Wellblechscheunen erinnern daran, dass in dieser Einsamkeit auch Menschen leben. Die Region West Coast, das »Westland«, hat nur rund 30 000 Einwohner, weniger als zwei pro Quadratkilometer. »Coasters« heißen sie und sind angeblich so ungezähmt wie die Landschaft.

Tag 3: Gillespies Beach – Lake Matheson
Die alte Dame, die ich am anderen Tag in Gillespies Beach am Fuß des Fox Glacier treffe, ist resolut, aber freundlich. Ihre Siedlung steht zwischen Meer und Regenwald unter der Dreitausenderkette des Mount Cook. Fünf Menschen leben hier, dazu Hunde, Merinoschafe, ein Esel und – »Stoats!«, empört sich die Lady und fuchtelt mit dem Regenschirm. Für die Hermeline hat sie Fallen präpariert, denn die seien eine Plage: »Sie fressen heimische Kleintiere, Vögel, Hühner – simply everything!« Mrs. Gillespie prüft ihre Fallen und zeigt in Richtung Baumkronen. An schönen Tagen ragt dort die Spitze des Mount Cook übers Grün. »Es wird später aufklaren«, versichert sie.
Kaum irgendwo anders auf der Welt kommen sich Gletscher, Regenwald und Ozean so nah wie hier – das hat Konsequenzen: Das Bergmassiv bremst Wetter und Wolken, sie regnen sich zuweilen wochenlang aus.
Eigentlich wollte ich heute auf den Fox Glacier, einen der beiden Westküstengletscher, die so bequem zu erreichen sind, dass fast jeder Besucher hier aufs Eis will. Doch bei Nebel fallen Gletschertouren ins Wasser. Stattdessen umrunde ich den lake matheson, einen kleinen See mit riesiger Fangemeinde: Vom richtigen Winkel aus betrachtet, werfen Mount Cook und Mount Tasman so perfekte Spiegelbilder auf die Seeoberfläche, dass Lake Matheson mehr Postkarten und Instagram-Schnappschüsse ziert, als es der Magie des Ortes guttut. »Keine Drohnen«, bittet ein Schild am Wegesrand. An einem nassen Tag wie heute ist es hier verwunschen und schön: Die Baumstämme tragen Mäntel aus Moos, meterhohe Ponga-Farne beschirmen den Pfad, Flachs und Eisenhölzer flankieren das Ufer. Der Wald tropft, und es duftet nach nasser Erde.

Tag 4: Fox Glacier – Wanaka
Es ist noch dunkel, als ich am Morgen im Dorf Fox Glacier einen Blick in den Himmel werfe: Sterne funkeln um die Mondsichel, es ist eisig, aber klar. Das Warten hat sich gelohnt, heute können die Hubschrauber die acht Minuten hoch aufs Eis zum Gletscher fliegen. Dort hocke ich mit elf anderen glacier hikers im Schnee und lerne vom Bergführer Jon, wie man Steigeisen unter Wanderschuhe schnallt. Seit 1977 ist ein Drittel des Eises und Schnees der Südinselgletscher geschmolzen, ein dramatischer Rückzug. Vor 20 Jahren konnte ich noch vom Parkplatz zu Fuß zur Gletscherzunge spazieren. Inzwischen ist der kurze Hubschrauberflug der einzige Weg auf den Fox Glacier.
Der Gletscherrücken ist spiegelglatt, ohne unsere Eisenfüße kämen wir nicht weit. Wir stapfen über Eisklumpen und werden von zwei olivgrünen Keas verfolgt. »Die Gebirgspapageien sind extrem neugierig«, sagt Jon. »Passt auf, dass sie euch nichts aus dem Rucksack klauen.« Nach einer Weile schreiten wir sicherer aus, bewundern Eistunnel, klettern durch blaue Höhlen. Schmelzwasser und Gestein haben die spiralwandigen Gletschermühlen ins Eis gestrudelt. Wir trinken aus einem Eis becken das laut Jon reinste Wasser der Welt. »Das Eis ist immer noch 180 bis 200 Meter dick«, sagt er, als wir weitergehen.
Nachdem der Hubschrauber uns wieder im Ort abgesetzt hat, fahre ich Richtung Südwesten zur Küste, vorbei an dem von Dschungel umwachsenen Lake Moeraki, und biege in Haast in die Berge ab. Die 260 Kilometer bis Wanaka sind die abwechs lungsreichsten, die ich je gefahren bin. Ich steuere durch dunkelgrünen Regenwald auf die weißen Gipfel im Mount Aspiring Nationalpark zu, Abstecher führen an Wasserfälle und Seen, so blau wie Tinte. Und als seien Küste, Dreitausender und Regen wald nicht genug, schimmern südlich vom Haast-Pass zwei Bilderbuchseen: Im Lake Wanaka zur Rechten spiegeln sich schroffe Felswände, über Lake Hawea zur Linken schweben rosaweiße Wolkenfetzen. Minuten später geht die Sonne unter und hält mich von einer verrückten Idee ab: Am liebsten würde ich umdrehen und die Strecke gleich noch mal bestaunen.

Tag 5: Wanaka
Wanaka ist leiser als ihre große Nachbarin, die Action-Hauptstadt Queenstown, langweilig ist der Bergort am See aber nicht. Nach Sonnenaufgang folge ich den sportlichen Einheimischen bei ihrem Morgenritual: Ich besteige einen der umliegenden Berge. »Dafür sind sie ja da«, erklärt mir Colleen Nisbet pragmatisch – Mutter, Marketingfrau und Marathonläuferin, eine alte Freundin aus Sydney, die an den See gezogen und seither Wanaka-Expertin Nummer eins ist. Ambitionierte Wanderer nehmen sich vor dem Morgengrauen den 1578 Meter hohen Mount Roy vor. Für Anfänger wie mich genügt Mount Iron: 250 Meter hoch buckelt er wie ein Walrücken aus der Landschaft. Oben werde ich mit einem 360-Grad-Panorama belohnt: Gipfel mit Schneehauben, Bergketten und tief unten der Ort am See.
Zurück in Wanaka, erklärt mir Colleen vor dem »Good Spot«, einem zum Café umgebauten Wohnwagen im Retro-Look, was sie an dem Ort liebt: »Alle sind ständig draußen und bewegen sich, angespornt von regelmäßigen Adrenalinschüben. Außer dem ist es einfach wunderschön hier.« Also los! Auf Leihrädern fahren zu »Deans Bank Track«, einer gut elf Kilometer langen Mountainbikerunde am Clutha River. Ich teste die Bremsen, lege mich in enge Kurven, radle am Steilufer entlang und durch dichten Wald. Erstmals erscheint mir Neuseelands Helmpflicht für Radler sinnvoll. In der Bar »Kai Whakapai« im Ort belohnen wir uns mit kaltem Bier. Adrenalin macht durstig.

Tag 6: Wanaka – Queenstown
Nur gut 40 Minuten fahre ich von Wanaka durchs sanft ansteigende Cardrona Valley zur Crown Range Richtung Süden. Vor elf Jahren war ich zuletzt hier, für eine Reportage über Drachen flieger. Wie steil die Passstraße nach Queenstown bergab führt und wie eng die Serpentinen sind, muss ich erfolgreich ver drängt haben; denn hätte ich mich daran erinnert, säße ich vermutlich immer noch im »Cardrona-Hotel« auf dem Bergsattel der Crown Range, würde mit dem Barmann plaudern und über legen, wie viele Nächte ich mir in dem historischen Bergquartier leisten könnte. Mitte des 19. Jahrhunderts zogen Schafzüchter und Goldsucher mit Kutschen über die steile Straße. Seit 2000 sind die Kurven auf 1076 Metern immerhin asphaltiert.
Der Blick ins Tal raubt den Atem wie seit jeher. Mit dem Fuß auf der Bremse kurve ich bergab, wenigstens warten an diesem Steilhang keine Pinguine. Am Ziel klopft mein Herz schneller, und das liegt nicht nur am SerpentinenAdrenalin. Die geballte Ladung Ozean und Gipfel, Eis und Meer, Seen und Regenwald der letzten sechs Tage wirken intensiv und belebend nach.
Ich taufe es »Natur-Doping«, ein herrlicher Rausch der gesunden Art. In Queenstown, Neuseelands Metropole zwischen Lake Wakatipu und Gebirge, geben Besucher viel Geld aus, damit sie bei Bungee-Sprüngen, Fluss-Rafting, Drachenfliegen oder in Speed-Booten ihr Adrenalin in Wallung bringen. Mir reicht dagegen ein anderes Hochgefühl vollkommen: das Glück, das auf der Straße liegt.
Tipps für Übernachtungen und Erlebnisse auf der Strecke gibt es im Heft GEO Special Neuseeland.