Roosevelt Island Tram – Gantry Plaza State Park
Es ist, als würden einem binnen Sekunden Flügel wachsen. Die Gondel schwankt, es schwindelt. Schnell gewinnt sie an Höhe. Immer tiefer unten: zehn-, elf-, zwölfspurig der normale morgendliche Wahnsinn. Autos, Lastwagen, Taxen, die immer lautloser durcheinanderwuseln. Links geht der Blick geradewegs in Dutzende erleuchtete Zimmer, auf Frühstückstisch-Miniaturen. Rechts in Hochhausschluchten, dann auf die filigranen Streben der Queensboro Bridge und den im ersten Licht der aufgehenden Sonne schimmernden East River.
»Man kann sich nie sattsehen«, sagt Eduard Dillon. Abends nicht, mittags nicht, ganz früh morgens schon gar nicht. Und Dillon, 26, müsste sich längst sattgesehen haben: 56 Mal überquert er den Fluss pro Schicht. Fast jeden Tag, seit sechs Jahren. Knopf drücken. Gondel schließen. Knapp vier Minuten schweben. Das ist sein conductor-Leben. Die Roosevelt Island Tram ist die vielleicht am häufigsten übersehene Sehenswürdigkeit von New York: Eine Fahrt mit ihr kostet gerade mal so viel wie ein Subway-Ticket, hat aber einen deutlich höheren Gänsehaut-Faktor als der teure Blick durch die Scheiben vom One World Trade. Sie verbindet Manhattan
mit der ehemaligen Gefängnisinsel Roosevelt Island und war schon die Heldin vieler Filme; Spiderman etwa rettete seine geliebte Mary Jane hier. Dennoch: Überfüllt sind die markanten roten Gondeln selten, und wenn, dann von Berufspendlern während der Rushhour. Gerade ist es kurz nach sechs Uhr morgens: die erste Fahrt des Tages. Nur ein paar Jogger dehnen sich in der Gondel, sie wollen rüber, um im Four Freedoms Park auf
der Insel zu laufen, dann in ihren Alltag zurück. Einer sagt: »Tramfahren ist wie Erdnüsse essen. Du kannst nicht mehr aufhören.« Weil er recht hat, schwebe ich gleich fünf Mal hin und her. Jedes Mal wieder: Staunen. Dann springe ich auf der Insel schnell in ein Taxi: Ich will auch im Gantry Plaza State Park noch etwas vom Sonnenaufgang haben. Der direkt am East River gelegene Park soll nämlich eine einzige, lang gezogene Aussichtsterrasse sein.
Und wirklich: Als ich ankomme, klettern jenseits des Flusses die Sonnenstrahlen die letzten Stockwerke der Wolkenkratzer empor, bald sind die Vereinten Nationen und das Empire State Building ins beste Licht gesetzt; auch 432 Park Avenue, lang und schlank, eines der aktuell höchsten Super-Luxushäuser der Welt. Die ganze Uferpromenade des östlichen Manhattans steht Spalier. Eine Panoramasicht auf die Stadt – zum Darniederliegen schön. Nicht umsonst gibt es im Park so viele bequem geformte Gelegenheiten genau dafür. Ich nehme gleich die nächste und packe einen der famosen Blueberry-Cake-Donuts
aus, die ich seit dem Vortag für meinen Frühstart im Rucksack trage. Breakfast at its best.
Pepsi-Cola-Schild – 5th Street
Als ich wieder Augen für mehr als die Skyline habe, rücken die namensgebenden gantries in den Blick: die Ladebrücken und -kräne, die verraten, dass die heutige Flaniermeile einst Malocher-Terrain war, Hafengebiet. Im Boden zwischen den jetzt allgegenwärtigen Liegen und Hängematten: vereinzelt alte Schienen. Gleich dahinter, nahe der nun auch hier emporwachsenden Glastürme: das berühmte Pepsi-Cola-Schild, das niemand, der von Manhattan über den East River blickt, übersehen kann. Jene geschwungenen roten Riesenlettern, die an die Limonaden-Abfüllstation erinnern, die hier einmal war. Und die heute zum Wahrzeichen von Long Island City geworden sind. Long Island City, schneidig LIC genannt, der westliche Ausläufer des riesigen Queens, soll die »hottest new neighborhood« sein. Die »New York Times« legte die lange vergessene Gegend jüngst allen Wohnungssuchenden ans Herz, das Stadtmagazin »Time Out« lotst mehr und mehr Nachtschwärmer in diese bisher ungewohnte Umlaufbahn. Es ist, als fiele vielen erst jetzt auf, dass Long Island City nur rund 760 Meter – die Breite des East Rivers – von Manhattan entfernt ist, gerade die Distanz zwischen zwei Subway-Stationen. Dass aber die Preise hier in einem ganz anderen Sonnensystem liegen. One-Bedroom-Wohnungen für unter 3000 Dollar, Hotel-Doppelzimmer für unter 100, der Coffee to go für einen Dollar. Ich laufe vorbei an der architektonisch überambitionierten und an einen löchrigen Käse erinnernden Hunters Point Library am Center Boulevard, den neuen Kindergärten, Bio-Supermärkten, den ersten Designhotels, sogar ein »Brighter Babies – Early Development Center« entdecke ich in der 2nd Street. Indizien der Gentrifizierung.
Dabei war Long Island City lange reines Industrieareal: Ölraffinerien, Klebstoffmacher und Düngemittelhersteller siedelten sich hier schon im 19. Jahrhundert an. Der Newtown Creek, der Long Island City von Brooklyn trennt, gilt noch heute als verseucht, Abermillionen Liter Öl versickerten im Laufe der Jahrzehnte, eine der größten Naturkatastrophen des Landes. Anfang des 20. Jahrhunderts zählte man in Long Island City 1400 Fabriken: Farbe, Brotlaibe, Spaghetti, Bonbons, Schuhe, die berühmten Steinway-Klaviere – das alles kam aus LIC und ging irgendwann wieder. Marode Fabrikgebäude blieben, Lagerhallen, blätternde Farbe, Schrott, bröckelnde Mauern.
Vernon Boulevard – Jackson Avenue
Die sind noch immer allgegenwärtig, wenn auch hier und da mit Farbe frisch aus der Sprühdose beträchtlich aufgehübscht: Da fliegen am Vernon Boulevard Kühe, werden Krokodile an Leinen geführt, guckt ein riesenhafter Clown. Ein Hoch auf die Straßenkunst. Hübsch, gefällig, leichte touristische Kost aber ist Long Island City noch immer nicht. Das sagt auch Dan Abatelli, ein »Big Apple Greeter«, einer von mehr als 300 New Yorkern, die Touristen ehrenamtlich ihr Viertel zeigen. Enthusiastisch und auch nach Stunden mit federndem Schritt führt er uns herum. Die Menschen hier wollen Veränderung, aber keine zu schnelle. Sie wollen Wohnungen, aber keine »Luxury Rentals«, die auch in LIC immer häufiger offeriert werden. Über 30 000 neue Luxusapartments entstehen gerade. Selbst das berühmte Graffiti-Zentrum 5Pointz in der Davis Street, ein legendärer Teil des Viertels, musste weichen. Seither ist eine Angst sehr greifbar geworden: dass sich Long Island City wie die benachbarte Hipster-Hochburg Williamsburg innerhalb kürzester Zeit verlieren könnte. Ob die Gratwanderung zwischen Vergangenheit und Zukunft hier besser gelingen wird? »I really hope so«, sagt Abatelli, ein ehemaliger Lehrer. Und öffnet Türen zu Menschen, die die Gentrifizierung andernorts wohl längst weggefegt hätte: zu Milan Uherik und seinen »Slovak-Czech Varieties« etwa. In seinem kaum drei Schritt schmalen, bis unter die niedrige Decke vollgestopften Lädchen verkauft er, was Slowaken und Tschechen in New York fehlt: Fidorka-Schokolade, Bryndza-Käse oder Oplatky Kolonáda, die gerühmten Waffel-Oblaten aus Marienbad. Außerdem hölzerne Spielzeug-Unikate, die er selbst geschnitzt hat: Pferde, Schwäne, Autos aus dem Holz, das Hurrikan Sandy auf seinem Weg durch New York gefällt hat. Auch die Tür zu Gianna Cerbone geht auf, einer resoluten italienischen Mamma, die in ihrer Trattoria »Manducatis Rustica« Espresso für 2,50 Dollar, Pizza für zehn Dollar und so manche unglaubliche Anekdote serviert – früher saß bei den Cerbones angeblich sogar die Mafia um den Stammtisch.
MoMA PS1 – Sculpture Center
Wir essen erst später: raffinierten Rote-Bete-Salat auf alten Schulstühlen im umgebauten Klassenzimmer der »M. Wells Dinette«. Hier, in der ehemaligen Public School 1, ist auch die experimentelle, radikale Dependance des berühmten Museum of Modern Art zu Hause, das MoMA PS1 – zum Nachtisch gibt es also großartige Kunst. Einfach aufstehen, durch die Tür und links, schon stehe ich mitten in Cinthia Marcelles vieldeutiger Fleißarbeit: Die Künstlerin hat die Backsteinfugen eines Raums der einstigen Schule mit Abertausenden bröckelnden Kreidestückchen gefüllt, auch, um auf die Kostbarkeit von Bildung hinzuweisen. Im zweiten Stock dann James Turrells bezaubernder Blick in die Unendlichkeit: »Meeting«. Durch eine Öffnung in der Decke sehe ich die Wolken ziehen. Der Himmel ist plötzlich eingerahmt, eine Lichtshow verändert seine Farbe. Aus dem einfachen Blick in die Luft wird so ein magischer New-York-Moment. In Long Island City gibt es das, wofür man im MoMa, im Whitney oder im Metropolitan lange ansteht, noch ganz ohne Schlange, sagt Dan Abatelli, der New York Greeter. Und richtig: Im Sculpture Center in der Purves Street, ein paar Schritte vom MoMA PS1, sind wir mit den Kakaofiguren kongolesischer Plantagenarbeiter ganz allein. Ich ducke mich in den niedrigen Gewölbegängen des Kellers, in denen die laute, die niemals schlafende Stadt maximal weit entfernt scheint. Wir könnten unsere Kunsttour noch lange fortsetzen: im Noguchi Museum, gegenüber dem einstigen Atelier von Isamu Noguchi, dem Vater der heute milliardenfach kopierten papierenen Akari-Lampen. Hier konzentrieren sich viele Skulpturen des amerikanisch-japanischen Meisters. Und im Garten macht sich eine so meditative Ruhe breit, dass man sich sofort nach Japan versetzt fühlt.
Auch direkt nebenan brilliert Kunst in grüner Umgebung: Der Socrates Sculpture Park, eine Ex-Müllkippe am East River, hat sich einen Namen als Outdoor-Museum mit prallvollem Event-Kalender gemacht. Steinway Street – Museum of the Moving Image Für die Augen hat Queens aber noch viel mehr zu bieten. Also steigen wir – nahe des »Court Square Diners«, in dem seit 70 Jahren 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche klassisch amerikanisches Eier-Speck-Katerfrühstück serviert wird – in die U-Bahn. Karte durchziehen, durchs Drehkreuz, drei Stationen fahren, Steinway Street raus. Die Szenerie ist kaum verändert, noch immer Graffiti an fast jeder freien Wand: hier ein Tintenfisch mit verschlungenen Armen, dort explodiert mosaikartig eine Farbpalette. Auch rund um die 37th Street und beim Welling Court Mural Project kulminiert die Kreativität der Straße. Wir öffnen eine Tür und stehen in einem Raumschiff, jedenfalls mutet die im weißesten Weiß gehaltene Eingangshalle des Museum of the Moving Image so an. Und mehr Bodenhaftung gibt es in den nächsten zwei Stunden nicht, wie wir schnell merken: Es geht rasant durch die Filmgeschichte – vom Phenakistiskop aus dem Jahr 1832, mit dem die Bilder laufen lernten, bis zum lebensgroßen, spitzohrigen »Star Wars«-Joda. Filmequipment, Requisiten, Originalskizzen überall. »Creepy«, sagt Dan Abatelli, als wir das Mädchendouble aus »Der Exorzist« sehen, das seinen Hals um gruselige 360 Grad drehen kann. Über den unförmigen Fatsuit, den Robin Williams als Mrs. Doubtfire unter dem Blümchenkleid trug, schmunzeln wir. Und als sich die eigene Stimme in der Synchronsprecherkabine über die von Marilyn Monroe in »Manche mögen’s heiß« legt, die Diva also mit ziemlich deutschem Spracheinschlag über den Sand schwebt, lachen wir Tränen. Dann verabschiedet sich mein Big Apple Greeter, allerdings nicht, ohne eine Empfehlung für den Abend.
Die ganze Geschichte und alle Tipps zu Long Island City gibt es in GEO Special "New York".