Er weinte. Seine Finger waren derart verfroren, dass er seine Kamera nicht mehr richtig steuern konnte. Da öffnete eine der Frauen ihren schweren Mantel, nahm seine beiden Hände und wärmte sie an ihren Brüsten. Und als ihm später auffiel, dass er sich nicht angemessen dankbar gezeigt hatte, da musste er wieder weinen. Solche Geschichten erzählt Jimmy Nelson gern.
Er braucht nicht viel, um gerührt zu sein. Von den Menschen an jenem eisigen Morgen in den Bergen der mongolischen Provinz Bajan-Ölgii. Vom Volk der Himba in der Wüste Namibias. Von den Huaorani im Regenwald Ecuadors, von den Mursi in Äthiopien, den Dani, Yali und Lani auf Neuguinea.
Sie alle empfindet er als so stolz und schön und edel, als so wertvoll für den kulturellen Reichtum auf unserem Planeten, dass er ihnen fotografische Denkmäler setzen will.
Dass Jimmy Nelsons Fotos Werbeästhetik vorgeworfen wird, ist noch der geringste unter den Vorwürfen
Und so begann Jimmy Nelson 2010 eine bis heute andauernde Reise zu indigenen Völkern, deren Ergebnis er 2013 in einem kiloschweren Buch veröffentlichte. „Before They Pass Away“ (Bevor sie verschwinden) wurde weltweit ein Erfolg, und dem Fortsetzungsband mit dem Titel „Homage to Humanity“ dürfte eine ähnliche Karriere blühen.
Ein ehrenvolles Projekt? Man sollte es doch meinen.
30 Monate lang hat sich Nelson allein für sein erstes Buch in Eiswüsten und auf entlegene Inseln begeben, hat gelitten und Angst gehabt, hat sprachlos versucht, Kontakt aufzunehmen und Vertrauen zu gewinnen. Dann hat er eine 50 Jahre alte 4×5-Zoll-Laufbodenkamera aufgebaut – und Krieger mit Lanzen, Pfeil und Bogen und Penisköchern abgelichtet, hat junge Frauen mit Muschelketten, geritzter Haut und Federschmuck feierlich in dramatischen Landschaften inszeniert. Machtvoll will er sie aussehen lassen. Und auch wohlhabend, wie er findet, reich an Tradition.
Ja, er wolle Bewunderung für diese Völker auslösen, sagt Nelson, Respekt. Und ja, durchaus mit einer absichtsvollen Romantisierung, mit Emotion. „Ich bin kein Akademiker“, sagt der Fotograf, der kein Problem hat, sich als naiv zu bezeichnen und als Idealisten, „ich bin ein einfacher Mensch, der nach einfachen Antworten sucht.“
Nur: Auch Nelson musste sehr schnell merken, dass Überschwang keinen Schutzraum bietet. Erst recht nicht, wenn das Ergebnis Fine-Art-Prints sind, die für 55.000 Euro gehandelt werden. Der Verdacht liegt seither nahe, dass da einer viel Geld mit Waldmenschen macht.
Während Nelson noch seine Geschichte erzählte, vom plötzlichen Haarausfall im Alter von 16, der ihn zu einem Außenseiter werden ließ, von seiner persönlichen Erfahrung der Isolation, von seinen ersten Lebensjahren in vielen Ländern, von den dunkelhäutigen Freunden aus seiner Kindheit und wie das alles zusammen sein frühes Interesse an marginalisierten Gesellschaften entfacht hatte, brach harsche Kritik über ihn herein.
Dass seinen Fotos Werbeästhetik vorgeworfen wird, ist noch der geringste unter den Vorwürfen, denen er sich ausgesetzt sieht.
Rund zehn Jahre hat Nelson tatsächlich als Werbefotograf gearbeitet, bevor ihm das „zu flach“ wurde, wie er sagt. Aber auch Fotografen ohne diese Erfahrung setzen das Bleach-Bypass-Verfahren ein – die kontraststeigernde Überlagerung der sanft entsättigten Farben mit einem Schwarz-Weiß-Bild –, um ihren Bildern ein spezielles Pathos zu verleihen.
Nelson will will ethnischen Minoritäten Sichtbarkeit schenken
Schwerer wiegt, wie Nelson zugleich in den Mittelpunkt einer Auseinandersetzung geraten ist, die es im Grunde genommen gibt, seit Kolonialisten und Rassisten, Ethnologen und Anthropologen, Eurozentriker und Solidaritätskomitees für die „Dritte Welt“ am westlichen Bild von der Fremde bauen.
Jene, die von Nelsons Bildern einfach hingerissen sind, sie als nahezu überirdisch schön empfinden, sehen in dem 1967 geborenen Briten einen ganz großen Humanisten. Andere vergleichen sein Werk mit Leni Riefenstahls Herrenmenschen-Bewunderung für gestählte „Neger“, werfen ihm mindestens „falsche Nostalgie“ und „Effekthascherei“ vor, geißeln die „Scheinidylle“ auf seinen Bildern.
Man könnte dies tragisch für Nelson nennen: Ausgerechnet in einem Zeitalter, in dem allgemein beklagt wird, wie die Globalisierung und der Siegeszug des Kapitalismus kulturelle Nischen plattmachen, Sprachen auslöschen, wie indigene Lebensräume und Überlebensstrategien durch Raubbau vernichtet werden – ausgerechnet in dieser Situation schlägt ihm von den Fürsprechern der „Naturvölker“ blanke Abneigung entgegen, etwa von der Organisation Survival International, die indigene Völker unterstützt.
„Bevor sie verschwinden“ – schon der Titel von Nelsons erstem Buch wurde von einigen Vertretern der darin abgebildeten Völker als Affront empfunden. Denn, so sagen sie, sie gingen ja nicht. Sie kämpften. Und wenn sie verschwänden, dann nicht, weil dies der Lauf der Welt sei. Sondern, weil sie aktiv vernichtet würden.
Nelson hat dem wenig entgegenzusetzen. Tatsächlich ist in seinem Werk kaum je die Rede von den sozialen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen sich die von ihm bewunderten Völker bewegen. Teilnehmende Beobachtung, also das Einsteigen in den Alltag der Fotografierten, ist sein Metier nicht. Stattdessen sagt er nur: „Ich träume davon, dass sie ihre Kultur weitergeben.“ Und: „Es würde mich sehr traurig machen, wenn sie irgendwann T-Shirts und Baseballmützen trügen.“
Es hat auch Ethnologen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts schon betrübt, wenn sie die malerische „Reinheit“ ihrer Forschungsobjekte gewissermaßen verdorben sahen.
Leider, schrieb einer, sei der Häuptling bereits dem Einfluss der europäischen Kleidung „verfallen“. Und ein anderer bedauerte, eine Gesellschaft vorzufinden, die inzwischen „von der Zivilisation beleckt“ sei.
Womit er eine Sehnsucht ausdrückte, die wohl viele Großstädter in den Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften manchmal diffus befällt: den Traum vom einfachen, vom echten Leben im viel beschworenen „Einklang mit der Natur“ und in der Gewissheit eines unverrückbaren Glaubens.
Und damit ist Nelson aktueller Mittelpunkt gleich einer weiteren Debatte geworden: jener nämlich, ob eine Verklärung indigenen Lebens nicht unbedacht ist, wenn dabei über geißelnde Tabus und schmerzhafte Riten, bittere Subsistenzwirtschaft und geringe Lebenserwartung hinweggesehen wird.
„Die Wilden“ als Projektionsfläche jener, die in ihren voll klimatisierten Zonen Authentizität vermissen: Auch das ein Aspekt, den Nelsons überaus erfolgreiche Arbeit unfreiwillig wieder in den Fokus gerückt hat.
„Wenn seine Bilder aussehen, als stammten sie aus dem 19. Jahrhundert, dann liegt es daran, dass sie es sind: Sie sind der Widerhall einer kolonialen Vision“, lautet das ätzende Urteil des Chefs von Survival International, Stephen Corry. Was heftig ist.
Denn in der Geschichte der Ethnofotografie, umfassend klug und vielschichtig aufgezeigt etwa in dem 1989 erschienenen Buch „Der geraubte Schatten“, sind indigene Völker ganz anders zu sehen als bei Nelson: Ängstlich blicken sie in die Kamera, geschockt, ergeben, traurig, scheu, hilflos, voller Abwehrgesten, mit fatalen Arme-Sünder-Mienen.
Nelson aber zeigt sie als Helden, nicht mit der Attitüde jener früheren Ethnofotografen, die ihre Opfer, wie einer schrieb, auch mal „den Geschmack meines Stockes kosten“ ließen. Nicht wie jene, die den in fernen Winkeln der Welt aufgespürten Menschen „animalische Sexualität“ unterstellten, sie unter „homo sapiens monstrosus“ einordneten.
Oder die sich, wie beispielsweise noch im Jahr 1908 der deutsche Arzt Bernhard Hagen, fragten: „Sind es überhaupt schon Menschen?“
Dies alles wäre dem Schwarmgeist Nelson fremd.
Er will ethnischen Minoritäten Sichtbarkeit schenken. „Zeigt uns das Wesens eures Seins“, damit zitiert ihn sein Freund Mark Blaisse im Vorwort zu „Before They Pass Away“. Und es stört ihn dabei nicht, wenn zu diesem Sein gehört, dass die „Kriege (dort) zum notwendigen Überleben geführt werden“.
Blaisse meint, Nelson sehe die „Reinheit des Menschlichen“ und auch „Gerechtigkeit und Ehre“, ob in der Steppe, hoch in den Anden oder auf Vanuatu im Südpazifik.
Speere und Messer lässt er die Indigenen deshalb gern zeigen, ihre Kampfmontur, wenn auch in seinem zweiten Buch, vielleicht mit Rücksicht auf die Kritik an seinem ersten, nicht mehr so oft. Gesichter fängt er jetzt ein, nicht mehr so viele Kalaschnikows auf den Schultern afrikanischer Hirten.
Wenn niemand sie darauf aufmerksam mache, wie einzigartig sie seien, ist Nelsons Credo, „übersähen sie ihre Einzigartigkeit selber“. Da spricht ein Missionar, der nicht merkt, dass in seinem Begehr, die Zeit anzuhalten, und in seiner Rede vom Traditionsvernichter Wohlstand auch etwas liegt, das man nicht nur für illusionär, sondern auch für zynisch halten könnte.
Aber Nelson ist nicht zynisch. Wohl eher ist er ein Verliebter, der auf sein überbordendes Fasziniertsein vom „anderen“, vom Fremden inzwischen ein großes Haus gebaut hat, eine Stiftung: die Jimmy Nelson Foundation, die weltweit Feste der Völker unterstützen und dabei helfen soll, ihr kulturelles Erbe und ihre kulturelle Vielfalt zu bewahren.
Um für sie zu werben, kann es sein, dass er auf Konferenzen herumspringt wie ein Irrwisch, mit Händen und Füßen deklamierend und das Publikum auffordernd, dem Nebenmann, der Nebenfrau ein Kompliment zu machen und solchermaßen überall Schönheit zu entdecken. Und einfach den Menschen zu feiern, die Schönheit jedes Menschen.
Bis zu 1,4 Millionen Aufrufe haben solche Videos von seinen Auftritten. Und immer noch erzählt er, der Bestseller-Fotograf, dann davon, wie er sich in einem Nomadenzelt, betrunken und verwirrt, nächtens einmal eingenässt hat. Und wie ein solches Malheur zu einer neuen Innigkeit mit den Gastgebern geführt habe. Es sei so „bereichernd“, jubiliert er dann, es verschaffe ihm das Gefühl, „wirklich lebendig zu sein“. Es ist der Treibstoff seiner Suche.
Nelson will Altäre bauen, auf denen nichts stört. Dass zum Beispiel die Maori schon Anfang des 14. Jahrhunderts fast sämtliche Wälder Neuseelands abgefackelt haben, ein Faktum, das so gar nicht zum Bild der im Einklang mit der Natur lebenden frühen Kulturen passt, das stört Nelson nicht. Es wäre ihm auch zu kompliziert.
Er überlässt es gern den Experten, in Studien nachzuweisen, dass die Tellerlippen der Mursi-Frauen in Äthiopien größer geworden sind, seit Touristen für Fotos davon zahlen. Nelson betet einfach nur an.
Für einen philosophischen Überbau seines Tuns hat er, bei aller Glorifizierung der Menschen auf seinen Bildern, nur wenige Worte. Einerseits zitiert er zwar die amerikanische Anthropologin Margaret Mead mit der Befürchtung, ihre Nachfahren könnten eines Tages in einer monochromen Welt aufwachen, in einer völlig glatt gebügelten „Ethnosphäre“ ohne jegliche Diversität.
Gleichzeitig bezeichnet er jedoch seine Bücher selber mit Worten, die gewöhnlich für nutzlose Repräsentationsbände genommen werden: als Coffee-Table-Books, als Schmuck auf Wohnzimmertischen.
Bewirken sie denn dort etwas?
Nelson hofft es. Er will ein Lagerfeuer, um das wir alle sitzen. Ein Lagerfeuer, an dem wir besprechen, was wir verlieren könnten: „in der Welt und in uns selbst“.