Was bedeutet es, historische Schwarz-Weiß-Fotos nachträglich zu kolorieren? Bedeutet es, originale Dokumente zu manipulieren und bloße Effekthascherei zu betreiben?
Misstrauische Fragen wie diese hört Marina Amaral immer wieder.
Diese misstrauischen Fragen sind das späte Echo eines seit Jahrhunderten konstant gepflegten Misstrauens gegenüber Farben insgesamt. Da diese immer schwer konservierbar, ja, viel flüchtiger waren als Formen und Linien, hielt man sie für etwas Sekundäres und Oberflächliches.
An griechischen Skulpturen schätzte man die reine Form – und vergaß, dass sie ursprünglich bunt bemalt waren. Viele Gebäude der Architekturgeschichte sind wegen ihrer Proportionen im Gedächtnis geblieben; dass auch sie oft farbenfroh gestaltet waren, ist kaum bewusst.
Die Fotografie der frühen Jahre produzierte hingegen fast ausschließlich schwarz-weiße Bilder. Hier ist die Farbe nicht verloren gegangen, sondern war nie vorhanden.
Doch statt das als Mangel zu beklagen, sahen einflussreiche Fototheoretiker wie Roland Barthes und Vilém Flusser darin sogar einen Vorzug. Für sie konnte nur ein Schwarz-Weiß-Foto das Prinzip „Fotografie“ erfahrbar machen, bei dem Licht auf eine lichtempfindliche Oberfläche trifft.
Farbfotos hingegen fehle es an Intensität, zumal sie die Wirklichkeit stark verändern – weil die Farben des Produkts nicht realitätsgetreu sind. Deshalb seien sie nicht wahrer, sondern banaler. Ohnehin leide die moderne Welt mit ihren vielen Farben, so Flusser, an „visueller Umweltverschmutzung“.
Kolorierte Bilder sind historisch korrekter
Wer die von Amaral kolorierten Bilder sieht, muss solche Thesen als bloße Vorurteile ablehnen – und kann umgekehrt Schwarz-Weiß-Fotos fortan fast nur noch als problematische Verkürzung der Realität empfinden.
Tatsächlich sind die am Computer kolorierten Bilder historisch korrekter als die originalen Schwarz-Weiß-Fotos. Amaral fügt den Fotos etwas hinzu, das sie aufgrund der Begrenztheit technischer Möglichkeiten nicht fixieren konnten, das aber zum Glück anderswo überliefert ist. Dafür forscht Amaral in Museen und Archiven. Manchmal befragt sie Zeitzeugen, um die Farbigkeit eines Ladenschilds oder Möbelstücks, einer Uniform oder Hausfassade herauszufinden oder um den Teint einer Person zu rekonstruieren.
Schließlich bringt sie, zum Teil nach wochenlanger Recherchearbeit, bisher getrennt voneinander bewahrte historische Fakten zusammen. Damit macht sie Vergangenheit auf den kolorierten Fotos so präsent wie nie zuvor.
Berühmte Persönlichkeiten erscheinen zeitgenössischer
Oft sind es Details, die nun ins Auge fallen. Sie lassen das Bild eines Ereignisses oder einer Person viel umfassender werden und liefern im besten Fall eine ganze Welt dazu. Wie anschaulich wird auf einmal etwa die logistisch höchst aufwendige Produktion der später in New York errichteten Freiheitsstatue!
Auf dem Foto von 1881 sieht man, wie ein Handwerker gerade ihre linke Hand aus Holz zusammenzimmert, bevor ein anderer Gips auf das Gerüst aufträgt und dabei selbst schon ganz weiß geworden ist.
Und die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit im Jahr 1896? Amaral präsentiert ein Foto vom Finale im 100-Meter-Lauf. Dass jeder Läufer eine eigene Starttechnik hat, konnte man bisher schon erkennen. Aber wie unterschiedlich auch ihre Kleidung ist, wie wenig standardisiert, ja wie unprofessionell der Sport – auf einem zertrampelten Rasen – damals noch war, wird jetzt viel eindrucksvoller deutlich.
Berühmte Persönlichkeiten erscheinen, in Farbe verwandelt, fast durchweg zeitgenössischer.
Sieht man die listigen blauen Augen von Charles Darwin oder den vom Bartwuchs leicht gräulichen Farbton der Wange Albert Einsteins, fallen einem – ganz anders als bei den historischen Schwarz-Weiß-Porträts – plötzlich Menschen aus der eigenen Umgebung ein, an die man sich erinnert fühlt.
Grausamkeit wird genauer erfahrbar
Am verblüffendsten aber ist die Kolorierung bei Fotos, die man bereits in Schwarz-Weiß kannte.
Handelt es sich um Ikonen der Fotogeschichte, etwa um eine Aufnahme aus dem Warschauer Ghetto von 1943, kann sich sogar ihre dokumentarische Qualität verändern. Konzentrierte sich in diesem Fall der Blick des Betrachters bisher ganz auf einen kleinen Jungen, der einsam und verängstigt, mit erhobenen Händen, dasteht und vom Gewehr eines SS-Mannes bedroht wird, so verteilt sich die Aufmerksamkeit nun über das gesamte Bild.
Statt als abstrakter Hintergrund für die Szene im Vordergrund zu fungieren, sind die anderen Menschen, die, dicht gedrängt und völlig wehrlos, aus einem Gebäude getrieben werden, endlich ebenfalls individuell sichtbar.
Die Grausamkeit, die das Foto festhält, wird umso genauer erfahrbar; es zeigt nicht nur ein Opfer, sondern viele.
Auch Fotos wie die berühmte Aufnahme von Dorothea Lange, die eine verarmte Mutter sowie drei ihrer Kinder zeigt, entstanden während der Großen Depression nach 1929 in den USA, verändern sich durch die Kolorierung nachhaltig. In der Schwarz- Weiß- Fotografie können Fotografen, die professionell agieren oder gar einen künstlerischen Anspruch hegen, mit der Verteilung von Schwarz und Weiß regelrecht Regie über den Blick der Betrachter führen
Marina Amaral erweist sich als Moralistin und Humanistin
Eine farbige Version lässt dagegen viel mehr Freiheit zu, sich das jeweilige Bild zu erschließen.
Aufgrund dieser Freiheit fühlt man sich aber auch schnell als Voyeur. Und man erschrickt über die eigene Schaulust, zumal angesichts von so viel Elend und Brutalität auf vielen Bildern in Amarals Auswahl.
Gerade damit aber erweist sie sich als Moralistin und als Humanistin: Sie will, dass möglichst viele Menschen aufgrund jenes Erschreckens mehr Empathie als bisher für das entwickeln, was anderen passiert ist.
Deshalb lässt Amaral Menschen auf Twitter und Instagram an den oft vielstufigen Kolorierungsprozessen teilhaben. Oder sie berichtet über ihr Projekt „Faces of Auschwitz“: Indem sie die bei der Registrierung der KZ-Häftlinge angefertigten Fotos sorgfältig koloriert, soll die Erinnerung an deren Ermordung im wahrsten Sinne vor dem Verblassen bewahrt werden.
Sie macht Vergangenheit gegenwärtig, damit die Zukunft besser werden kann.