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Höhlen-Expedition Im verborgenen Dom der Dolomiten

Tor in der Tiefe
Frostschichten: Mehr als 70 Meter tief winden sich die Höhlengänge durch das Eis. Wind und Schmelzwasser müssen das Labyrinth über lange Zeit ausgefräst haben
© Robbie Shone
Am Anfang stand ein Mysterium: In den Dolomiten verschwindet ein See – und legt eine gewaltige Höhle aus Eis und Fels frei. Jetzt steigen Forscher mit einem Laserscanner hinab, um das unterirdische Ungetüm zu kartieren. Es ist der Beginn einer genaueren Sicht auf unsere Erde

An einem Schneehang Dolomiten, in rund 3000 Meter Höhe, stapfen Tommaso Santagata und seine Begleiter auf einen Ort zu, den es eigentlich gar nicht geben dürfte: Er ist auf keiner Karte markiert.

Selbst die genauesten topografischen Zeichnungen, die sonst jeden See, jeden Wanderweg, jeden Gipfel in der italieni­schen Fanesgruppe erfassen, nennen ihn nicht, obwohl er doch groß genug dafür wäre. Auch in den Satellitenbildern von Google Earth, auf denen sogar die Son­nenschirme der Berghütten noch erschei­nen, ist er nicht zu erkennen.

Es ist ein Ort, wie ihn frühere Karto­ grafen mit hic sunt dracones, „Hier sind Drachen“, versehen hätten: ein unbeschrie­bener Fleck, inmitten Europas, im Herz der Alpen.

In unserer Zeit?

Santagata, 32 Jahre alt, Geodät aus Modena, hat sich vorgenommen, diese Leerstelle auszufüllen, sie mit größtmög­licher Genauigkeit zu vermessen. Aber er weiß, für Menschen allein wäre sein Vor­haben viel zu aufwendig, zu gefährlich. Und deshalb hat Santagata mit seinem Team neben Kletterseilen, Stativen und Dutzenden Sicherungshaken auch einen ebenso unscheinbaren wie unentbehrlichen kartografischen Unterstützer mit in die Dolomiten genommen: einen grauen Kas­ten, so groß wie ein Handgepäckskoffer.

Den „P40“. Er ist ein Landvermesser der Zukunft.

Mehr als 70 Meter tief winden sich die Höhlengänge durch das Eis
Tor in die Tiefe: Noch 1994 war diese vergletscherte Felsmulde auf rund 3000 Meter Höhe mit Wasser gefüllt. Dann brach der See durch sein Eisbett indie Tiefe und gab den »Abisso del Cenote« frei
© Robbie Shone

Wie wir Menschen die Welt sehen und welchen Platz wir darin besetzen – das legen Karten fest. Nur was in Atlanten, auf Globen oder in Navigationssystemen verortet ist, gilt als gesichert. Wir brauchen Karten als Referenz: Erst ihre Sym­bole, Linien und Namenszüge verkleinern und definieren die Dimensionen der Erde so weit, dass wir sie überschauen können.

Karten heben Details und Zusammen­hänge hervor, die unseren Augen verborgen blieben. Und sie stacheln die Neugier an. Entdecker wie Santagata etwa faszi­nieren sie vor allem mit dem, was sie nicht zeigen. Ihre Ränder und Unschärfen laden zum Träumen ein und zum Aufbruch – seit Menschengedenken.

Menschengedenken.Von Epoche zu Epoche ist unsere Wahrnehmung von der Erde dadurch genauer und weiter gewor­den. Schon in der Antike etwa erdachten sich Geografen, um die Welt in Balance zu halten, einen antarktischen Kontinent: Karten­zeichner des Mittelalters schmück­ten das „Südland“ ideenreich mit Zwitterwesen, Fabeltieren und Wäldern aus – bis der russische Kapitän Fabian von Bellingshausen es 1820 als lebensfeindliche Eiswelt entlarvte.

Seekarten, die zwischen Asien und Portugal einen einzigen Ozean wähnten, inspirierten Christoph Kolumbus 1492 zu seiner Atlantikreise. Und manche entle­genen Archipele und Wüsten sind erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermessen worden.

Mittlerweile, in der Epoche der Sa­telliten, halten viele die „weißen Flecken“ der Karten längst für getilgt. Tatsächlich aber ist die Geodäsie, die Kunst der Erd­erfassung, gerade jetzt wieder im Begriff, unser Weltbild um eine weitere Dimen­sion zu bereichern. Sie macht einen Entwicklungsschub durch, der in seiner epochalen Bedeutung den Expeditionen der frühen Entdecker oder dem ersten Blick auf unseren Heimatplaneten vom All aus gleicht: Die Erdgestalt wird kopiert – als ein virtuelles 3­D­Modell.

In rasanter Geschwindigkeit zeich­nen neue Technologien, Maschinen wie Santagatas P40, in immer höherer Auflö­sung unsere Umwelt auf und verknüpfen die Geodaten zu engmaschigen digitalen, globalen Rastern. Dieser neue Big­-Data­-Blick auf die Erde wird unser Leben in Zukunft massiv verändern (siehe Info-Box).

Und manchmal erschließt er uns jetzt bereits neue Welten, die bislang verborgen waren – wie in der Fanesgruppe, in der Santagata und seine Helfer, keuchend un­ter der Last ihrer Rucksäcke, die Finger klamm von der Kälte, mit P40 den Rand eines Abgrunds erreichen.

Ihr Ziel: der Eingang zum „Abisso del Cenote“ – zu einem Labyrinth, das sich erst vor wenigen Jahren der lichten Welt zu erkennen gegeben hat.

Der Blick des Lasers

Die LiDAR-Technik hat sich aus der Raumfahrt entwickelt – und verändert unsere Sicht auf die Erde

Laserscanner erfassen Abstände und Geschwindigkeiten, indem sie Lichtstrahlen aussenden und dann messen, wie diese von Oberflächen in der Umgebung zurückgestrahlt werden („Light Detection and Ranging“): Präzise und schnell erstellen die Apparaturen so aus Millionen Datenpunkten virtuelle 3-D-Kopien von Räumen und Landschaften – nicht nur in Höhlen. Vier Beispiele:

  1. Verkehr
    In Autos eingebaut, können Laserscanner während der Fahrt alle Richtungen nach Gefahren abtasten. Das soll Menschen am Steuer und autonomen Fahrzeugen in Zukunft helfen, Unfälle zu vermeiden. Im Straßen-, Brücken- und Tunnelbau lösen LiDAR-Geräte klassische Peilmessungen bereits immer häufiger ab.
  2. Katastrophenschutz
    Von Hubschraubern oder Drohnen aus erkennen Laserscanner millimetergenau Veränderungen von Berghängen, Flussläufen, Gletscherrändern. Und liefern so Hinweise, um früh Überschwem- mungs-, Lawinen- und Steinschlagrisiken einzuschätzen.
  3. Archäologie & Kunsthistorik
    Winzige Löcher im Blätterdach eines Regenwaldes genügen der LiDAR-Technik, um aus der Luft überwucherte Fundstätten aufzuspüren. In Kambodscha fand man so heraus, dass die Tempelstadt Angkor in ihrer Blütezeit vielfach größer war als gedacht. Auch Kunsthistoriker nutzen Laserscanner, um Skulpturen oder Baudetails näher zu analysieren.
  4. Simulationstraining
    Wie müssen Techniker reagieren, wenn in einem Umspannwerk nachts ein Feuer ausbricht? Stromversorger erproben dies am Computer in Simulationsspielen, die sich auf reale Laservermessungen der Station stützen.

Die Vermessung der Unterwelt kann beginnen

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