An einem Schneehang Dolomiten, in rund 3000 Meter Höhe, stapfen Tommaso Santagata und seine Begleiter auf einen Ort zu, den es eigentlich gar nicht geben dürfte: Er ist auf keiner Karte markiert.
Selbst die genauesten topografischen Zeichnungen, die sonst jeden See, jeden Wanderweg, jeden Gipfel in der italienischen Fanesgruppe erfassen, nennen ihn nicht, obwohl er doch groß genug dafür wäre. Auch in den Satellitenbildern von Google Earth, auf denen sogar die Sonnenschirme der Berghütten noch erscheinen, ist er nicht zu erkennen.
Es ist ein Ort, wie ihn frühere Karto grafen mit hic sunt dracones, „Hier sind Drachen“, versehen hätten: ein unbeschriebener Fleck, inmitten Europas, im Herz der Alpen.
In unserer Zeit?
Santagata, 32 Jahre alt, Geodät aus Modena, hat sich vorgenommen, diese Leerstelle auszufüllen, sie mit größtmöglicher Genauigkeit zu vermessen. Aber er weiß, für Menschen allein wäre sein Vorhaben viel zu aufwendig, zu gefährlich. Und deshalb hat Santagata mit seinem Team neben Kletterseilen, Stativen und Dutzenden Sicherungshaken auch einen ebenso unscheinbaren wie unentbehrlichen kartografischen Unterstützer mit in die Dolomiten genommen: einen grauen Kasten, so groß wie ein Handgepäckskoffer.
Den „P40“. Er ist ein Landvermesser der Zukunft.
Wie wir Menschen die Welt sehen und welchen Platz wir darin besetzen – das legen Karten fest. Nur was in Atlanten, auf Globen oder in Navigationssystemen verortet ist, gilt als gesichert. Wir brauchen Karten als Referenz: Erst ihre Symbole, Linien und Namenszüge verkleinern und definieren die Dimensionen der Erde so weit, dass wir sie überschauen können.
Karten heben Details und Zusammenhänge hervor, die unseren Augen verborgen blieben. Und sie stacheln die Neugier an. Entdecker wie Santagata etwa faszinieren sie vor allem mit dem, was sie nicht zeigen. Ihre Ränder und Unschärfen laden zum Träumen ein und zum Aufbruch – seit Menschengedenken.
Menschengedenken.Von Epoche zu Epoche ist unsere Wahrnehmung von der Erde dadurch genauer und weiter geworden. Schon in der Antike etwa erdachten sich Geografen, um die Welt in Balance zu halten, einen antarktischen Kontinent: Kartenzeichner des Mittelalters schmückten das „Südland“ ideenreich mit Zwitterwesen, Fabeltieren und Wäldern aus – bis der russische Kapitän Fabian von Bellingshausen es 1820 als lebensfeindliche Eiswelt entlarvte.
Seekarten, die zwischen Asien und Portugal einen einzigen Ozean wähnten, inspirierten Christoph Kolumbus 1492 zu seiner Atlantikreise. Und manche entlegenen Archipele und Wüsten sind erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermessen worden.
Mittlerweile, in der Epoche der Satelliten, halten viele die „weißen Flecken“ der Karten längst für getilgt. Tatsächlich aber ist die Geodäsie, die Kunst der Erderfassung, gerade jetzt wieder im Begriff, unser Weltbild um eine weitere Dimension zu bereichern. Sie macht einen Entwicklungsschub durch, der in seiner epochalen Bedeutung den Expeditionen der frühen Entdecker oder dem ersten Blick auf unseren Heimatplaneten vom All aus gleicht: Die Erdgestalt wird kopiert – als ein virtuelles 3DModell.
In rasanter Geschwindigkeit zeichnen neue Technologien, Maschinen wie Santagatas P40, in immer höherer Auflösung unsere Umwelt auf und verknüpfen die Geodaten zu engmaschigen digitalen, globalen Rastern. Dieser neue Big-Data-Blick auf die Erde wird unser Leben in Zukunft massiv verändern (siehe Info-Box).
Und manchmal erschließt er uns jetzt bereits neue Welten, die bislang verborgen waren – wie in der Fanesgruppe, in der Santagata und seine Helfer, keuchend unter der Last ihrer Rucksäcke, die Finger klamm von der Kälte, mit P40 den Rand eines Abgrunds erreichen.
Ihr Ziel: der Eingang zum „Abisso del Cenote“ – zu einem Labyrinth, das sich erst vor wenigen Jahren der lichten Welt zu erkennen gegeben hat.
Die Vermessung der Unterwelt kann beginnen
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