Mit dem Alter nimmt die Leistung des Körpers ab, auch die des Gehirns. Dieser natürliche Prozess lässt sich nicht aufhalten. Doch wer aktiv bleibt, kann das schwindende Denkvermögen ausgleichen. Der Hirnforscher Gerhard Roth erklärt, wie man auch in späteren Jahren noch Neues lernt, warum der Frühruhestand ein Desaster ist und was die geistige Fitness mit körperlicher Bewegung zu tun hat
GEOKOMPAKT: Herr Professor Roth, müssen wir uns damit abfinden, dass unsere Geisteskraft im Alter schwindet?
PROF. GERHARD ROTH: Wie jedes andere Organ altert auch das Gehirn. Die Nervenzellen leiten in späteren Jahren zum Beispiel Signale nicht mehr ganz so schnell weiter. Rein physiologisch ist dieser Prozess ganz normal. Dagegen können wir nichts machen. Das heißt jedoch nicht, dass wir geistig merklich abbauen: Unser Gehirn ist – wenn wir es genügend fordern – erstaunlich gut in der Lage, Defizite zu kompensieren.
Ein 70-Jähriger mag zwar nicht mehr ganz so schnell denken können wie ein 16-Jähriger. Aber er ist dadurch ja nicht automatisch dümmer. Das liegt unter anderem daran, dass es nicht nur eine Form von Intelligenz gibt.
Welche Formen unterscheidet man?
Wir kennen zwei Typen von Intelligenz: zum einen die allgemeine Intelligenz – das Tempo, mit dem Menschen denken, wahrnehmen, assoziieren, Probleme erkennen. Diese Intelligenz erreicht ihren Höhepunkt im Alter von 16 Jahren. Und nimmt dann allmählich ab.
Der andere Typ, die kristalline Intelligenz, wächst viel langsamer, reift erst mit den Jahren. Diese Form umfasst unseren Wissens- und Erfahrungsschatz, die Expertise und Fertigkeiten, die wir uns erarbeiten. Ein junger Mensch mag sehr schnell denken. Doch er weiß noch nicht viel von der Welt.
Da die allgemeine Intelligenz etwa ab dem 16. Lebensjahr abnimmt, die kristalline aber zeitgleich zunimmt, erreichen wir den Höhepunkt unserer geistigen Fähigkeiten im Durchschnitt mit 28 Jahren. Ein Phänomen, das sich oft in den Naturwissenschaften zeigt.
Können Sie ein Beispiel geben?
In den Naturwissenschaften, wo es auf schnelles, fachkundiges Denken ankommt, wurden besonders viele Nobelpreise für Leistungen vergeben, die Forscher ungefähr im besagten Alter vollbracht haben. Albert Einstein, Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli haben ihre berühmtesten Entdeckungen zwischen 24 und 30 Jahren gemacht.
Kann man die schlimmste Form des geistigen Verfalls, die Altersdemenz, irgendwie aufhalten?
Nein. Aufhalten lässt sie sich bisher nicht. Aber mit dem richtigen Lebensstil kann man den Beginn der Krankheit um sechs, sieben Jahre hinauszögern
Ist Kreativität auch Ausdruck geistiger Fitness?
Natürlich. Auch die Kreativität passt sich ja dem Gang der allgemeinen Intelligenz an. Viele Menschen sind in ihrer Jugend besonders kreativ. Die Vielseitigkeit nimmt dann ganz langsam ab. Doch bei der Kreativität verschränkt sich ebenfalls die allgemeine Intelligenz mit der Expertise, dem Wissen darum, wie etwas funktioniert, und zudem mit "handwerklichem" Können.
Auch hier zeigt sich: Viele Komponisten und Schriftsteller verfassen ihre originellsten Werke im Alter zwischen 25 und 35 Jahren. Danach plätschert die Kreativität meist eher dahin, nur wenige Künstler wie Michelangelo, Goethe oder Verdi erschaffen jenseits der 60 noch etwas völlig Neues, überragend Kreatives, das vom bisherigen Werk abweicht.
Müsste man demnach nicht schon mit 30 oder 40 Jahren merken, dass das eigene Gehirn schwächelt?
Die zunehmende Expertise kann die schwindende allgemeine Intelligenz lange Jahre recht gut kompensieren – etwa bis zum 65., ja sogar 70. Lebensjahr. Danach altert das Gehirn meist so stark, dass auch der Wissensschatz die Defizite nicht mehr auffangen kann.
Und doch behält das menschliche Gehirn – wie wir heute wissen – ein Leben lang eine erstaunliche Plastizität.
Was versteht man darunter?
Psychologisch ist Plastizität schlicht die kognitive und emotionale Anpassungsfähigkeit eines Menschen, seine Flexibilität. Ein Beispiel: Wer auf dem Land aufgewachsen ist und zum Studium nach Berlin zieht, zeigt eine hohe Plastizität, wenn er sich rasch im hektischen Großstadtleben zurechtfindet. Und zudem, wenn er die Möglichkeiten nutzt, die ihm die Stadt bietet, um seine Interessen auszuleben.
Diesem psychologischen Vermögen liegt die Fähigkeit des Gehirns zugrunde, sich – grob gesagt – umzuverdrahten. Die Nervenzellen können bestehende Verbindungen verstärken oder abschwächen oder völlig neue Kontakte aufbauen. Entsprechend werden im Gehirn Signale auf neue Weise ausgetauscht, Informationen anders verarbeitet. Es gibt keine psychologische Flexibilität ohne eine physiologische Plastizität. Wenn sich unser Geist und unsere Psyche verändern, so geschieht dies stets auf der Grundlage neuronaler Umstrukturierungen.
Wie verändert sich die Plastizität des Gehirns im Laufe des Lebens?
Um das zu verstehen, müssen wir zwischen drei großen Bereichen der Plastizität unterscheiden. Das ist zum einen der motorische Bereich: Wie beweglich ist unser Körper? Zweitens der kognitive: Wie beweglich sind unsere Gedanken? Drittens der emotional-psychische: Wie beweglich sind unsere Gefühle?
In welchem Bereich erweist sich die Plastizität am größten?
Im motorischen Bereich. Diese Plastizität beginnt schon im Mutterleib: Bereits das Ungeborene kann sich bewegen, fasst sich etwa an die Nase. Und wenn man sich fit hält, kann man motorisch bis ins hohe Alter erstaunlich beweglich bleiben: Es gibt schließlich auch 90-jährige Marathonläufer. Und die Fähigkeit, neue Bewegungsabläufe zu erlernen, bleibt sehr lang erhalten.
Diese enorme Flexibilität offenbart sich auch bei Verletzungen: Das motorische System birgt im peripheren Nervensystem, also außerhalb des Gehirns und Rückenmarks, die größten Regenerationsmöglichkeiten. Manche Menschen, die völlig gelähmt waren, können alle Bewegungsabläufe wieder erlernen. Im Gehirn und im Rückenmark – im zentralen Nervensystem – gibt es dagegen keine Regeneration im engeren Sinne, keine Heilung. Vielmehr kommt es zu einer Kompensation ausgefallener Funktionen: Betroffene Schaltkreise bilden Ersatzstrukturen, oder andere Schaltkreise übernehmen die Funktionen zumindest teilweise.
Wie flexibel sind wir kognitiv?
Der kognitive Bereich entwickelt sich viel langsamer als der motorische. Er ist nicht ganz so plastisch und erreicht, wie erwähnt, seinen Höhepunkt im frühen Erwachsenenalter. Aber mit der nötigen Übung kann man kognitiv höchst flexibel bleiben: Mit 70 Jahren ist man ja noch imstande, Chinesisch zu lernen. Allerdings muss man sein Hirn zuvor ausreichend gefordert haben. Wer mental jahrzehntelang anspruchslose Dinge gemacht hat, wird sich schwer damit tun, im Alter eine Sprache zu erlernen. Natürlich kommt auch eine bestimmte Veranlagung hinzu.
Eine der besten Möglichkeiten, Altersdemenz hinauszuschieben – heilen kann man sie ja bisher nicht –, ist eine jahrzehntelang anstrengende geistige Tätigkeit. Am besten schon seit der Jugend. Kombiniert mit Sport, kann man im Mittel den Beginn geistiger Demenz um sechs, sieben Jahre hinauszögern.
Sollte man SO LANGE WIE MÖGLICH weiterarbeiten?
Ja. Doch viele trauen sich schon während ihrer Berufsjahre nichts Neues mehr zu. Dabei verödet nichts den Geist mehr als Stagnation.
Und was ist mit der emotionalen Plastizität?
Die Hirnzentren für Emotionen und Motivationen verlieren ihre neuronale Flexibilität am schnellsten. Erste emotionale Prägungen finden vor der Geburt über das Gehirn der werdenden Mutter statt. Babys und Kleinkinder haben eine gigantische emotionale Fitness: Sie sind höchst empfänglich für die Umwelt, motiviert, ihre Umgebung zu erkunden. Und: Sie können sich emotional auf vielfältige Situationen einstellen – auf neue Menschen oder Lebensumstände. Ihre Persönlichkeit ist veränderbar und kann sich verschiedenen äußeren Rahmenbedingungen anpassen. Doch schon im Schulalter nimmt diese Flexibilität ab.
Mit 14 haben wir unsere Persönlichkeit weitgehend entwickelt, sind emotional recht festgefahren. Die Nervennetze des limbischen Systems – der Ort von Emotionen und Motiven – verlieren bereits in der Jugend erheblich an Plastizität. Freilich können wir uns als Erwachsene kognitiv noch mit allerlei Problemen beschäftigen, lernen, umdenken. Doch die Persönlichkeit ändert sich nur noch in geringerem Maße.
Gibt es Wege, wie man die natürliche Abnahme der geistigen Flexibilität verlangsamen kann?
Dazu gehört zunächst, zu erkennen, ob und wie festgefahren man ist. Man sollte sich etwa fragen, wie viele Gewohnheiten, wie viele Routinen man in seinem Leben etabliert hat. Gewohnheiten sind Ausdruck hoher Stabilität – aber gesunkener Flexibilität. Sie haben eben gute wie schlechte Folgen. Weichen Menschen von ihrem Trott ab, werden sie nicht selten übellaunig.
Lesen Sie das ganze Interview im neuen
GEOkompakt Nr. 44 "Jung im Kopf".