GEO KOMPAKT: Frau Dr. Weichold, Jugendliche gehen mitunter enorme Risiken ein. Weshalb neigen sie häufiger als Menschen anderer Altersgruppen dazu, Grenzen zu überschreiten?
DR. KARINA WEICHOLD: Die eigentliche Pubertät, also der Prozess, der zur körperlichen Geschlechtsreife führt, ist relativ früh abgeschlossen, bei manchen bereits mit zwölf oder 13 Jahren. Das bedeutet: Viele Jugendliche sehen sehr früh sehr erwachsen aus, ihnen wird in diesem Alter aber noch gar keine Erwachsenenrolle zugestanden. Bis sie Verantwortung übernehmen, selbstbestimmt handeln können, vergehen weitere zehn oder 15 Jahre. Diese Lücke zwischen „sich schon wie ein Erwachsener fühlen“ und „noch kein Erwachsener sein dürfen“ führt bisweilen dazu, dass Jugendliche einen übergroßen Drang verspüren, nicht mehr brav und angepasst zu sein. Stattdessen schlagen sie hin und wieder über die Stränge, trinken womöglich mehr Alkohol, als ihnen guttut, verschaffen sich lautstark Gehör, experimentieren mit Drogen. Sie zeigen damit: Schaut her, ich fühle mich alt genug, um all die Dinge zu tun, die sonst nur Erwachsenen zugebilligt werden. Hinzu kommt ein zweiter, biologischer Aspekt: Wir wissen inzwischen, dass im jugendlichen Gehirn bestimmte Reifungsprozesse ablaufen, die die Wahrscheinlichkeit solcher Grenzüberschreitungen noch erhöhen.
Inwiefern?
Das jugendliche Denkorgan befindet sich ja in einem radikalen Umbauprozess, wird auf Effizienz getrimmt. Von den zahllosen Kontakten, die sich während der Kindheit zwischen den Nervenzellen gebildet haben, verschwinden solche, die nur wenig oder gar nicht genutzt werden. Andere dagegen verstärken sich. Dadurch wird das Gehirn leistungsfähiger, Informationen können besser verarbeitet, Reize schneller übertragen werden. Doch diese Umstrukturierungen laufen nicht in allen Regionen des Gehirns gleichzeitig ab. Vor allem der stirnnahe Bereich, der präfrontale Kortex, ist von der Effizienzmaßnahme besonders spät betroffen – der aber ist für planvolles Handeln und Impulskontrolle zuständig. So kommt es, dass Teenager von Natur aus noch nicht so gut in der Lage sind, Affekte zu unterdrücken. Sie lassen sich viel eher von ihren Emotionen leiten, neigen eher dazu, auch mal unvernünftig zu agieren, eine Dummheit zu begehen.
Jugendlicher Leichtsinn hat eine biologische Wurzel.
Durchaus. Die unter Teenagern verbreitete Risikofreude lässt sich zu einem Gutteil auf hirnphysiologische Prozesse zurückführen. Denn das Absterben ungenutzter Nervenzellkontakte führt obendrein dazu, dass während der Jugendzeit weniger stimulierende Reize jenes Gehirnareal erreichen, das Wissenschaftler „Belohnungssystem“ nennen. Die dortigen Nervengeflechte schütten das euphorisierende Hormon Dopamin aus und schüren so unser Verlangen – danach, dass wir positive Erlebnisse wiederholen wollen, uns motiviert fühlen. Das bedeutet: Damit ein Heranwachsender in den Genuss dieses Wohlgefühls kommt, muss sein Gehirn weitaus stärker stimuliert werden als das eines Erwachsenen. Das erklärt, weshalb pubertierende Jugendliche den Nervenkitzel mitunter geradezu suchen. Ein Erwachsener mag schon dann ein Glücksgefühl erleben, wenn er mit Inlineskates auf dem Gehweg fährt. Der Teenager dagegen braucht gewagte Sprünge und gefährliche Manöver, um ähnlich zu empfinden. Riskante Aktivitäten bewerten Jugendliche daher deutlich positiver, nur sie verheißen den gewünschten Kick.
"Sind es vor allem GLEICHALTRIGE, die Jugendliche zu Dummheiten drängen?"
"Ja. Aber sie können ebenso gut ein positives KORREKTIV sein, wenn sie problematisches Verhalten kritisieren"
Spielt auch die Persönlichkeit eine Rolle? Neigen manche eher zum Draufgängertum als andere?
Natürlich sind neben den biologischen Faktoren auch Aspekte der Persönlichkeit entscheidend. So lassen sich Kinder, die schon in jungen Jahren sehr impulsiv sind, eine ausgeprägte Neugier auf alles Unbekannte zeigen, in Jugendjahren eher zu ungestümen Aktionen hinreißen. Nicht selten stammen die Draufgänger aus Elternhäusern, in denen Väter und Mütter selber wenig auf Regeln achten, problematisches Verhalten vorleben, wenig unterstützend, wenig liebevoll sind und kaum etwas über Freundschaften und Freizeit ihrer Sprösslinge wissen. Der größte Risikofaktor bei problematischen Verhaltensweisen in der Jugend sind aber die Gleichaltrigen, die „Peers“.
Was kann geschehen?
Gerade zu Beginn des Jugendalters, wenn die eigene Identität noch nicht gefestigt ist, streben Mädchen und Jungen danach, anderen ähnlich zu sein. Für sie ist ganz entscheidend, von Freunden anerkannt zu werden, Anschluss an eine Gruppe zu finden. Das Bedürfnis, dazuzugehören, mitzuhalten, führt mitunter dazu, dass ein Jugendlicher im Kreise seiner Clique übermäßig viel Alkohol trinkt oder Joints raucht, obwohl er das eigentlich gar nicht mag.
Auch auf das Risikoverhalten haben die Freunde einen gewichtigen Einfluss. Ein Beispiel: Im Rahmen einer Studie sollten jugendliche Probanden realistische Situationen aus dem Straßenverkehr in einem Fahrsimulator nachspielen. Mal waren die Freiwilligen ganz für sich. Mal schauten ihnen andere Jugendliche dabei zu. Das Resultat: Wussten die Teenager, dass sie von anderen beobachtet werden, verhielten sie sich deutlich risikofreudiger als sonst. Sie überfuhren öfter mal eine rote Ampel, bremsten mitunter viel zu spät. Offenbar versprachen sie sich von dem riskanten Verhalten einen Reputationsgewinn bei den Freunden. Diesen Effekt hat man bei Erwachsenen nicht.
Ist es Erwachsenen gleichgültig, wie sie bei Altersgenossen ankommen?
Sicherlich nicht. Aber etwas anderes ist entscheidend: Erwachsene erwarten nicht, dass ihr Ansehen davon abhängt, wie risikofreudig oder draufgängerisch sie sich verhalten. Bei den Jugendlichen ist das anders. Und es lässt sich sogar hirnphysiologisch messen. Während des Experiments haben die Forscher überprüft, welche Areale im Denkorgan der Testpersonen besonders aktiv waren. Und es stellte sich heraus, dass jene Bereiche, die unsere Handlungen mit einer positiven Erwartung verknüpfen, bei den Teenagern weitaus stärker eingebunden waren als bei älteren Versuchsteilnehmern. Das bedeutet: Den Jugendlichen ging es ganz klar nicht nur darum, einen persönlichen Nervenkitzel zu erleben – sie hatten zudem die Erwartung, für ihr riskantes Verhalten eine Belohnung zu erhalten, in diesem Fall die Bestätigung, die Anerkennung durch die Peers.
Für Eltern ein beunruhigender Befund.
In der Gruppe gleichen die Teenager ihr Verhalten, ihre Konsumgewohnheiten in Teilen den anderen an, das ist ganz natürlich. Auch kommt es vor, dass sie sich hin und wieder zu Aktionen hinreißen lassen, die nur dem Zweck dienen, Eindruck bei den Freunden zu hinterlassen. Heranwachsende, die schon in jungen Jahren ein hohes Selbstwertgefühl entwickeln – etwa weil die Eltern ihnen Erfolgserlebnisse ermöglicht haben –, sind in dieser Hinsicht weniger gefährdet. Sie sind souverän genug, dem Druck der Gleichaltrigen auch mal zu widerstehen. Doch zugleich sollte man sich bewusst machen: Eine Clique kann immer auch ein positives Korrektiv darstellen.
Wie meinen Sie das?
In der Jugendzeit schließen Menschen die ersten wirklich engen Freundschaftsbeziehungen. Man versucht, vertrauensvolle, intime Kontakte außerhalb der Familie zu etablieren, die nicht zuletzt als eine Art Spiegel fungieren: Wie komme ich bei den anderen an? Ist mein Verhalten angemessen? Was tut mir gut, was schadet mir? Enge Freunde stiften eben nicht nur zu Dummheiten an. Sie können ebenso zum Ausdruck bringen, dass sie es nicht gutheißen, wenn der beste Kumpel volltrunken in der Öffentlichkeit rumpöbelt, die beste Freundin auf einer Party wahllos mit Fremden flirtet oder einen Joint nach dem anderen raucht. So tragen sie nicht selten dazu bei, dass sich problematische Verhaltensweisen gerade nicht verfestigen.
Ist eine Pubertät ganz ohne Exzesse überhaupt wünschenswert?
Fest steht: Grenzen zu überschreiten gehört zum Jungsein dazu, und bis zu einem gewissen Grad hat das pubertäre Draufgängertum sogar eine entwicklungsfördernde Funktion. Auf ihrem Weg in die Selbstständigkeit müssen Heranwachsende schließlich allerlei Herausforderungen bewältigen: Sie müssen autonom werden, sie sollen lernen, für die eigene Existenz zu sorgen, sie müssen in die Lage kommen, eine partnerschaftliche Beziehung aufzubauen. Und in bestimmten Situationen kann vermeintliches Fehlverhalten wie eine Art Katalysator für den eigenen Entwicklungsprozess wirken. Wer sich betrinkt, kann zum Beispiel Unabhängigkeit vom Elternhaus demonstrieren und treibt damit die Entwicklungsaufgabe „Gewinnen von Autonomie gegenüber den Erziehungsberechtigten“ voran.
Das ganze Interview finden Sie in
GEOkompakt Nr. 45 "Pubertät".