Lesen Sie einen Auszug aus der neuen Ausgabe von GEOkompakt zum Thema "Das Rätsel Zeit":
Mein Beruf besteht darin, mir etwas einfallen zu lassen. Ich schreibe Kolumnen, Romane und Reportagen, meistens darf ich frei darüber entscheiden, worüber ich schreibe und wie ich es mache. Es sollte, nach Möglichkeit, originell sein, oder zumindest unterhaltsam. Es macht viel Arbeit. Auf diese Weise bin ich zu einem Experten für Nichtstun und Müßiggang geworden.
Wer nach einer Idee sucht, der lässt den Geist am besten treiben, wie ein Stück Treibholz. Das weiß, so behaupte ich, jeder sogenannte Kreative, egal ob Werber oder Künstler oder Manager. Manche gehen spazieren, andere spülen das Geschirr, wieder andere sitzen im Café und lesen, ziellos, in der Zeitung. Jeder hat seine Rezepte. Ist das Arbeit? Nennen Sie es, wie Sie wollen. Nennen Sie es ruhig Langeweile.
Kein Mensch, behaupte ich, kann aus einer anstrengenden Konferenz herauskommen oder den Telefonhörer mal eben kurz weglegen und dann etwas wirklich Kreatives zustande bringen, außer vielleicht, es handelt sich um ein Genie.
Der Musiker John Lennon steht vielleicht bei manchen im Verdacht, ein Genie gewesen zu sein. Er war sehr produktiv und ein großer Anhänger des Nichtstuns. In seinem Song „Watching the Wheels“ heißt es: „Die Leute sagen, ich sei faul. Ich sitze hier bloß herum und schaue zu, wie die Räder sich drehen.“
Die Erfolge von Homo sapiens fußen auch auf Faulheit
Die Geschichte der Menschheit, diese Erfolgsgeschichte, stellen wir uns oft als das Ergebnis von Arbeit, Fleiß und Mühe vor. Das stimmt, allerdings nur zum Teil. Die Erfolge unserer Gattung sind genauso das Ergebnis von Träumerei, von Muße und Faulheit. Unser Geist kann fliegen, oh ja. Da oben, in der Luft, sind die Erfindungen, die Geschichten, die nie gedachten Gedanken. Damit der Geist abheben kann, muss der Wind wehen. Der Wind aber weht nur auf einer leeren, freien Fläche.
Das alles glaube ich zu wissen, aus Erfahrung, aber es scheint auch eine wissenschaftliche Erklärung dafür zu geben. Marcus Raichle, ein Hirnforscher aus den USA, hat 1998 etwas entdeckt, was er „default network“ nannte, das Leerlaufnetzwerk des Gehirns. Bestimmte Hirnregionen werden nur dann richtig aktiv, wenn wir, wie wir glauben, an gar nichts denken oder, wie ich es nenne, völlig entspannt herumhängen.
Wir können offenbar denken, ohne es zu merken. Es handelt sich dabei um besonders gut durchblutete Hirnregionen, und sie arbeiten auch dann, wenn wir träumen. Während dieser Zeit befasst das Gehirn sich ganz mit sich selber, es nimmt keine oder nur wenige Reize von außen auf.
Möglicherweise kann man diesen Vorgang mit dem Defragmentieren eines Computers vergleichen, wenn die Daten auf der Festplatte neu geordnet werden. Jeder Computer geht kaputt, wenn er sich nicht von Zeit zu Zeit mit sich selbst beschäftigen darf.
In Momenten des Nichtstuns knüpft das Gehirn neue Verbindungen
„Das Gehirn geht in sich selbst spazieren“ – mit diesem schönen Satz zitiert der Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel den Wissenschaftler Wolf Singer. Schnabel, der ein Buch namens „Muße“ geschrieben hat, glaubt, unter Berufung auf Hirnforscher wie Singer und Kai Vogeley, dass wir beim Nichtstun hinabtauchen in unser inneres Wissen, das aus längst versunkenen Kindheitserinnerungen, Unbewusstem und halb Vergessenem besteht: ein Schatz, der uns nur in den Momenten des verträumten Nichtstuns zur Verfügung steht.
Das Gehirn schafft, in solchen glücklichen Momenten, neue Verknüpfungen. Vielleicht verknüpft es ja eine alte Idee aus unserer Schulzeit mit einem Satz aus einem Buch, das wir längst vergessen hatten, und einem Gesprächsfetzen aus der vergangenen Woche zu einem Geistesblitz, zu einer Problemlösung. Jeder kennt das. Man hat einen Namen vergessen. Man martert das Gedächtnis, ohne Ergebnis. Zwei Stunden später spuckt das Gehirn den Namen aus, einfach so. Man muss das Gehirn nur in Ruhe lassen.
Aber ich will die Langeweile nicht nur deshalb preisen, weil sie nützlich ist und weil sie in Wirklichkeit eben auch eine Art Arbeitszeit darstellt, zumindest für Schreiber wie mich. Langeweile ist auch ein Selbstzweck. Langeweile ist ein Akt der Selbstverteidigung, sie schützt vor Überforderung.
Den vollständigen Text können Sie in der neuen Ausgabe von GEOkompakt zum Thema "Das Rätsel Zeit" nachlesen.