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Die Inseln der Begabung

Der Amerikaner George Widener ist Autist - und zugleich superbegabt. Erst als er Künstler wurde, fand er seinen Weg im Leben.

Ein Datum, sagt George Widener, ist ein Ding mit vier Variablen, sie heißen Tag, Monat, Jahr, Wochentag. Eine wunderschöne Erfahrung, sagt er, die Symmetrie der Zahlenfolgen zu spüren, fast wie eine Droge. Doch wer diese Erfahrung machen will, muss dafür einen Preis zahlen.

Am 24. 6. 2011, einem Freitag, steht der Kalenderexperte George Widener an einer Straßenkreuzung in Manhattan und leidet unter dem Chaos der Gegenwart.

Ihre Zumutungen überfluten seine Sinne an diesem Tag, dem 18 033. seines Lebens. New York City ist ein Brodeln aus Menschen und Autos und Häusern, in denen noch mehr Menschen und Autos gestapelt sind. Eine Baustelle drückt Presslufthammerlärm direkt ins Hirn, das bedeutet Qualen auch für jemanden, der nicht so ist wie George Widener. Aus seinem massigen, bärenhaften Körper dringt nichts nach außen. Aber er leidet. Alles hier zu laut, zu schnell, zu viel.

Dann sieht er dieses Nummernschild. ALY-2132. Nur eine Zahlenkombination, Widener weiß das, aber er springt sofort darauf an. Er schließt die Augen, sein Oberkörper gerät ins Pendeln. Er blickt in sich hinein. AL könnte für April stehen, Y ist der 25. Buchstabe des Alphabets. 25. 4. 2132 – natürlich, ein Freitag. Er spürt das einfach so. Schnell, noch ein Auto: 94V-B65. Also 9 für September, 4 für den Tag, 65 für 1965, das Datum lautet 4. 9. 1965 – ein Samstag. Ein Freitag, dem ein Samstag folgt, die Welt ist voller Wunder.

Widener setzt dem Chaos der Welt eine innere Struktur entgegen

George Widener läuft weiter durch die Stadt und sammelt Wochentage. Jeder einzelne schenkt ihm ein Erfolgserlebnis, eine Beruhigung wie bei einer Meditation. In ihm schweben Zahlen und Daten; er setzt dem Chaos der Welt eine innere Struktur entgegen.

Ein Truck dröhnt vorbei, Telefon 293-6016. Die 9 für September, die 3 für den Tag: 3. 9. 6016 – ein Samstag.

„Shit, schon wieder ein Samstag“, murmelt Widener, und sein Spiel gewinnt an Ernst. Die Hausnummer der Zeugen Jehovas bringt einen Montag, ein Straßenschild ruft einen Mittwoch hervor. Nur ein Sonntag will sich nicht einstellen. Wo bleibt ein Sonntag?

Menschen wie George Widener, die Genies sind, aber zugleich ein mentales Handicap haben, werden von Forscher "Savants" genannt, Wissende. Wideners Talent, aus der Welt der Zahlen ungewöhnliche Kunstwerke zu schaffen, hat der Fotograf David Klammer in dieser Mehrfachbelichtung in Szene gesetzt
Menschen wie George Widener, die Genies sind, aber zugleich ein mentales Handicap haben, werden von Forscher "Savants" genannt, Wissende. Wideners Talent, aus der Welt der Zahlen ungewöhnliche Kunstwerke zu schaffen, hat der Fotograf David Klammer in dieser Mehrfachbelichtung in Szene gesetzt
© David Klammer für GEOkompakt
Widener entwirft Kunstwerke voller Zahlen und Daten historischer Ereignisse; verschlüsselte Botschaften, die - wie der Amerikaner hofft - in ferner Zukunft intelligente Maschinen verstehen werden
Widener entwirft Kunstwerke voller Zahlen und Daten historischer Ereignisse; verschlüsselte Botschaften, die - wie der Amerikaner hofft - in ferner Zukunft intelligente Maschinen verstehen werden
© David Klammer für GEOkompakt

Man kann so immer weitermachen. Kann das Spielen mit dem Gedankenkalender genießen, bis nur der echt zu sein scheint und die Wirklichkeit eine Traumwelt. George Widener war schon oft an diesem Punkt. Aber nun steht er vor einem renovierten Lagerhaus aus Backstein. Er hält kurz inne, schüttelt sich dann den Kopf frei und tritt hinein. Man erwartet ihn schon.

Widener hat Glück gehabt. Er hat einen Weg gefunden, seine Begabung zu gebrauchen, ohne der Welt verloren zu gehen.

Geboren wurde George Widener am 8. 2. 1962, einem Donnerstag. Wer ihn zum ersten Mal sieht, mit seinen verzottelten Haaren, der Brille, den Jeans und bunten Turnschuhen, denkt an einen Computer-Nerd. Und ahnt nicht, dass in den Gegensätzen das Wesen dieses Mannes liegt. Dieses Experten für Zahlen und Fakten, der für seine Kreativität gefeiert wird.

Der mal obdachlos war und nun einen deutschen Sportwagen fährt. Der etwas Pures, Sanftes, zur Lüge Unbegabtes in sich trägt, den das Redenmüssen martert; der sich aber dennoch einer Welt aussetzt, die ihm Angst bereitet. Wenn Fremde ihn fragen, wer er denn sei, antwortet er nur: „Ich bin ein high-functioning Kalender-Savant.“ Und schnell, damit das Gespräch nicht ins Unvorhersehbare abgleitet, fragt er sie nach ihrem Geburtstag.

22. Oktober 1976 – „Das war ein Freitag.“ 11. Mai 1956 – „Ein Schaltjahr. Der 11. Mai war ein Freitag. Salvador Dalí: 11. Mai 1904.“

Tests haben ergeben, dass er ein Talent besitzt, das unheimlich wirkt in seiner Präzision. Gefragt nach Daten aus den Jahren 1828 bis 1836 und 2017 bis 2024, nannte Widener in 92 Prozent der Fälle den korrekten Wochentag. Für die Jahre 2363 bis 8378 lag er zu 96 Prozent richtig. Es zeigte sich, dass George Widener den Gregorianischen wie den Julianischen Kalender so intuitiv beherrscht, als spiele er Musikinstrumente.

Unter zehn Savants finden sich bis zu sieben Autisten

Das Savant-Syndrom wurde erstmals umfassend beschrieben von Dr. J. Langdon Down, London, 22. 1. 1887. Der Psychiater staunte über Patienten, die, „obwohl im Geiste schwach, spezielle Begabungen aufweisen, welche sie in hohem Maße ausbauen können“. Beispiele: Einer lernte das Werk „Verfall und Untergang des Römischen Reiches“ auswendig, Wort für Wort, ohne im Geringsten zu begreifen, was da stand.

Ein anderer konnte als Zehnjähriger noch nicht richtig laufen und landete bald darauf im Irrenhaus, Schulbesuch zwecklos. Doch als ihm eine Aufgabe gestellt wurde („Wenn die Summe aus x + y = 707 353 209 ist, x und y Ganzzahlen sind und y vierstellig ist, wie lauten dann x und y?), war seine Antwort, nach 28 Sekunden: 8913 und 5238. Sie war korrekt.

Dr. Langdon Down, der Psychiater, der auch die nach ihm benannte Behinderung zum ersten Mal beschrieb, nannte diese Menschen „idiot savants“, Idiotengelehrte. Deutsche kennen ein schöneres Wort: „Inselbegabung“. Der Savant, umgeben von einem Meer der Hilflosigkeit, baut sein eigenes Zuhause, ein Robinson Crusoe des Denkens.

George Widener ist Asperger-Autist: ein Mensch mit gewöhnlichem Sprachvermögen und normaler Intelligenz, aber einem inneren Erleben, so sehr vom Gefühl der Fremdheit, Andersartigkeit und Bedrohung durch Unordnung bestimmt, dass es zur Störung des Sozialverhaltens führt. Was andere täglich meistern, ohne darüber nachzudenken, erscheint ihm als kaum zu überwindendes Hindernis. Das geduldige Warten im Supermarkt etwa oder der Besuch einer Party.

Weshalb müssen Menschen mit Bierflaschen in der Hand herumstehen und Lärm erzeugen? Unter zehn Savants finden sich bis zu sieben Autisten, auch solche wie George Widener, deren mentales Handicap relativ schwach ausfällt. Wideners Lieblingswort ist „high-functioning“, seine Quelle des Stolzes.

Savant-Talente entfalten sich wie von einer Software gesteuert

Downs Definition aber hat Bestand: Savant = geistige Behinderung + geistige Begabung. Das Unvollendete und das Übervollkommene in einer Person. Savants sind fast immer auf den gleichen Gebieten hochbegabt: in der Musik (meist Klavierspiel), der Kunst (meist Malen oder Zeichnen), dem computerhaften Rechnen oder Auswendiglernen von Fakten – und dem Kalenderrechnen. Vor allem dieses Jonglieren mit der Zeit ist unter ihnen verbreitet, doch fast keiner ist dabei so virtuos wie George Widener. Er zählt zu den Ausnahmetalenten. Kaum 100 sind bekannt. Sie sind, aus medizinisch-psychologischer Sicht, Weltwunder.

Die "Titanic" sank an einem Montag, die Welt erfuhr es am Tag darauf. In dem Bild "Totenfeier für die Titanic" schrieb Widener alle 36400 Dienstage zwischen 1912 und 2612 nieder
Die "Titanic" sank an einem Montag, die Welt erfuhr es am Tag darauf. In dem Bild "Totenfeier für die Titanic" schrieb Widener alle 36400 Dienstage zwischen 1912 und 2612 nieder
© Courtesy Ricco/Maresca Gallery, NY
"Megalopolis": In der oberen Hälfte des Werkes, über den Kalendern und Pfeilen, liegt das Panorama einer symmetrisch angelegten Riesenstadt
"Megalopolis": In der oberen Hälfte des Werkes, über den Kalendern und Pfeilen, liegt das Panorama einer symmetrisch angelegten Riesenstadt
© Courtesy Ricco/Maresca Gallery, NY

Andere berühmte Ausnahmetalente sind der Zeichner Stephen Wiltshire, der Pianist Leslie Lemke und Kim Peek, Vorbild für den Hollywoodfilm „Rain Man“. Der Autist Wiltshire kopierte nach einem Rundflug über London die gesamte Skyline der Stadt in ein Panoramabild, vier Meter lang, mit feinsten Details, Dächern, Bäumen, Booten. Er benötigte dafür fünf Tage, drei Bleistifte und elf Schreibfedern. Der Rundflug hatte 15 Minuten gedauert.

Leslie Lemke, blind, Hirnschaden durch Frühgeburt, IQ 58, spielt jede Musik, die er hört, auf dem Klavier nach. Auch parallel, also während er das Stück hört, als wäre er eine Art Simultandolmetscher der Musik. Kim Peek (1951–2009), geboren fast ohne Verbindung zwischen linker und rechter Hirnhälfte, galt im Alter von neun Monaten als geistig behindert.

Mit 16 Monaten lernte er erste Bücher auswendig. Er verfügte am Ende seines Lebens über Zugriff auf den kompletten Inhalt von mehr als 12 000 Büchern und wurde außerdem als lebendes GPS-System berühmt, weil er sämtliche Karten der USA und Kanadas im Kopf hatte. Er las und memorierte zwei Buchseiten parallel, eine mit dem linken und eine mit dem rechten Auge.

Ausgehend von solchen Fällen, in denen Talente sich entfalten wie von einer inneren Software gesteuert, sehen Hirnforscher im Savant den Schlüssel zum Verstehen dessen, was wir Kreativität nennen.

Seinen ersten Kalender sieht Widener bei der Großmutter im Hausflur, da ist er sechs Jahre alt. Ein Werbegeschenk von Begley’s Apotheke: das Foto einer Farmidylle, darunter der Balken mit der Zahlenreihe. Das Kind empfindet Glück; wie beim Auftauchen eines Zwillings, von dem man geahnt hat, dass er existiert. Hier hängt das Fenster in eine Welt, die George seltsam vertraut ist, ohne dass er weiß, wie und warum und seit wann.

Eine Heimat im Denken, die er dringend nötig hat. Er hat früh Symptome der Flucht gezeigt. Die Welt ist so unaufgeräumt. George erträgt seine Spielzeugautos nur, wenn die in ganz bestimmter Reihenfolge auf dem Zimmerboden parken. Jedes Detail kann schmerzen in seiner Prägnanz: die unregelmäßig verwitterte Rinde auf einem Baum; die Nummer 8 auf einer Telefonscheibe, die wie ein Knoten aussieht. Und ein Gespräch zu führen heißt für ihn, exakt nachzusprechen, was der andere sagt.

Der Vater stirbt früh. Die Mutter wird daraufhin zur Säuferin. Sie hat fünf Kinder von fünf Männern. George wächst bei der Großmutter auf. Er steht auf der Straße und zeichnet Autos, überträgt die Wirklichkeit wie ein Fotograf in neue Aggregatzustände, von einer Menge schweigend staunender Zehnjähriger umringt. Die Schule ist eine Qual; wenigstens kann er dort Kalender klauen. Seine Talente nimmt er hin, ihre Herkunft ist ihm unbekannt. Er denkt nicht darüber nach.

Am liebsten möchte er weg, meldet sich zur US Army. Dienstantritt 11. 11. 1980. Man testet sein Denken und entdeckt eine überragende Begabung. Er kommt nach Deutschland, zur 26. Aufklärungsgruppe des Tactical Air Command in Zweibrücken. Dort steht eine Spionagemaschine auf dem Rollfeld: die SR-71, der „Blackbird“. Sie fliegt mit Mach 3+ über Feindesland und macht Infrarotaufnahmen. George Widener entnimmt ihr die Filme. Dann vertieft er sich in Fotos von Militärflughäfen und Spionagesendern in der DDR. Er interpretiert Schattenmuster in Schwarz-Weiß. Um 16.30 Uhr geht er jeden Tag in die Kantine. Keine Minute früher oder später.

George droht an der Welt zu scheitern, dann entdeckt er die Kunst

Ehrenhafte Entlassung am 10. 11. 1984. Ingenieursstudium in Texas. Abbruch wegen Armut und psychischem Stress. Obdachlosenheim. Gelegenheitsjobs. Neuanfänge. Frustration. Selbstgespräche. Umschmeißen von Mülleimern. Einweisung. Zwangsjacke. Medikation. Beruhigung durch Zeichnen. Entlassung nach sechs Monaten. Rückkehr auf die Straße. Trips nach Europa und zurück. Diagnosen, die sich abwechseln wie Jahreszeiten: psychotisch, schizoid, antisozial, manischdepressiv.

Er haust in Asylen und als Hausbesetzer in Amsterdam, verloren in Kalenderspielen, die nur er versteht. Stets hat er seine Notizbücher dabei: blasse Kladden, verstärkt mit Paketband – Bilanzen eines Kaufmanns, der mit Zeit handelt. Jedes Jahr von 1000 bis 10 000 trägt darin einen Code, der irgendwie die Eigenart des Jahres verrät; Widener kann das nicht in Worte fassen.

Er sammelt auch historische Fakten. 29. 6. 1967: Keith Richards wegen Drogenbesitzes abgeurteilt. 29. 6. 1613: Globe Theatre in London, Shakespeares Wirkungsstätte, abgebrannt. Man blättert durch Abertausende Seiten mit der engen, nach rechts drängenden Schrift und überlegt, welche Begabungen in unseren Obdachlosenasylen und psychiatrischen Kliniken wohl noch zu finden sind.

Am Montag, 5. 11. 2000, wird George Widener wegen Geldmangels und Obdachlosigkeit auf Staatskosten von Amsterdam nach Boston geflogen und dort erneut untersucht. Erst jetzt erkennen Ärzte, dass er ein Asperger-Autist ist. Aber das allein ist nicht seine Rettung. Sondern die Idee, die Widener zu dieser Zeit überfällt.

Man müsste die Datenschätze aus seinen Notizbüchern heben, überlegt er sich. Also den Verlauf der Zeit sowie das Denken darüber visualisieren, als neue Darstellungsform. Als neue Kunst. Er geht ans Werk, ohne daran zu denken, ob irgendjemand damit etwas anfangen kann. Ein Restaurantbesitzer schenkt ihm einen Packen Servietten, die färbt er mit Kaffee und Öl. Er stöbert eine Leinenrolle im Abfall auf. Dies werden seine Materialien sein.

George Widener: “Megalopolis 8”
George Widener: “Megalopolis 8”
© Courtesy Galerie Susanne Zander, Köln
George Widener: "I Was Born"
George Widener: "I Was Born"
© Courtesy Ricco/Maresca Gallery, NY

Die Leinwände füllt er mit Zahlen: Daten, Kalendersysteme, Verweise auf historische Ereignisse; angeordnet in Kreisen, Listen oder magischen Quadraten, unterlegt mit Darstellungen von Megastädten, versehen mit Kommentaren. Etwa „Friday“, eine Auflistung Hunderter Freitage, manche verbunden durch Pfeile, die etwa vom „1. Januar 2049“ zum „1. Januar 9402“ führen. Zwei verwandte Freitage, nur die Jahre invertiert – Widener hat das herausgefunden und hält es nun auf Papier fest.

Ein Kunsthändler entdeckt seine Werke, verkauft erste Bilder. Die Anerkennung tut ihm gut, und er beschließt, „sozialer“ zu werden. Er hört auf, wie früher vor dem Einschlafen Bevölkerungsstatistiken zu lesen. Zwingt sich ganz bewusst, dem Löschen einer Festplatte ähnlich, historische Daten und die Einwohnerzahlen aller Städte Amerikas zu vergessen. So schafft er ein wenig Platz für Begegnungen mit echten Menschen.

Mühsam bringt er sich den Umgang mit anderen bei, lernt, was ein spöttisches Lachen bedeutet oder eine hochgezogene Augenbraue; worüber man mit Fremden spricht und worüber eher nicht; wie Small Talk funktioniert. Er lernt sozialen Umgang wie eine Fremdsprache und wird so high-functioning. Aber das Kalenderrechnen, dies fühlt er, wird ihm immer bleiben.

Seine Bilder kosten jetzt schon 40 000 Dollar und mehr

Auf dem Kunstmarkt nehme das Interesse an George gerade zu, sagen Roger Ricco und Frank Maresca, seine Galeristen, die er am 24. 6. 2011 in einem renovierten Lagerhaus in New York trifft und die dort seine Bilder verkaufen – für 40 000 Dollar und mehr. Seine Gemälde scheinen von einem fernen Ort zu stammen. Alles an ihnen wirkt seltsam korrekt, als wären es Baupläne einer in sich geschlossenen Welt mit eigenen Regeln. Man möchte wissen, wie es an jenem Ort aussehen mag – und ob dort etwas zu erfahren ist darüber, wie Gehirne arbeiten; welche Begabungen und Schöpferkräfte in uns Menschen schlummern.

Am Tag darauf fliegt George Widener nach Wisconsin. Im „Kohler Arts Center“ der Stadt Sheboygan wird eine Gruppenausstellung zum Thema „Erinnerung in den Künsten“ eröffnet. 14 seiner Werke hängen dort. Wäre er allein gereist, wäre er wahrscheinlich schon frühmorgens zum Airport gefahren – denn dann herrscht da noch Leere, und man hat seine Ruhe.

Flughäfen sind für ihn begehbare Apparaturen mit Bildschirmen voller Zahlen. Er hat mal eine Woche lang auf einem gelebt, in London. Diesmal fährt jemand von der Galerie mit: Elenore, halb Managerin und halb Betreuerin. Sie und andere helfen Widener durch die Welt und zu den Menschen, seit man ihn als Künstler feiert.

Im Flugzeug studiert er einen Artikel über die Erfindung des Telefons. Gelandet in Wisconsin, zieht er sich ins Hotel zurück, während Elenore im Supermarkt ein Herrenhemd sucht. Als Widener dann das Kohler Arts Center betritt, trägt er Karo-Freizeitgarderobe und steuert mit seinem starren Schlurfen, die Arme pendelnd, durch helle Säle gleich auf seine Bilder zu. Die Künstler stellen ihre Arbeiten selbst vor. Einen Moment lang blickt Widener wie ein Fremder auf seine „Totenfeier für die ‚Titanic‘“: Das habe ich geschaffen.

Katastrophen faszinieren ihn – die blinde Herrschaft des Zufalls, die er, als Ordner und Verwalter, in ein System überführen kann. Vor allem die „Titanic“; mit der ging einst sein Urgroßonkel unter, auch der hieß George Widener. Natürlich hat er alle Details im Kopf: 40 000 Tonnen Leergewicht. 36 000 Äpfel an Bord, 20 000 Flaschen Bier. 650 Tonnen Kohle pro Tag verbraucht. Gesunken am Montag, 15. 4. 1912. Die Welt erfuhr es am Dienstag. Etwa 700 Überlebende.

700 Jahre Trauern, dachte George Widener. Und entfaltete aus dieser Assoziation ein Werk: Begann, ein Stück Reispapier mit ameisenkleiner Schrift zu füllen: „23. Apr., 30. April, 7. Mai ...“, schrieb immer neue Papiere voll, über ein Dutzend insgesamt, und am Ende, als sie sich zu einem Bild zusammenfügten, hatte er sämtliche Dienstage der Jahre 1912 bis 2612 festgehalten: 36 400 Gedenktage auf einer Fläche von 1,75 mal 1,20 Meter. Zwischen ihnen erhebt sich, ein Gespensterschatten, die Silhouette des Schiffs.

Vor dem düsteren Bild stehend, empfindet man Trauer wie Trost. Dieser Ozean mit seinen Planktonteilchen der Daten und Informationen bringt Lebendiges hervor: Gefühle. Eine Besucherin tritt heran. Small Talk über Formen, Muster, Materialien. Widener reibt seine Arme und ist halb stolz und halb nervös. Da hängt „Megalopolis 789“, ein buntes, lautes Sammelsurium, dem man entnehmen kann, dass der 7. 6. 1771 auf einen Freitag fiel und der 7. 6. 7117 auf einen Donnerstag fallen wird. Der 8. 6. 1881 auf einen Mittwoch, genau wie der 8. 6. 8118. Der 9. 6. 1991 auf einen Sonntag ... In der oberen Hälfte des Werkes, über den Kalendern und Pfeilen, liegt das Panorama einer symmetrisch angelegten Riesenstadt.

Was das denn eigentlich solle, fragt die Frau höflich. George Widener spürt die Pflicht zur Aufklärung. „Ich mache Werke für die Zukunft ... Für intelligente Maschinen ... Sie werden meine Kalender betrachten, als eine Art Unterhaltungsprogramm für sie ... Mit diesem Bild möchte ich die Maschinen zum Nachdenken über Architektur ermuntern.“

Die Frau blickt verständnisvoll – und wechselt dann das Thema. Nun ist Widener irritiert. Offenbar weiß die Vernissagebesucherin nicht, dass die Weltgeschichte auf den Zeitpunkt zueilt, an dem die Computer eines Tages erwachen werden. Das jedenfalls ist die These eines Forschers namens Ray Kurzweil. Der blickt, unter anderem von der NASA gefördert, mittels Hochrechnungen in die Zukunft. 2045, sagt Kurzweil, sei es so weit: Dann werde die Intelligenz aller Computer die der Menschen so weit übertreffen, dass sich neue Formen des Bewusstseins bilden können und das Denken der Maschinen die Gesellschaft prägen wird.

Das Jahr 2045 hält George Wideners Denken gefangen. Seine Bilder sind Gesprächsangebote an die Maschinen der kommenden Tage. Manche Kalendermuster darin, sagt er, gründeten auf Algorithmen, so komplex, dass kein Mensch sie erfassen könne. Er lässt Leerstellen in seinen Bildern, damit die Maschinen dereinst ein wenig rätseln werden, und er mischt Fehler ein, einen Mittwoch statt eines Dienstags im November 4421, damit es für sie auch etwas zu lachen gibt.

Widener möchte sich selbst verstehen

Später an diesem Abend trifft George auf einen gütig lächelnden Mann von fast 80 Jahren. Die beiden blicken kurz und fast scheu aufeinander. Jeder hat gewusst, dass der andere auf ihn warten würde. Dann sagt Darold Treffert, weltweit führender Erforscher des Savant-Syndroms: „Hallo, George. Endlich treffen wir uns. Bisher habe ich ja nur von Ihnen gelesen. Ich habe schon so lange das Gefühl, Sie zu kennen.“ Beide hoffen auf Einsichten. Treffert möchte das Savant-Syndrom verstehen. Widener sich selbst.

Man kann Kalenderrechnen lernen, ohne ein Savant zu sein. Denn Kalender haben Regeln: Der Gregorianische Kalender wiederholt sich im Prinzip alle 28 Jahre. In bestimmten Monaten, etwa im Juli und April, fallen Daten stets auf den gleichen Wochentag, und von einem Jahr zum nächsten „springen“ die Wochentage um jeweils einen Tag voran. Hinzu kommen Extraregeln für Schaltjahre. Wer also einige feste „Ankerdaten“ auswendig lernt, kann von ihnen mittels dieser Regeln nach vorn oder zurückkalkulieren; wie ein mühsames, langsames Stammeln.

George Widener: “Time Machine”
George Widener: “Time Machine”
© Courtesy Galerie Susanne Zander, Köln
George Widener: “Typewriter”
George Widener: “Typewriter”
© Courtesy Galerie Susanne Zander, Köln

Widener aber arbeitet flüssiger, extrem viel schneller und genauer. Er rechnet nicht, er „sieht“ sofort die Lösung, als stehe sie irgendwo auf einem Schild geschrieben. Sein Kalenderdenken muss grundlegend anders funktionieren. Er geht mit Darold Treffert in den Museumsgarten. Ahornbäume, Kaffee, Ruhe. Fragt den Forscher: „Dr. Treffert ... also ... ich wollte Sie fragen: diese Theorie, das jedes Genie ein Savant ist ... was halten Sie davon?“

„Ich zweifle daran, George. Ich kenne diese Mode, in großen Männern den Autisten zu sehen oder eben den Savant. Aber so etwas wie ‚Genie‘ kann auch allein für sich existieren. Völlig frei von den Behinderungen, die Savants ertragen müssen.“

Beide Männer stellen Fragen und suchen Antworten. Sie umkreisen ein großes, dunkles Geheimnis: Weshalb fehlt dem Savant ein Teil dessen, was Menschsein bedeutet, wo er doch einige der wundersamsten Kulturleistungen erbringt, zu denen Menschen fähig sind?

Widener hält die Augen geschlossen. Die Hemmung raubt ihm den Mut, sie zu öffnen. Die Hände kämpfen gegen unsichtbare Gegner. Er spricht aus verstockter, autistischer Tiefe heraus.

Das Savant-Syndrom und der Autismus sind verwandt – jene Entwicklungsstörung, die zum Umbau der Hirnstruktur führt. Unser Denkorgan ähnelt der Zentrale eines Großkonzerns in einem Hochhaus. Hier gibt es, verteilt über die Etagen, viele Abteilungen; unzählige Informationen fließen aus der Außenwelt in das Hochhaus und dort zwischen den Abteilungen umher, aber der Konzern bleibt handlungsfähig. Schließlich liegt oben die Chefetage. Dort wird Wichtiges von Unwichtigem getrennt, gefiltert und aussortiert, verwandeln sich die Datenmassen in abstrakte Pläne, Strategien und Prioritäten.

Im Gehirn übernimmt der Frontallappen nahe der Stirn diese wichtige Filterfunktion. Und genau hier ist das Hirn des Autisten offenbar geschädigt (wodurch genau, bleibt rätselhaft; da es aber unter Autisten wie Savants eine zahlenmäßige Dominanz der Männer gibt, kommt das Hormon Testosteron infrage). Deshalb wohl weiß so jemand nicht umzugehen mit all den Sinnesdaten, die auf ihn einprasseln, und kapituliert vor dieser Überforderung, wie vor einem Actionfilm, der rasend schnell und viel zu laut abläuft.

Das Gedächtnis eines Autisten klebt an den Fakten

Dabei mangelt es dem Autisten nicht an Nervenzellen. Im Gegenteil: Er kommt zwar mit einem besonders kleinen Hirn zur Welt, aber im Alter von einem Jahr beginnt es zu wachsen, wird immer größer, viel größer als normal, weil Nervenzellen wahllos sprießen wie in einem Urwald. Nur verknüpfen diese Zellen sich offenbar lediglich „lokal“, innerhalb einzelner Hirnregionen, und bilden keine Verbindungswege zum Frontallappen. Es ist, als würden die Abteilungen des Großkonzerns wahllos Datenwust produzieren, ohne zu wissen, was um sie herum geschieht, ohne Kontrolle oder Filter.

Folge: Das Hirn des Autisten ist wie geschaffen für die Obsession mit einem abgegrenzten Spezialgebiet, in dem Daten gesammelt und verarbeitet werden, über die der Autist Kontrolle erlangen kann. Ihm ist alles konkret, buchstäblich. Er sieht große Tiere als Hunde und kleine als Katzen und ist überfordert, wenn er einen kleinen Hund trifft. Abstraktion fällt ihm schwer; Begriffe wie „Kapitalismus“ oder „Moral“ ergeben für ihn keinen Sinn. Sein Gedächtnis klebt gleichsam an den Fakten, wie eine Internet-Suchmaschine.

So wird der Autist zum Kenner der kleinen Dinge: zum Beispiel eines Wasserhahns und dessen Tropfen, die er stundenlang beobachten kann. Leidend unter dem Chaos der Welt, unfähig zur Kontaktaufnahme, verschafft ihm sein Expertentum Befriedigung, er wird besser und besser, weil ihm Strategien, die zum Erfolg führen, mehr oder weniger natürlich zufallen: Besessenheit von Details; das Suchen nach Regeln und Strukturen; selbstvergessene Hingabe. Der Schritt zum Savant ist nun kurz. Er hat mit der Fähigkeit des Hirns zu tun, beim Ausfall eines Areals ein anderes als Ersatz zu rekrutieren. Forscher streiten noch darüber, aber offenbar geht es darum, wie das Gehirn auf die Schäden im Frontallappen reagiert – welche Areale neu belegt werden, wie und wofür.

Widener, dies zeigen Aufnahmen seines Gehirns, nutzt beim Kalenderrechnen nur wenig jene beschädigte Region, in der sich die Denkprozesse im Tageslicht des Bewusstseins abspielen. Sondern eher Areale weiter hinten, die mehr für Sinneseindrücke und Motorik zuständig sind – für halbbewusstes Gewohnheitstun, etwa das Autofahren. Und tatsächlich: So wie ein geübter Fahrer eine Straße, so fühlt und „sieht“ er Tage und Jahre.

Hirnbilder des in seine Kalenderspiele versunkenen Widener ähneln im Farbmuster verblüffend Aufnahmen, die entstehen, wenn er spricht. Die Neurowissenschaftlerin Joy Hirsch von der Columbia University erklärt: „Sein Gehirn verfügt über spezielle Verdrahtungen zum Kommunizieren. Und Kalenderrechnen ist ja nichts anderes, als sich etwas Abstraktes symbolhaft vorzustellen. Eine zutiefst linguistische Tätigkeit.“

Anders gesagt: Aus Wideners Kalenderkunst spricht ihr Schöpfer. Mit ihr teilt er sich mit. Ein Gestrandeter auf einer unsagbar einsamen Insel, der Rauch aufsteigen lässt, um zu rufen: Hier bin ich.

Darold Treffert ist fast so etwas wie ein Klassenlehrer der knapp 100 besonders begabten Savants. Er kennt die meisten dieser Ausnahmetalente; oft schon seit Jahrzehnten. Als er sich im Museum von George verabschiedet, ist Treffert halb enttäuscht und sieht sich doch bestätigt. Er hatte gehofft, Widener könnte ihm erklären, was – und ob – er denkt, wenn er etwa innerhalb von Sekunden aufruft, wann in den nächsten 100 Jahren Ostern auf den 23. 3. fallen wird.

Aber George erzählt nicht vom Glück des Lernens, Verstehens, Besserwerdens, Kalkulierens.

Er nimmt es hin, dass sein Kalenderwissen einfach da ist, schon immer; wundert sich darüber

so wenig wie über die Existenz seiner Arme. Treffert macht diese Beobachtung ständig, gerade bei den besonders Begabten.

Ein Ausnahmetalent wie Widener stellt die höchste Steigerung des Savant-Syndroms dar, in ihm findet es zur Vollendung; hier zeigt der Mensch seine womöglich spektakulärsten kognitiven Leistungen. Dafür kommt Widener einiges zugute: die Hirnstruktur des Autisten mit vielen „lokalen“ Netzen; Einsamkeit als Antrieb für die Obsession mit einem Spezialgebiet; das Ausweichen auf tief im Hirn vergrabene Schaltkreise für halbbewusstes Gewohnheitstun. Reicht das als Erklärung? Nein, sagt Darold Treffert. Er hat zu viel gesehen und gelesen.

Etwa über jenen Patienten, der als „hilfloser Idiot“ klassifiziert wurde, IQ: 8, dem es aber gelang, den korrekten Wochentag für alle Daten zwischen 1915 und 1945 zu nennen. Oder über Orlando Serrell, einen zehnjährigen Jungen, den 1979 beim Spielen ein Baseball links am Kopf traf, nahe der Stirn, und der durch diesen Unfall zu einem geübten Kalenderrechner wurde, der sich seither für jeden Tag seines Lebens an das damals herrschende Wetter und weitere Ereignisse erinnert.

Können wir alle zu Kalenderexperten oder Superrechnern werden?

Bedeutet all dies möglicherweise, dass sehr viele Menschen derartige Talente in sich tragen? Dass also auch sie theoretisch Schnellzeichner, Superrechner, Musikgenies oder Kalenderexperten sind? Könnte es sein, dass es sich bei all diesen Fähigkeiten um uraltes (und genetisch weitertransportiertes) Wissen der Menschheit handelt – beim Kalenderrechnen etwa um die Vertrautheit mit dem Rhythmus der Tage und Nächte, Monate und Jahre? Dass dieses Wissen in vielen Hirnen schlummert, wie eine Software, vor der Geburt installiert? Und dass es, um sie zu starten, einen Auslöser braucht: eine Störung jener Areale – durch einen Ballwurf, durch Autismus oder andere Hirnschäden –, mit deren Hilfe wir abstrakt denken, Konzepte bilden und in Worte fassen?

Könnte es also sein, dass bei einem Ausfall des Frontallappens andere, tiefer vergrabene Schaltkreise aktiviert werden, die eher nonverbal arbeiten, visuell-musikalisch, weniger bewusst, sozusagen „automatisch“? Und genau dort Savant-Talente freilegen?

Das Wunder dieses Syndroms läge dann darin, wie in einem Schaufenster vorzuführen, wozu unser Hirn fähig ist, wenn man es entsprechend „anschaltet“. In der Tat glauben einige Forscher, dass man auch gesunde Menschen zu Savant-ähnlichen Leistungen führen könnte. Man müsste dazu nur ihre Gehirne an den richtigen Stellen ausschalten, etwa mit Magnetfeldern.

Worin aber liegt nun der Sinn einer Begabung, die auf Behinderung baut? Stellt sie eine Art Ausweichsystem dar? Wäre ein gesunder Mensch denkbar, vertraut mit Kalendern wie George Widener? Am Ende bleiben Fragen und Rätsel. Fest steht: Der Savant lehrt uns beides, unsere eigene Unzulänglichkeit wie unsere verborgenen Potenziale.

Lange galten Savants als reine Nachahmer. Man nannte sie „menschliche Kamera“ oder „menschliches Aufnahmegerät“, weil ihren Leistungen etwas Mechanisches anzuhaften schien. Heute aber wissen Forscher, dass der Savant nicht einfach abzeichnet oder nachspielt, was er sieht oder hört. Er formt sein Material vielmehr um. Er ist kreativ, ein wahrer Künstler – George Widener ist dafür das beste Beispiel.

Die Berge North Carolinas hat er vor Jahren erstmals aus dem Überlandbus gesehen. Er wollte nur eine Nacht bleiben und schlief im Männerheim. Aber die Gegend brachte in ihm etwas zum Klingen: die Hügel der Appalachen im Osten der USA, die sich in erhabener Abfolge um unaufgeregte Städte ziehen, eine eintönige Idylle mit Platz genug für Sonderlinge. Widener traf Sozialarbeiter, die ihm gern Hilfe leisteten. Bald zog er in eine erste Wohnung.

Inzwischen hat er bei einem freundlichen Paar das Obergeschoss gemietet. Zwei kleine Zimmer mit Bad; der Arbeitstisch steht im Flur. Hier isst er, denkt, zeichnet zwischen lauter Krimskrams. In der Einfahrt sitzen Hühner.

Er weiß, was ihm guttut. Er sollte nicht allein wohnen. Und er freut sich über den neuen Roadster, seinen einzigen Luxus.

In der Natur schöpft Widener aus sich selbst - klar und frei

Am Donnerstag, 30. 6. 2011, steht er um 4.15 Uhr auf, dann ist die Welt noch leer und einschätzbar. Er setzt sich ins Auto, errichtet um 7.00 Uhr in einem Waldstück unterhalb eines Berggipfels sein Zelt. Er greift an einen Hickorybaum und fühlt sich, als kehre er heim.

Er war schon oft hier, einmal für sechs Monate. Er wanderte, trug nur Plastikplane, Schlafsack und Notizbücher, holte sich Essensreste aus Wanderhütten; alle 100 Kilometer eine Mahlzeit. Er redete mit keinem Menschen, war fit und fast schon ausgewildert, und irgendwann strichen die Schwarzbären um ihn herum. Die mögen es nicht, wenn man ihnen in die Augen schaut. Er kam damit gut klar.

Hier oben ist er Experte. Doch das Klettern strengt seinen untrainierten, etwas übergewichtigen Körper an, er schwitzt, atmet schwer. Abends baut er aus Stöckchen und Laub ein Feuer. Er liegt daneben und starrt ins Schwarze. In solchen Momenten des Rückzugs auf sich selbst erblickt er manchmal ganze Seiten aus Büchern, die er früher gelesen hat, oder das Muster künftiger Bilder. Manchmal kommt seine Lieblingszahl zu ihm, 1 048 576, auch bekannt als 220.

In der Natur findet er am leichtesten Kalenderdaten und formt aus ihnen Ideen für Kunstwerke. Denn George erkennt in der Natur einen Verwandten des Kalenders: ein logisches, geschlossenes System. Einen Kosmos, der alles in sich trägt, was geschehen ist und noch geschehen wird. Sucht man ein Bild dafür, wie es in George Widener wohl aussehen mag, sollte man vielleicht an einen Bergwald in der Dämmerung denken, ohne Menschen, kurz vor dem Auftauchen der Bären – dieser Landschaft entspringt seine Kreativität.

Nachts streicht irgendetwas um das Zelt. Die Sonne geht auf. Es ist Freitag, 1. 7. 2011, und George sitzt am Gipfel auf einer Wiese. Ringsum grüne Hügel. „Stell dir vor ... Schon die Ureinwohner haben diesen Anblick gehabt ... Hunderte Jahre, wie weggewischt durch eine Zeitreise.“

Er benötige nun ein wenig Einsamkeit, sagt er, und geht fort, bergab. Zwischen Goldruten, Hummeln und Schmetterlingen wird seine Gestalt immer kleiner. Er hat nachgedacht. Er wird die Meinung von Kunstfreunden auf Vernissagen künftig nicht mehr ernst nehmen. Er wird um Aufnahme in jene Forschergemeinde bitten, die an der Bewusstwerdung der Computer arbeitet. Vor allem aber will er seine Fitness steigern. Er will wieder öfter in der Natur sein, gesünder essen und Nahrungsergänzungsmittel schlucken.

Wenn die Maschinen die Gesellschaft übernehmen werden, im Jahr 2045, wird er 83 Jahre alt sein. Er möchte diesen Moment erleben. Denn die Maschinen werden begreifen, ihn und seine Werke.

Werke von George Widener sind bis zum 5. November 2011 in der Galerie Susanne Zander in Köln zu sehen. In den USA wird der Künstler von der "Ricco/Maresca Gallery", New York, vertreten.

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GEO KOMPAKT Nr. 28 - 09/11 - Intelligenz, Begabung, Kreativität

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