Inhaltsverzeichnis
Obwohl sie die grundlegendste aller Wissenschaften ist, schrecken viele Menschen vor der Physik zurück. Der Dortmunder Professor Metin Tolan erklärt, warum wir keine Angst vor Formeln haben müssen - und was sich mithilfe der Naturgesetze von Fußballspielern und James-Bond-Filmen lernen lässt.
GEOkompakt: Herr Professor Tolan, Sie haben sich mit der Physik des Fußballs beschäftigt. Gab es Erkenntnisse, die auch für Spieler nützlich sind?
Metin Tolan: Wir haben zum Beispiel die optimale Zahl von Akteuren in der Mauer bei einem Freistoß berechnet. Sie hängt von dem Winkel zum Tor ab und von der Distanz, aus der geschossen wird. Dazu habe ich eine Formel generiert, mit deren Hilfe sich ein Trainer die optimale Zahl der Fußballer in einer Mauer genau ausrechnen kann.
Sie haben sich unter anderem auch die Fouls vorgenommen.
Ja, ich habe analysiert, wann sich eine Notbremse lohnt – also ein Foulspiel kurz vor dem Strafraum, um ein Tor zu verhindern. Wenn ein Spieler in der ersten Minute die Notbremse einsetzt, dann erhält er die Rote Karte, wird vom Platz gestellt und fehlt der Mannschaft fast 90 Minuten lang.
Durch diese Schwächung, so zeigt die Analyse, fällt in der Regel mehr als ein zusätzliches Tor in der restlichen Spielzeit. Anders ist es in der 89. Minute. Da lohnt es sich sehr wohl, auf diese Weise ein Tor zu verhindern.
Ich habe die Wahrscheinlichkeit, wonach der Nutzen den Nachteil überwiegt, mit einer mathematischen Formel exakt berechnet: Statistisch gesehen, ist es so etwa die 56. Minute, in der sich das umkehrt. Aber im Prinzip muss man da eine komplizierte Formel mit vielen Parametern anwenden.
Nun sind Fußballspieler ja keine Mathematiker. Wie sollen sie sich verhalten?
Ich habe zu Notbremsen eine Faustregel ausgegeben: Erste Halbzeit nein, zweite Halbzeit ja.
Was haben Sie noch herausgefunden?
Ich habe ermittelt, mit welcher Schusstechnik ein Spieler die optimale Bananenflanke – bei der sich der Ball entlang einer seitlich gekrümmten Kurve bewegt - erzielt. Sie entsteht dann, wenn der Spieler den Ball 70 Prozent von der Mitte entfernt trifft. Es lässt sich ausrechnen, dass der Ball dann am stärksten im Bogen fliegt.
Aber ist es nicht so, dass die Spieler schon rein intuitiv oder durch Ausprobieren ganz viele physikalische Gesetzmäßigkeiten anwenden?
Natürlich. In Superzeitlupen-Aufnahmen kann man sehen, dass erfahrene Spieler den Ball bei so einer Bananenflanke fast immer an einem Punkt 70 Prozent von der Mitte entfernt treffen.
Der Fußballer muss also nicht Physik studieren...
Nein, muss er nicht. Aber die Ausbilder von Jugendmannschaften könnten exakt sagen, wo noch ungeübte Spieler den Ball am besten treffen sollten.
Weitere Tipps?
In der Schule lernt man, dass der optimale Abwurfwinkel beim Einwurf 45 Grad beträgt. Geht man davon aus, dass der Ball aus zwei Meter Höhe geworfen wird, berücksichtigt den Luftwiderstand und versetzt dem Ball dann noch einen Rückwärtsdrall, ergibt sich aber ein optimaler Abwurfwinkel von nur 30 Grad.
Und dann fliegt der Ball weiter?
Ja. Man muss viel flacher werfen, als die meisten glauben – und dem Ball zudem eine möglichst starke Rückwärtsdrehung mitgeben.
Oder nehmen Sie das Thema Flatterball: Ich hatte immer angenommen, ein Fußball könne schon aus rein physikalischen Gründen nicht so geschossen werden, dass er mal nach links und mal nach rechts kurvt. Doch einem Kollegen von mir ist es gelungen, einen Flatterball im Labor zu erzeugen und zu messen. Wieso es dazu kommt und welche physikalischen Gesetzmäßigkeiten dahinterstecken, ist aber noch völlig unklar.
Welchen Nutzen hat solche Forschung?
Wo der Nutzen liegt, spielt anfangs keine Rolle. Ein Physiker will ein Phänomen zunächst nur verstehen. Aber angenommen, Flatterbälle lassen sich erklären, dann wird man bald herausfinden können, wozu dieses Wissen gut ist. Wir hatten letztens im Kolloquium meinen Kollegen Prof. Detlef Lohse aus Twente, der erforscht, wie Tropfen auf eine Oberfläche fallen. Er hat herausgefunden, dass die Tropfen in der Luft unten eine kleine Delle bekommen – und anschließend analysiert, wovon diese Delle abhängt. Wen interessiert das schon, ließe sich fragen? Doch dann stellte sich heraus, dass man es beim Tintenstrahldrucker anwenden kann: Gelingt es, die Luftdelle möglichst klein zu halten, braucht man weniger Tinte, und das Bild wird schärfer.
Einmal grundsätzlich gefragt: Was ist überhaupt Physik?
Es ist die grundlegendste aller Naturwissenschaften. Sie beschreibt die Welt in ihren kleinsten und in ihren größten Zusammenhängen. Letztlich kann man versuchen, alle Prozesse, die es auf der Welt gibt, physikalisch zu erklären. Das betrifft sogar die Biologie. Man hat das Molekül des Lebens, die DNS, in den 1950er Jahren mit physikalischen Methoden entschlüsselt. Und heute ist die Physik in der Lage, auch die Struktur von Proteinen aufzulösen. Sie versucht zu enträtseln, wie Eiweiße, die ja die Bausteine der Zellen sind, sich bewegen und funktionieren.
Aber ist das nicht Biologie?
Den Aufbau der Zelle beziehungsweise der Proteine bis ganz tief unten auf atomarem Niveau zu verstehen, das ist ein Prozess der reinen Physik. Daher arbeite ich zum Beispiel hier an der TU Dortmund sehr eng mit Biochemikern zusammen. Die eigentliche Biologie beschäftigt sich dann mit den Eigenschaften der Proteine und deren Wirksamkeit in der Zelle und im Körper.
Sie forschen an biochemischen Fragestellungen?
Wir untersuchen zum Beispiel, wie Proteine unter großem Druck funktionieren. Welche Mechanismen zum Beispiel die Tierwelt entwickelt hat, um auch unter extremen Bedingungen zu überleben, etwa Fische in der Tiefsee. Die können dort trotz eines gigantischen Drucks existieren. Da hat sich die Natur etwas sehr Interessantes einfallen lassen: Sie hat spezielle Moleküle hervorgebracht, die an die Proteine andocken und das Wasser verdrängen. Und plötzlich sind diese Proteine viel druckstabiler. So etwas lässt sich nur mit physikalischen Methoden entschlüsseln.
Wo spielt die Physik noch eine Rolle?
Etwa in der Chemie. Wenn zum Beispiel zwei Stoffe miteinander reagieren, dann geschieht etwas mit ihrer Elektronenhülle. Und nur wenn wir wirklich verstehen, was die einzelnen Elektronen tun, können wir erklären, warum eine bestimmte chemische Reaktion stattfindet und eine andere nicht. Und das ist pure Quantenphysik.
Was kennzeichnet die Physik als Wissenschaft besonders?
Sie ist hochgradig empirisch und muss reproduzierbare Experimente abliefern. Wenn Sie also irgendeinen physikalischen Prozess haben, dann muss der nicht nur in Dortmund funktionieren, sondern überall auf der Erde und eigentlich sogar im ganzen Universum.
Und dazu hat die Physik eine Sprache entwickelt, die objektiv ist, nämlich die Mathematik. Denn es geht nicht um Meinungen, sondern um eine objektive Sprache, die bestimmte Prognosen erlaubt. Sie können Voraussagen machen, wie ein Experiment verlaufen wird, und anschließend überprüfen, ob das tatsächlich so eintrifft.
Warum ist das Experiment so wichtig für die Physik?
Weil es die Realität beschreibt. Die Physik war immer lernfähig; das heißt, wenn ein Experiment den physikalischen Modellvorstellungen widersprach, hat sich die Physik angepasst. Isaac Newton hat im 17. Jahrhundert die Gesetze der klassischen Mechanik entdeckt - zum Beispiel, welche Kräfte es sind, die die Planeten bewegen -, und damit konnte man die Welt 200 Jahre lang wunderbar beschreiben. Schließlich stellte man aber fest, dass diese Gesetze bei sehr hohen Geschwindigkeiten nicht mehr galten. Dann kam Einstein mit seiner Speziellen Relativitätstheorie und hat Newtons Gesetze erweitert. Er hat die Physik der Realität angepasst.
Das ganze Interview lesen Sie in der GEOkompakt-Ausgabe Nr. 35 "Physik - Warum ist der Himmel blau?"