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VORÜBERGEHEND VERSTORBEN
Ein Mann verliert seine Gefühle, sein ganzes Ich und den Glauben daran, dass er überhaupt lebendig ist. Als Ärzte sein Gehirn durchleuchten, offenbart sich ihnen ein überaus seltsamer Anblick
Eines Tages wachte Graham Harrison auf und stellte fest, dass er tot war. Bei dieser Überzeugung blieb er, jahrelang. Obwohl er weiteratmete, war er ganz sicher, dass sein Gehirn nicht mehr funktionierte – schließlich hatte er es eigenhändig umgebracht. Graham Harrison war 48 Jahre alt, lebte im südenglischen Exeter, und seine medizinische Vorgeschichte beschränkte sich auf eine depressive Erkrankung – und einen misslungenen Suizidversuch, bei dem er sich in der Badewanne per Stromschlag hatte töten wollen.
Acht Monate danach erklärte er seinem Hausarzt nun, er sei verstorben. Er glaubte, nicht mehr essen und schlafen zu müssen. Im Krankenhaus beharrte er darauf, dass Tabletten ihm nicht helfen könnten, da sein Gehirn tot sei, verbrutzelt in der Badewanne. Eine Behandlung mit Psychopharmaka konnte Harrisons Befinden zunächst nicht dauerhaft verbessern.
Rational zu erklären vermochte der Patient seinen Zustand nicht, weder sich selbst noch anderen. Trotzdem konnte ihn rein gar nichts davon überzeugen, dass er seinem Gehirn keinen fatalen Schaden zugefügt hatte. Dass sein Verstand offensichtlich noch im Großen und Ganzen funktionierte, ließ er als Beweis nicht gelten.
Graham Harrison litt am Cotard-Syndrom, benannt nach dem französischen Mediziner Jules Cotard, der diesen Zustand 1882 erstmals beschrieben hat. Die Erkrankung tritt oft bei schweren Depressionen oder Psychosen auf, aber auch in Verbindung mit verschiedenen neurologischen Leiden. Cotard-Patienten glauben, dass sie tot sind oder verwesen, dass sie selbst oder Teile ihres Körpers nicht mehr existieren. Manche von ihnen verhungern sogar, weil sie glauben, keine Nahrung mehr zu brauchen.
Graham Harrison erhielt häusliche Betreuung, denn er aß nur, wenn man ihn dazu anhielt. Seinen Geschmacks- und Geruchssinn hatte er verloren, ebenso das Interesse an allem, was ihm früher wichtig gewesen war.
Er sprach nicht mehr, weil er nichts zu sagen hatte. Er dachte nicht nach, weil alles bedeutungslos erschien. Hörend und sehend nahm er die Welt wahr wie bisher, aber die Eindrücke schienen sein Innerstes nicht mehr zu erreichen, sie berührten ihn nicht mehr, lösten keine Gefühle aus. Er war sich selbst gleichgültig geworden.
Immer wieder griff die Polizei ihn auf dem örtlichen Friedhof auf, wo er sich dem Tod am nächsten fühlte, und brachte ihn nach Hause.
Schließlich wurde er mit einem speziellen Tomographie-Verfahren untersucht, das Stoffwechselvorgänge im Gehirn abbildet. Das Resultat waren die ungewöhnlichsten Aufnahmen, die die Mediziner je gesehen hatten. In großen Bereichen seines Denkapparates war die Stoffwechselaktivität ähnlich niedrig wie bei einem Wachkomapatienten. Harrisons Gehirn funktionierte wie unter Narkose oder im Schlaf.
Viele der betroffenen Gehirnregionen gehörten zu einem Netzwerk, von dem Wissenschaftler vermuten, dass es für unser Kernbewusstsein, unser Identitätsgefühl und Ich-Erleben verantwortlich ist – darunter ein Gebiet, das bei gesunden Menschen im wachen Zustand besonders hohe Stoffwechselaktivität zeigt. Bei Graham Harrison waren diese Regionen schwer gestört, vielleicht durch seinen Suizidversuch. Ihm fehlte das gesunde Ich-Gefühl.
Heute – neun Jahre nachdem er seinen Tod verkündet hat – geht es Graham Harrison nach langer Psychotherapie und medikamentöser Behandlung deutlich besser.
Auch wenn er sich nach wie vor nicht wieder so lebendig fühlt wie in seinem Leben vor dem Tod.

DIE LANGE MINUTE
Jeder Mensch hat eine innere Uhr im Kopf. Gerät sie aus dem Takt, kann es geschehen, dass das Leben wie im Zeitraffer dahinrast
Das Leben vergehe jetzt zu schnell für ihn, sagt er selbst. Er sitze meist apathisch im Sessel und schlafe mehr als gewöhnlich, erzählen seine Angehörigen.
"Wir berichten über einen Patienten mit beschleunigtem Zeiterleben als Resultat eines Glioblastoms im linken oberen präfrontalen Kortex", schreiben seine Ärzte.
Der Deutsche Thomas Schmidt (Name von der Redaktion geändert) ist 66 Jahre alt und Angestellter im Ruhestand, als er auf einer Autofahrt plötzlich feststellt, dass die Welt draußen auf ihn mit unvorstellbarer Geschwindigkeit zuzurasen beginnt.
Die Ereignisse stürmen auf ihn ein, die Bilder, die er sieht: so schnell, dass er nicht rechtzeitig reagieren kann und eine rote Ampel überfährt. Ob er bremst oder Gas gibt, das Tempo des Autos bleibt ihm zu hoch, er fühlt sich der Situation nicht gewachsen und hält an. Wie im Schnelldurchlauf bewegt sich die Welt um ihn herum, dreht sich rasanter, als er in Gedanken noch mitkommt.
Als er zwei Tage später in die Universitätsklinik Düsseldorf eingewiesen wird, klagt er, dass die Zeit so schnell zu vergehen scheine, dass er nicht einmal mehr dem Verlauf des Fernsehprogramms folgen könne. Thomas Schmidt erlebt die Welt wie in einem Zeitraffer-Film.
Er versuche deshalb, langsamer zu denken, sagt er.
Die Ärzte machen mit ihm eine Reihe von Tests: Rechnen, Schreiben, Zeichnen, Reflexreaktionen. Über mehrere Tage lassen sie ihn den immer gleichen Zeitabstand schätzen. Auf ein Startsignal hin soll er angeben, wann eine Minute vergangen ist. Bis Schmidt Stopp sagt, vergehen im Schnitt 286 Sekunden: Er erlebt die Welt extrem beschleunigt, weil er selbst langsamer geworden ist.
Die Ärzte finden einen bösartigen Tumor an der Stirnseite seines Gehirns. Wie das veränderte Zeitempfinden ihres Patienten zu erklären ist, das ähnlich bei manchen Patienten mit Hirnentzündungen oder Epilepsie beobachtet wird, können sie nur vermuten. Bei einigen dieser Zeitraffer-Patienten ist auch der Hörsinn betroffen: Sie nehmen nicht nur visuelle Reize, sondern auch Sprache oder Musik stark beschleunigt wahr – bis zur völligen Unverständlichkeit.
Gestört, glauben die Ärzte deshalb, ist nicht Schmidts visuelle Wahrnehmung, sondern vielmehr seine innere Uhr.
Hirnforscher gehen davon aus, dass die Wahrnehmung der Dauer von Zeit durch einen Mechanismus im Gehirn gesteuert wird, der eine subjektive Empfindung der physikalischen Zeit erzeugt. Zu diesem Uhrwerk-Modell gehört ein neuronaler Schrittmacher, der in regelmäßigen Abständen Impulse produziert.
Beschäftigt sich unser Gehirn mit einem Reiz (schauen wir etwa auf eine rote Ampel und warten, dass sie auf Grün umspringt), werden diese Impulse gezählt. Je mehr Impulse zusammenkommen, desto länger erscheint uns das entsprechende Zeitintervall. Teile dieses inneren Schrittmachers liegen im Vorderhirn – dort, wo bei Thomas Schmidt der Tumor diagnostiziert worden ist. Möglicherweise hat die Wucherung dafür gesorgt, dass der Schrittmacher in seinem Gehirn die Impulse nun mit deutlich verringerter Geschwindigkeit produziert.
Und hat damit seine innere Uhr wohl für immer aus dem Takt gebracht.
VON BETRÜGERN UMGEBEN
Sie sieht aus wie seine Ehefrau, sie spricht wie sie, bewegt sich wie sie. Wieso ist sich Alan Davies dann so sicher, dass die Person an seiner Seite eine Doppelgängerin ist?
Vor dem Auffahrunfall, der ihre Ehe ruinierte, waren Alan und Christine Davies mehr als 30 Jahre lang glücklich verheiratet gewesen. Sie saßen an diesem Tag im September 1995 nebeneinander im Auto, als ihnen ein anderer Fahrer die Vorfahrt nahm. Dreieinhalb Jahre später erschienen sie vor Gericht. Alan Davies hatte den Unfallverursacher auf Schadenersatz verklagt für die Zerstörung seiner Ehe. Er war davon überzeugt, dass Christine bei dem Unfall gestorben war. Die Frau, die mit ihm zusammenlebte im Haus der Familie im Süden von Wales, behandelte er wie eine Fremde.
Er nannte sie Christine Zwei.
Dass seine Frau im Krankenhaus nur wegen eines Schleudertraumas behandelt worden war, konnte er nicht glauben. Seit er mit dieser vermeintlichen Doppelgängerin zusammenlebte, hatte er seine Arbeit als Lehrer an einer Gesamtschule aufgeben müssen. "Ich habe gute und schlechte Tage", sagte er vor Gericht, "aber ich glaube immer noch, dass meine Frau gestorben ist."
Der Psychiater, der ihn behandelte, sagte aus, Alan Davies leide am Capgras-Syndrom, einer wahnhaften Identifikationsstörung, benannt nach dem französischen Psychiater Joseph Capgras, der 1923 den Fall einer Patientin veröffentlicht hatte. Sie war davon überzeugt, dass im Laufe einiger Jahre nach und nach alle Menschen in ihrer Umgebung mehrfach gegen immer neue Doppelgänger ausgetauscht worden waren: ihr Ehemann, ihre Kinder, selbst das Personal in Kliniken und Behörden sowie die Beamten des Pariser Polizeihauptquartiers.
Capgras-Patienten glauben, dass Menschen, zu denen sie (meist) eine enge emotionale Verbindung haben, durch identisch aussehende Personen ersetzt worden sind. Sie erkennen bekannte Gesichter – aber bestreiten gleichzeitig deren Echtheit. Manche weisen auch Haustiere oder vertraute Gegenstände als Duplikate zurück.
Die Störung kann bei paranoider Schizophrenie oder Depression auftreten, aber auch durch neurologische Erkrankungen oder Gehirnverletzungen hervorgerufen werden.
Bei dem Amerikaner David Silvera trat das Capgras-Syndrom ebenfalls nach einem Autounfall auf. Silvera war kopfüber auf den Highway geschleudert worden, hatte fünf Wochen im Koma gelegen und seinen rechten Arm verloren. Mental und psychisch schien er trotz seiner schweren Verletzungen keine bleibenden Schäden davongetragen zu haben. Schwierig war nach dem Unfall nur das Verhältnis zu seinen Eltern. Bei diesem Paar handele es sich um Betrüger, behauptete Silvera, der Mann sei nicht sein wirklicher Vater, die Frau nicht seine wirkliche Mutter.
Ein Neurologe, der den Patienten über Monate untersuchte, vermutete, dass bei Capgras-Patienten wie Silvera die Verknüpfung zwischen visuellen und emotionalen Zentren im Gehirn gestört ist. Für die Gesichtserkennung ist ein Bereich im unteren Schläfenlappen zuständig. Identifiziert diese Gehirnregion ein bekanntes Gesicht, werden die Informationen weitergeleitet an die Amygdala – ein kleines Hirnareal, das Emotionen hervorruft, die mit der betreffenden Person verbunden sind.
Ist diese Verknüpfung aber gestört, stehen die Betroffenen vor einem Widerspruch: Sie können die korrekte Erinnerung abrufen, aber nicht die angemessene emotionale Reaktion. Sie fühlen nicht, was sie sehen. Das Gehirn überbrückt den Gegensatz mit einem Kompromiss – der einzigen Erklärung, die in dieser Situation Sinn ergibt: Dieser Mensch kann nicht der sein, der er zu sein scheint.
David Silveras fehlende emotionale Beteiligung war sogar messbar. Der Neurologe setzte dafür einen Test ein, auf dem auch manche Lügendetektoren basieren, denn emotionale Reaktionen erhöhen kurzzeitig den Schweißfluss und damit die elektrische Leitfähigkeit der Haut. Wenn Silvera ein Bild seines Vaters betrachtete, trat dies nicht ein: Er blieb völlig ungerührt.
Und der Arzt fand noch einen weiteren Beweis für seine Theorie. Am Telefon nämlich erkannte David Silvera seine Eltern ohne Zögern wieder: Das Hörzentrum mit seiner eigenen Verbindung zur Amygdala war von der Störung nicht betroffen.
Für den Neurologen ist das Capgras-Syndrom ein Beispiel dafür, wie stark unser emotionales Erleben unsere Sicht auf die Welt beeinflusst. Wir sind so abhängig von intuitiven Reaktionen auf unsere Umgebung, dass Gefühle über visuelle Wahrnehmung und Intellekt siegen.
Alan Davies bekam für die Störung einen Schadenersatz von umgerechnet rund 200.000 Euro. Als er nach der Verhandlung mit Christine das Gericht verließ, hielten sie ein paar Meter Abstand voneinander. Über den Fortbestand der Ehe ist nichts bekannt.
Den ganzen Artikel lesen Sie in der GEOkompakt-Ausgabe Nr. 36 "Unsere Sinne".