
Muskeln sind hoch flexible Organe, die je nach Beanspruchung schnell an Substanz gewinnen. Nach intensivem Training ist beispielsweise ein Gewichtheber in der Lage, fast das Dreifache seines Körpergewichts zu stemmen
Geradezu brachial mutet es an, was die Teilnehmer einer Studie an der Deutschen Sporthochschule in Köln auf sich nehmen müssen: Zunächst sollen sie ihre Muskeln an Trainingsgeräten bis zur Erschöpfung strapazieren. Eine Dreiviertelstunde danach sind die Probanden angehalten, auf einer Liege Platz zu nehmen, damit Forscher einen ihrer Oberschenkel an der Seite desinfizieren und mit einem Schmerzmittel betäuben können. Sodann durchtrennen die Wissenschaftler mit einem Skalpell die Haut auf etwa einem halben Zentimeter Länge und stechen eine Hohl- nadel von der Dicke einer Kugelschreibermine in den freigelegten Muskel. Mithilfe der Nadel entnehmen die Experten schließlich ein Stückchen des Gewebes – sein Volumen entspricht etwa der Größe des Wattekopfes bei einem Ohrenstäbchen. Die Probe ist nötig, damit die Kölner Wissenschaftler herausfinden können, welche hochkomplexen molekularen Vorgänge nach dem Krafttraining im Inneren eines Muskels ablaufen. Denn obwohl Biologen die Organe bereits seit mehr als 100 Jahren erforschen, kennt bislang niemand im Detail jene biochemischen Abläufe, die angestoßen werden, wenn ein Muskel beim Training belastet wird – und daraufhin beginnt, seine Struktur zu verändern, und so mehr Masse und Kraft aufbaut. Sollte es gelingen, dieses Geschehen wirklich zu durchschauen, ließen sich neue, effektivere Trainings- und Rehabilitationsmethoden entwickeln, so die Überzeugung der Wissenschaftler. Womöglich könnten Sportler ihr Krafttraining dann so planen, dass ein kleinerer Aufwand ein größeres Muskelwachstum bewirkt als bisher.
Mithilfe der Studie wollen die Kölner Forscher diesem Ziel näherkommen. Schaden nehmen die Versuchsteilnehmer infolge des Eingriffs kaum. Denn die 100 bis 150 Milligramm Gewebe, die ihnen nun fehlen, machen weniger als ein Zehntausendstel der Masse des Oberschenkelmuskels aus. Mit rund vier Kilo Gewicht gehört er zu den größten Kraftpaketen des Körpers (insgesamt machen alle Muskeln bis zu 50 Prozent der Masse eines Menschen aus) – und dient insbesondere dazu, das Knie zu strecken. Vor allem aber vermag der Muskel den Gewebeverlust schnell wieder auszugleichen und neue Substanz herzustellen. Denn im Aufbau von Masse sind die Bewegungsorgane wahre Meister. Ständig müssen sie ihre Kraft und Ausdauer den Erfordernissen des Körpers anpassen.
Auf einen Blick
Schon in der Frühzeit der Menschheit, vor rund 1,9 Millionen Jahren, trug diese Fähigkeit zum enormen Erfolg der Gattung Homo bei. Ein anatomisch raffiniert konstruierter, muskulöser Körperbau machte sie zum perfekten Ausdauerläufer, der vielen Tieren überlegen war. Selbst mit einem Pferd können manche Menschen mithalten: Bei einem seit 1980 jährlich stattfindenden Wettrennen zwischen Läufern und Pferden, das über eine Entfernung von mehr als 35 Kilometern geht, haben bereits zweimal menschliche Athleten als Erste die Ziellinie überquert. Nicht zufällig sind Muskeln der Inbegriff der Bewegung und der Kraft. Sie sind in der Lage, den Körper eines Sprinters auf nahezu 45 km/h zu beschleunigen, und ermöglichen es einem Gewichtheber, mehr als 200 Kilo Eisen in die Höhe zu stemmen – fast das Dreifache des eigenen Gewichts. Doch Muskeln sind nicht nur erstaunlich schnell und stark, sie können auch enorm lange durchhalten. Der deutsche Triathlet Jan Frodeno gewann 2015 den Ironman-Wettbewerb auf Hawaii, den wohl härtesten Wettkampf der Welt, nachdem er 3,86 Kilometer geschwommen, dann 180,2 Kilometer Rad gefahren war und schließlich einen Marathonlauf (42,2 Kilometer) zurückgelegt hatte – und all das ohne Pause in genau acht Stunden, 14 Minuten und 40 Sekunden.
Bei Weitem nicht jeder Muskel, der in unserem Körper wirkt, dient allerdings der Fortbewegung. Neben den mehr als 600 Skelettmuskeln gibt es viele weitere Kraftpakete, die ohne unser bewusstes Kommando agieren – ja wir bemerken sie nicht einmal. Geradezu winzig sind beispielsweise die Muskeln der Haarwurzeln; sie richten die Körperhaare auf, lassen uns bei Kälte eine Gänsehaut bekommen oder in Schrecksekunden die Haare zu Berge stehen. Auch sämtliche Blutgefäße in unserem Körper sind von feinsten Muskeln umhüllt, die die Adern weiten oder verengen und so Einfluss auf den Blutdruck haben. Ebenso sind viele innere Organe mit Muskeln ausgestattet, darunter Speiseröhre, Magen, Darm und Blase sowie Luftröhre und Bronchien. Der Zwerchfellmuskel hilft uns beim Atmen, und die Schließmuskeln an Dickdarm und Harnröhre sorgen dafür, dass Nahrungsreste oder Flüssigkeiten den Körper nur kontrolliert verlassen können. Es gibt sogar ein Organ, das fast komplett aus Muskelmasse besteht: das Herz. Unentwegt befördert diese etwa faustgroße Pumpe Blut durch unseren Körper, darf dabei nie ermüden und nicht eine Minute ruhen. Rund drei Milliarden Mal schlägt das muskuläre Hohlorgan im Laufe eines 80 Jahre währenden Lebens und transportiert dabei rund 200 Millionen Liter unseres Lebenssafts. So unterschiedlich die einzelnen Muskeltypen auch sind, das Prinzip, nach dem sie funktionieren, ist bei allen weitgehend gleich – und hat sich in Millionen Jahren Evolution bewährt.
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GEOkompakt Nr. 46 "Sport".
