GEO Kompakt: Herr Professor Bordt, der Markt für Ratgeber, Coachings und Lebenshilfe boomt. Weshalb verlangt es so viele Menschen danach, über sich und ihr Leben nachzudenken?
Prof. Michael Bordt: In der modernen Welt nimmt das Bedürfnis nach Orientierung immer weiter zu. Zum einen bei eher kleinen Fragen, etwa: Was kann ich noch essen? Welches Urlaubsziel soll ich wählen? Aber auch, wenn sich große Fragen stellen: Ist das Leben, das ich führe, das richtige für mich?
Noch in den 1950er Jahren waren die Rollenbilder relativ starr, Tradition und Konvention machten Vorgaben, etwa wie man als Vater oder Mutter zu agieren hat, wie man seine Kinder erzieht. Heute haben viele das Gefühl: Selbst in einer klassischen Ehe ist es völlig offen, was Mannsein oder Frausein bedeuten kann. Selbstfindung ist komplizierter geworden.
Hat die heutige Optionenvielfalt nicht zu einem Zugewinn an Freiheit geführt?
Ohne Zweifel ist es eine Errungenschaft der Moderne, uns von vielen Zwängen und Notwendigkeiten befreit zu haben. Aber zugleich stürzen nicht wenige Menschen bei der Bewältigung ebendieser Freiheit in Ratlosigkeit. Denn die vielen Möglichkeiten, sein Leben zu führen, fordern dazu heraus, sich selbst genau zu erforschen: Passen die Entscheidungen, die ich getroffen habe, wirklich zu mir? Kann ich mein Leben bejahen – auch wenn es einmal Schwierigkeiten zu bewältigen gibt? Fühlt sich das, was ich tue, stimmig an?
Wie können wir zu uns selbst finden?
Der Königsweg zur Selbstfindung führt immer über die Emotionen. Gefühle zeigen uns an, was uns wirklich wichtig ist, gewissermaßen: wofür unser Herz schlägt. Daher ist es essenziell, Licht ins Dunkel des eigenen Innenlebens zu bringen: Für was will ich einstehen? Was liebe ich? Wo entwickle ich Energie? Wobei spüre ich, dass ich wach werde?
Helfen kann dabei auch, seine negativen Emotionen zu analysieren: Aggression, Kraftlosigkeit, Angst, Schwermut, Neid. Denn gerade die negativen Emotionen, die man gern vermeiden möchte, sagen viel über uns aus: Welcher positive Wert steht dabei auf dem Spiel?
Können Sie ein Beispiel nennen?
Angenommen, eine Angestellte ist verärgert darüber, dass sie bei Entscheidungen ständig übergangen wird. Hinter dem Ärger kann ihr Wunsch stehen, gehört zu werden, anerkannt zu sein. In ihrem Ärger geht es ihr dann um den Schutz ihres Bedürfnisses nach Anerkennung oder um ihre Selbstachtung. Diese Anerkennung oder Selbstachtung ist ein positiver Wert, den sie bewahren möchte.
Oder nehmen Sie jemanden, der in seiner Beziehung stark eifersüchtig ist. Hinter dieser Regung steht nicht nur die Wut auf die Partnerin und ihre Bekanntschaften, sondern in erster Linie der positive Wert der Beziehung, die geschützt werden will. Die eigene Aufmerksamkeit auf den positiven Wert einer jeden Emotion zu lenken, kann helfen, sich besser zu verstehen und zu sich selbst zu finden.
Den zweiten Teil des Interviews lesen Sie in "GEO kompakt - Das starke Ich". Darin erklärt Michael Bordt, wie man durch Selbstanalyse innere Freiheit gewinnt.