GEOkompakt: Herr Dr. Schmidbauer, viele Menschen leiden immer wieder darunter, dass sich ihre Erwartungen nicht erfüllen. Sollte man also weniger Ansprüche haben?
Wolfgang Schmidbauer: Nein. Erwartungen zu haben ist ein psychologischer Grundmechanismus und zunächst ein mal etwas durchaus Positives. Ohne Erwartungen würden wir wahrscheinlich nicht leben können. Wir wären inaktiv, unmotiviert. Was wäre Neugier – ohne die Hoffnung, etwas zu entdecken? Weshalb sollte man andere Menschen kennenlernen wollen – ohne die Vermutung, dass Beziehungen das Leben bereichern? Warum sollte man in ein gutes Restaurant gehen, wenn man nicht die Erwartung hätte, einen kulinarischen Genuss zu erleben? Und doch gibt es viele Erwartungen, die schlicht unrealistisch sind. Und die zwangsläufig zu Enttäuschungen führen.
Welche Hoffnungen sind das?
Eine weitverbreitete unrealistische Erwartung – die sich die meisten von uns nicht wirklich eingestehen – betrifft den eigenen Körper: Wer sich mit 20 Jahren im Spiegel betrachtet, kann sich nicht vor stellen, dass dieser Körper einmal altern wird. Er geht also letztlich von der Unvergänglichkeit der eigenen Schönheit aus. Und wird dann meist im Laufe der Jahre enttäuscht, spätestens mit Anfang 40: wenn er die ersten Falten wahrnimmt, wenn ihm bewusst wird, dass Zerrungen langsamer heilen, dass er nicht mehr so schnell, so stark, so leistungsfähig ist. Es gehört zu einer gesunden Entwicklung, dieser überzogenen Erwartung einen realistischen Kontrapunkt entgegenzusetzen. Und der kann nur in einer wohlwollenden Akzeptanz des Älterwerdens bestehen. Wer das nicht schafft, überschätzt sich und seine körperliche Konstitution im Zweifel. Nicht selten mit gravierenden gesundheitlichen Folgen.
Inwiefern?
Das erlebe ich oft bei Patienten, mit denen ich analytisch Unfälle aufarbeite. Da ist zum Beispiel der 50jährige Skifahrer, den ein Jüngerer überholt. Und der daraufhin denkt: Dem werde ich es jetzt zeigen. Solche Selbstüberschätzungen, die auf unrealistischen Vorstellungen basieren, enden oft tragisch: Stürze, Knochenbrüche, lange Genesungszeiten. Der Glaube an die Unvergänglichkeit des Körpers ist natürlich nur eine von vielen Größenfantasien, die wir entwickeln.
Welche gehören noch dazu?
Das sind viele jener Erwartungen, die sich in der Adoleszenz aufbauen. Das ist die Zeit der überschwänglichen Fantasien, der zum Teil ins Leere gehenden Weltverbesserungsentwürfe, mit all den unrealistischen Hoffnungen: Ich will den Planeten retten, ich will ein Star werden, ich will Millionär werden, ich will die perfekte Beziehung erleben. Aber auch: Ich will keine Frau werden wie meine Mutter, kein Mann wie mein Vater. Ich will nicht wie dieser Lehrer werden. Ein Beispiel aus meiner eigenen Biografie: Ich wollte unbedingt ein großer Dichter werden und mit meiner schönen Sprache und meinen klugen Gedanken die Menschheit verzücken.

"Zufriedene Menschen sind imstande, Defizite zu akzeptieren – bei sich und bei anderen"
Haben Sie es je versucht?
Ja, ich habe Gedichte geschrieben und sie an Zeitschriften geschickt, doch keines wurde je gedruckt. Ich habe leider keinen Erfolg gehabt – und habe mir das Ganze viel zu leicht vorgestellt. Und: Ich hatte nicht die nötige Ausdauer, es im Zweifel über Jahre hinweg immer und immer wieder zu versuchen.
Wie sind Sie damit fertiggeworden?
Ich bin während meines Psychologiestudiums eher durch einen Zufall an eine journalistische Tätigkeit geraten – ich habe unter anderem für medizinisch orientierte Zeitschriften Artikel geschrieben. Und da hatte ich plötzlich Erfolgserlebnisse. Da wurde etwas gedruckt, das ich verfasst hatte. Nun gut, es waren keine Gedichte. Und dennoch spürte ich Stolz.
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Aber es war nicht die Erfüllung Ihres ursprünglichen Wunsches.
Das stimmt. Gleichwohl war es ein glücklicher Schritt in die richtige Richtung. Die Größenfantasie hat sich verwandelt, in etwas für mich Lebbares, Brauchbares. Und hätte ich diesen Traum nicht auf ein realistisches Maß gebracht, würde ich wahrscheinlich auch heute nicht offen darüber sprechen können – es würde mich vermutlich schlicht beschämen. Es ist generell ungemein wichtig, dass wir im Laufe des Lebens lernen, die frühen Größenfantasien zu überwinden. Wir sollten eine gesunde Distanz dazu gewinnen und sie nicht zu ernst nehmen. Wer an zu hohen Ansprüchen allzu stark und verbissen hängt, der kann auf Dauer nur scheitern. Und zwar immer wieder. Das ist höchst deprimierend und kann Betroffene in die Verzweiflung treiben.
Wie unterscheiden sich Menschen, die an ihren Erwartungen zerbrechen, von jenen, die zufrieden sind?
Ein Aspekt besteht darin, dass die Zufriedenen meist im Austausch mit anderen stehen. Sie erhalten Rückmeldungen, können sich im Dialog mit anderen weiterentwickeln. Dadurch lernen sie, immer besser mit den natürlichen Einschränkungen und Begrenzungen der Realität zurechtzukommen. Das setzt auch voraus, dass man fähig ist, Kränkungen zu verarbeiten. Ganz überwiegend zeigt sich bei jenen, denen dieser Schritt nicht gelingt, ein gemeinsames Wesensmerkmal: ein primitiver Narzissmus. Betroffene schwanken stets zwischen Idealisierung und Entwertung. Zwischen null und eins, gut und schlecht. Sie kennen keine Kompromisse, keine Zwischentöne.
Wie kann sich das konkret äußern?
Zum Beispiel im Zwischenmenschlichen. Da ist etwa die Frau, die sagt: Mein neuer Freund ist der tollste Mann, den ich je kennengelernt habe. Alles ist wunderbar, alle Erwartungen sind erfüllt. Und dann kommt die erste Kränkung: Er macht mich eifersüchtig, ist unpünktlich, unordentlich oder nicht an allem, was ich tue, interessiert. Und schon fällt der zuvor in den Himmel Gehobene von seinem goldenen Thron. Und ist wieder einmal eine Enttäuschung, ein weiteres Glied in der Reihe jener Männer, auf die man hereingefallen ist. Eine gesunde Einstellung sieht anders aus. Man erkennt: Jeder hat seine Stärken und Schwächen. Und wir versuchen, gut mit den Stärken umzugehen und eben auch mit den Schwächen.

"Sich mit unerfüllten Hoffnungen zu arrangieren ist ein Garant für Zufriedenheit"
Welche Ursache hat dieser Narzissmus?
Oft beruht ein solcher Mangel an emotionaler Reife auf frühen traumatischen Erlebnissen. Ein Kind ist auf Empathie angewiesen, darauf, dass jemand all seine Affekte spiegelt – Angst, Wut, Ekel und Freude. So lernt es, diese Affekte wahrzunehmen, zu differenzieren. Hierzu gehört auch: unangenehme Erfahrungen und Gefühle auszuhalten. Wer sich aber als Heranwachsender nicht geborgen und verstanden fühlt, ist mit all seinen negativen Emotionen gewissermaßen allein – und erlebt dies nicht selten als nicht aushaltbar, unkontrollierbar und höchst angstvoll. Bei vielen jener Menschen folgt im späteren Leben eine Bewältigung dieser Traumatisierung, die für primitive Narzissten typisch ist.
Worin besteht die?
Im Perfektionismus, der im Grunde einer Angst vor Kontrollverlust entspringt. Betroffene versuchen alles doppelt und dreifach zu überprüfen: So meinen sie, alles unter Kontrolle zu haben – letztlich auch die eigenen Emotionen.
Ist Perfektionismus etwas Schlechtes?
Solange er sich auf materielle Dinge richtet, nein. Ich will ungern von einem Chirurgen operiert werden, der nicht höchst präzise arbeitet. Richtet sich je doch der Perfektionismus auf andere Menschen – und das ist bei einigen Narzissten der Fall –, ist er unangebracht.
Was kann Perfektionismus anrichten?
Jeder Mensch macht Fehler, man kann niemanden komplett kontrollieren. Und das ist einer der Hauptauslöser für Eifersucht und all ihre zerstörerische Wucht: Der Eifersüchtige will in seiner idealisierten, perfektionistischen Liebesfantasie den Partner kontrollieren. Niemand anderem darf dieser Partner seine Zuneigung zeigen. Andernfalls droht eine fürchterliche Szene, im Zweifel Kontaktabbruch. Diese Dynamik zeigt sich oft auch in Situationen, die alltäglich und eigentlich – mit gesundem Menschenverstand betrachtet – undramatisch sind.
Zum Beispiel?
Nehmen Sie etwa einen Besuch in einem Restaurant: Man geht mit der Familie essen, hat sich auf einen gemeinsamen Abend gefreut. Doch dann schmeckt dem einen das Essen nicht oder das Kind ist unruhig, läuft herum, oder jemand schmeißt ein Glas um und beschmutzt das teure Kleid. Für den primitiven Narzissten ist das eine unerhörte Enttäuschung, eine Katastrophe: Alles ist verdorben. Er sagt womöglich: Wir packen ein, gehen nach Hause, der ganze Abend ist Mist gewesen. Emotional reifere Menschen offenbaren in genau der gleichen Situation eine innere Gelassenheit, sagen: Ach, so ist es halt, ist ja nichts Schlimmes geschehen, Hauptsache, wir verbringen Zeit zusammen.
Weil seine Erwartung nicht erfüllt wird, gerät der Narzisst also in Panik.
Genau, im Kern besteht der Unterschied im Gefühl der Angst: Der Narzisst kann die negativen Affekte nicht ertragen und steuert mit Aggression, mit Abwertung oder Flucht dagegen. Er verlässt urplötzlich die Situation, bricht das Gemeinsame ab, schlägt die Tür zu, bekommt einen Wutanfall. Angst verwehrt eine differenziertere Betrachtung. Wer Angst hat, verliert den Humor, verliert letztlich auch die Orientierung, die Fähigkeit sich einzufühlen. Der emotional Reifere dagegen kann diese Affekte mäßigen, sie sind emotional nicht so aufgeladen, sie sind gut aushaltbar. Er vermag also als Kleinigkeit zu erkennen, was ein anderer als Katastrophe erlebt.