Die Idee klingt, als wäre sie dem größenwahnsinnigen Geist eines Doktor Frankenstein entsprungen: Der Neandertaler, vor Jahrzehntausenden in den Abgründen der Zeit verschollen, könne zum Leben erweckt werden. Schon in wenigen Jahrzehnten werde es mithilfe moderner gentechnischer Methoden möglich sein, den ausgestorbenen Urmenschen in die Welt zurückzuholen. Alles, was Wissenschaftler dazu brauchten, sei die vollständige DNS des Neandertalers. Das jedenfalls behauptet der US-Genetiker George Church.

Der Professor an der renommierten Harvard University ist kein Spinner. Wohl wenige Forscher weltweit können die Chancen dieses Unternehmens besser einschätzen als Church. Der 60-Jährige hat 64 molekulargenetische Verfahren mitentwickelt und arbeitet zudem bereits an einem ähnlichen Projekt: der schrittweisen Wiederauferstehung des ausgestorbenen Wollhaarmammuts, eines Säugetiers, das zur gleichen Zeit lebte wie der Neandertaler. Aber ließe sich der Urmensch, dessen Überreste, bis auf die bislang gefundenen Knochenrelikte, längst zerfallen sind, tatsächlich so einfach neu erschaffen? Welche Risiken würde die Prozedur bergen? Welchen Platz könnte ein solches Wesen in unserer Gesellschaft einnehmen? Welche Gründe mag es überhaupt geben, den Eiszeitjäger zurückzubringen? Vor allem aber: Würde die künstliche Erzeugung eines Ausgestorbenen nicht eines der größten Tabus der Menschheit verletzen?
Von winzigen DNS-Bruchstücken zum Neandertaler-Genom
Noch müssen wir nicht damit rechnen, plötzlich einem geklonten Neandertaler auf der Straße zu begegnen. Zu groß sind derzeit (ungeachtet aller ethischen und rechtlichen Fragen) allein schon die technischen Probleme, ihn neu zu erschaffen. Allerdings ist die Lösung dieser Schwierigkeiten womöglich nicht mehr allzu weit entfernt. Denn auch die Entschlüsselung der DNS des Urmenschen – die Svante Pääbo und seinem Team am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig vor einiger Zeit gelungen ist – hielten Forscher lange Zeit für unmöglich. Der Grund: Die Fossilien der Neandertaler waren über die Jahrtausende von der Witterung angegriffen, durch Enzyme zersetzt und von Mikroorganismen besiedelt worden. Daher war die Erbsubstanz des Steinzeitmenschen, die mithilfe komplexer Laborverfahren aus zermahlenen Knochenproben gewonnen wurde, zu mehr als 95 Prozent von Mikroben-DNS verunreinigt, und die verbliebenen Reste von Neandertaler-DNS lagen nur in winzigen Bruchstücken vor. Zudem hatten sich einzelne Buchstaben der genetischen Information verändert. Unter diesen Voraussetzungen sein Genom zu rekonstruieren war etwa so, als wollte man in einem 1000 Jahre alten Buch lesen, von dem nur noch wenige Fetzen vorhanden waren – durchmischt mit den Schnipseln von Hunderten anderer Werke. Trotz dieser Schwierigkeiten gelang es Pääbo und seinen Mitarbeitern, mithilfe raffinierter gentechnischer Methoden aus den Überresten verschiedener Individuen sämtliche DNS-Sequenzen des Neandertalers zu entziffern. Im Computer setzten die Forscher diese Teilstücke des Erbguts dann zu einem akkuraten Genom-Entwurf zusammen.
Homo sapiens-DNS als Rohling
Die genetische Information des Neandertalers ist seither digital verfügbar, gespeichert als eine Abfolge von Milliarden Buchstaben, von denen jeder für einen bestimmten Baustein der DNS steht. Und auf Grundlage dieser Information, so glaubt George Church, wäre es heute theoretisch möglich, das Neandertaler-Erbgut im Labor Sequenz für Sequenz aus winzigen Einzelteilen zusammenzusetzen. Eine Prozedur, die mit heutigen Mitteln allerdings eine unabsehbar lange Zeit dauern würde. Zumal die Forscher bei vielen der Sequenzen noch überhaupt nicht wissen, wo genau sie im gesamten Genom zu verorten sind. Doch mit einem einfachen Kunstgriff, so Church, ließe sich bei der physischen Rekonstruktion des Urmenschengenoms viel Zeit sparen: wenn man nämlich – gleichsam als Rohling – eine funktionstüchtige DNS verwenden würde, die jener des Neandertalers sehr ähnlich und noch dazu unbegrenzt verfügbar ist. Die DNS des modernen Menschen. Diese Vorlage könnte mithilfe neuester gentechnischer Methoden Schritt für Schritt in das Genom eines Neandertalers verwandelt werden – so lange, bis sie all jene genetischen Charakteristika umfasst, die den Urmenschen ausmachen und ihn vom Homo sapiens unterscheiden. Dazu müssten von den drei Milliarden Bausteinen, aus denen die menschliche DNS besteht, mehrere Millionen entsprechend geändert werden.
Das Ziel der Forscher: Neandertaler-Gewebe mit dem moderner Menschen vergleichen
Falls es Wissenschaftlern tatsächlich gelänge, das gesamte Erbgut des Neandertalers – also die exakte Abfolge aller DNS-Bausteine – als reales Molekül herzustellen, könnten sie die Urmenschen-DNS in einem nächsten Schritt in eine menschliche Stammzelle einschleusen. Die ließe sich entweder aus einer Eizelle gewinnen oder aus einer biochemisch veränderten Körperzelle, etwa in der Haut. Allerdings sind solche Versuche in Deutschland und vielen anderen Ländern nur unter strengen gesetzlichen Auflagen erlaubt. Strikt verboten sind unter anderem alle Experimente mit Zellen, aus denen sich theoretisch ein ganzer Mensch entwickeln könnte. So weit wollen (und können) die Wissenschaftler derzeit aber auch gar nicht gehen. Sie hoffen vielmehr, dass es mithilfe von Stammzellen bereits in wenigen Jahren möglich sein wird, einzelne Zelltypen des Neandertalers im Labor heranzuzüchten – etwa Zellen aus der Leber oder der Bauchspeicheldrüse.
Das Ziel der Forscher: Sie wollen Neandertaler-Gewebe mit dem moderner Menschen vergleichen. So könnten sich Wissenschaftler beispielsweise mit dem Immunsystem des Neandertalers befassen: Denn beim Homo sapiens finden sich Genvarianten für die Immunabwehr, die beim Urmenschen fehlen. Man könnte also an Neandertaler-Zellen prüfen, ob sie andere Reaktionen auf Infektionen zeigen – und auf diese Weise wichtige Erkenntnisse über die Funktion bestimmter Gene erlangen. Gut möglich auch, dass der Neandertaler resistent war gegen gefährliche Krankheitserreger, etwa gegen HIV oder Pockenviren, und dass mithilfe seiner Zellen Wege gefunden werden könnten, um den modernen Menschen gegen solche Infektionen zu schützen. In anderen Zellen des robusten Urmenschen, so mutmaßen Anthropologen, ist vielleicht gar ein Mittel gegen Osteoporose oder Muskelschwund zu entdecken. Vielleicht schon in naher Zukunft realisierbar sind Experimente mit Stammzellen des Homo sapiens, in deren DNS einzelne Neandertaler-Gene eingeschleust werden. Svante Pääbo etwa könnte sich vorstellen, auf diesem Wege "neandertalisierte" Nervenzellen zu gewinnen, um daran die veränderte Signalverarbeitung zu untersuchen.
Memo: Wiedererweckung
Würden alle technischen Bedingungen erfüllt, könnte es irgendwann wirklich so weit sein: Dann ließen sich nicht nur einzelne Zelltypen und Gewebe heranzüchten, sondern wären die Wissenschaftler womöglich in der Lage, einen ganzen Neandertaler zu erschaffen. Dazu müsste die Stammzelle mit dem Urmenschengenom zunächst in einen nur wenige Zellen großen Embryo eingeschleust werden. Nach dessen Implantierung in die Gebärmutter einer Frau (oder, wie Church vorschlägt, einer Schimpansin) könnte sich dort ein Neandertaler-Fötus entwickeln und schließlich ein Urmenschenkind das Licht der Welt erblicken. Allerdings wären der Aufwand und die Risiken für die (menschliche oder tierische) Leihmutter extrem hoch. Auch wären die Aussichten, auf diese Weise ein dauerhaft lebensfähiges Wesen in die Welt zu setzen, nach Meinung von Experten äußerst gering. Zudem würde sich die Frage stellen, inwiefern dieser Mensch mit Neandertaler-Erbgut auch wirklich ein Neandertaler wäre.
Denn das Genom ist nicht viel mehr als eine Art Liste – eine Aneinanderreihung von Genen und anderen Sequenzen, gleichsam Vokabeln, ohne sinngebende Verknüpfung. Damit aus diesen Wörtern eine Geschichte, aus den genetischen Informationen also ein komplettes Individuum wird, braucht es noch eine Art Grammatik, eine Interpretationshilfe. Die liefert die Epigenetik (von griech. epí, darüber). Dahinter stecken komplexe Steuerungsmechanismen, die bestimmte Bereiche des Genoms gezielt an- oder abschalten – je nachdem, ob sie in dem jeweiligen Zelltyp gebraucht werden oder nicht. Sie sorgen etwa dafür, dass manche Zellen sich zu Hautgewebe entwickeln und Pigmente produzieren, während andere als Teil der Bauchspeicheldrüse Insulin herstellen. Doch nicht nur von Zelltyp zu Zelltyp unterscheiden sich die jeweils aktivierten Gene, sondern auch unter den Menschenspezies. So konnten israelische Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit Svante Pääbos Team kürzlich einige Unterschiede der epigenetischen Steuerung beim Neandertaler im Vergleich zum Homo sapiens rekonstruieren. Wenn nun ein Embryo mit Neandertaler-DNS im Körper einer Homo-sapiens-Frau heranwachsen würde, unterlägen seine Zellen dort ganz anderen epigenetischen Einflüssen als im Leib einer Neandertaler-Frau. Falls ein unter solchen Bedingungen entstandenes Wesen überhaupt lebensfähig wäre, würde es sich vermutlich anders entwickeln als einst die Kinder der Urmenschen.
Doch selbst wenn die künstliche Erschaffung eines Neandertalers zumindest technisch irgendwann möglich sein wird: Wäre sie ethisch vertretbar? Nein, sagen ganz entschieden die meisten Anthropologen und Genetiker. Auch die rechtliche Situation lässt kaum Zweifel zu: Nach heutigem Stand wäre die Erzeugung eines Neandertalers wohl in allen Staaten der Erde verboten – vorausgesetzt allerdings, dass dem Homo neanderthalensis der gleiche Status als "Mensch" zugesprochen wird wie dem Homo sapiens.
"Technisch unmöglich und ethisch unvertretbar"
Welchen Grund aber könnte es überhaupt geben, den Urmenschen Jahrzehntausende nach seinem Verschwinden in die Gegenwart zu befördern? Auch bei dieser Frage ist die Mehrheit der Forscher davon überzeugt, dass der mögliche wissenschaftliche Nutzen in keinem Verhältnis zu Aufwand und Risiken eines solchen Projektes stünde. George Church hält dagegen, dass die Beobachtung eines lebendigen Neandertalers weitaus größere Chancen für die Medizinforschung böte als die Untersuchung seiner Zellen. Und: dass wir durch die Begegnung mit dem Urmenschen viel über unsere eigene Natur erfahren könnten und Einblicke in eine andere Form menschlicher Intelligenz erhielten, in eine andere Art zu denken. So gut wie alle Wissenschaftler sind dennoch strikt gegen die künstliche Erzeugung des Urmenschen. Vor allem Churchs Kollege Svante Pääbo, der ja die Voraussetzung dazu mit der Entzifferung des Neandertalergenoms überhaupt erst geschaffen hat, äußert sich eindeutig: Er hält die Rückholung unseres ausgestorbenen Verwandten auf die Erde für "technisch unmöglich und ethisch unvertretbar".
Aber die moralischen Überzeugungen in der Gesellschaft können sich wandeln. So galt beispielsweise die natürliche Fortpflanzung des Menschen lange Zeit als unantastbar. Dieser Grundsatz ist heute längst aufgeweicht: War die Geburt des ersten "Retortenbabys" Louise Joy Brown 1978 noch von erheblichen Protesten begleitet, so ist die Befruchtung von Eizellen im Reagenzglas inzwischen gängige Praxis geworden. Seit 2011 ist es in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen sogar erlaubt, einen auf diese Weise entstandenen Embryo vor dem Einpflanzen im Mutterleib auf schwere Erbschäden zu überprüfen – und ihn bei entsprechendem Befund zu töten. Dass sich die Grenzen dessen, was hierbei als ethisch vertretbar gilt, immer weiter verschieben, zeigt sich in anderen Ländern, etwa in den USA. Dort dürfen künstlich erzeugte Embryonen frühzeitig untersucht werden, um das Geschlecht des Kindes auszusuchen: Wünschen sich die Eltern ein Mädchen, werden männliche Nachfolger aussortiert. Möglicherweise wird in einigen Jahren auch das "Optimieren" der DNS eines Embryos zum medizinischen Repertoire gehören. Und irgendwann wird vielleicht gar das Klonen von Menschen, also die künstliche Erzeugung genetisch identischer Individuen, als völlig normal gelten – so verwerflich das aus heutiger Sicht für die meisten klingen mag. Dann bestünden vielleicht auch weniger Bedenken, sich an der Wiedererschaffung der Neandertaler zu versuchen.
Neo-Neandertaler im Eiszeit-Zoo
Doch was würde mit den Urmenschen geschehen, sollten sie denn je in die Welt zurückgeholt werden? Wo würden sie leben? Vielleicht in speziellen Reservaten, in denen sie unter Beobachtung von Wissenschaftlern so existieren könnten wie vor 40.000 Jahren? Wo sie gar Mammuts jagen würden, die man auf ähnliche Weise wieder zum Leben erweckt hätte? Für die mächtigen Eiszeitelefanten könnte es ein Zuhause geben: Der russische Naturforscher Sergej Simow hat bereits vor Jahrzehnten ein Schutzgebiet im frostigen Sibirien gegründet, den "Pleistozän-Park". Dort, wo jetzt urtümliche Pferde, Wisente und Moschusochsen grasen, könnten eines Tages auch Wollhaarmammuts angesiedelt werden, damit sie helfen, die Landschaft wieder in eine eiszeitliche Steppe zu verwandeln. Wahrscheinlich – soweit man dies bei solchen Gedankenspielen überhaupt einschätzen kann – würden den Neandertalern die gleichen Rechte zugesprochen wie allen Angehörigen der Spezies Homo sapiens. Theoretisch dürften sie also die Schule besuchen und einer Arbeit nachgehen. Doch wären sie dazu überhaupt in der Lage?
Die Stimmen der Urmenschen klängen wohl fremd
Die Ansichten der Experten darüber, wie sich der Urmensch in der modernen Welt behaupten könnte, gehen extrem auseinander. Einzelne Forscher schließen nicht aus, dass Neandertaler, die in Homo-sapiens-Familien aufwüchsen, alle Fähigkeiten ihrer "Mitmenschen" erwerben könnten. Andere vermuten, dass die Ur-Europäer – deren Ahnen ja geschickt darin waren, Steine zu bearbeiten und über eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe für komplizierte Abläufe verfügten – zumindest einen simplen technischen Beruf ausüben könnten, etwa als Mechaniker. Dafür ist allerdings sprachliche Kommunikation vonnöten. Viele Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass die Neandertaler die anatomischen Voraussetzungen für Sprache besaßen und in der Urzeit auch tatsächlich verbal kommuniziert haben. Doch hieraus folgt noch nicht, dass sie auch in der Lage wären, eine heutige Sprache des Homo sapiens zu erlernen. Und wenn, so klängen ihre Stimmen wohl ziemlich fremdartig. Selbst mit einem Anzug bekleidet und mit den Gesten und dem Vokabular eines modernen Menschen ausgestattet, würden sie mit ihrer gedrungenen Gestalt, der fliehenden Stirn und den großen Überaugenwülsten auffallen. Jeder, der ihnen im Supermarkt oder in der U-Bahn begegnete, wüsste sofort, dass er einen Neandertaler vor sich hat.
Und die Erfahrung zeigt: Schon heute treffen Menschen, die anders aussehen, oft auf Misstrauen, werden stigmatisiert und ausgegrenzt. Zudem schließen einige Forscher aus dem begrenzten Werkzeugspektrum der Urmenschen, dass deren geistige Fähigkeiten nicht an die unseren heranreichten, vor allem im Hinblick auf abstraktes und innovatives Denken. Keineswegs unwahrscheinlich ist also, dass Wesen entstehen würden, die sich in der modernen Gesellschaft allein nicht zurechtfänden und ihr Leben lang betreut werden müssten – oder ihr Dasein allenfalls in einer Art Eiszeit-Zoo fristen könnten. Im schlimmsten Fall schließlich würden sie an Krankheiten sterben (oder wären zumindest stark eingeschränkt), da ihre Immunabwehr nach Meinung von Fachleuten nicht auf die heutigen Erreger eingestellt wäre. Daher ist es – ungeachtet aller technischen Probleme – aus ethischen Gründen sehr fraglich, ob es jemals einen Neo-Neandertaler geben wird.
Und dennoch: George Church, immerhin einer der führenden Genetiker weltweit, gehört nicht zu den Menschen, die sich von derlei Bedenken bremsen lassen. Unter Fachkollegen ist er seit Langem dafür bekannt, das Unmögliche möglich zu machen. So erfand er beispielsweise eine Art "Evolutionsmaschine", mit der er binnen weniger Tage einfache Bakterien durch Veränderung ihrer DNS in neue, hoch spezialisierte Mikroben verwandelte – ein Prozess, der mit üblichen Labormethoden Jahre dauern kann. Zudem treiben auch andere Experten ihre Forschungen voran, verschieben in rasantem Tempo immer wieder die Grenzen des Machbaren. Es ist also – wie auch Forscher einräumen, die das Vorhaben vehement ablehnen – keineswegs hundertprozentig auszuschließen, dass sich Churchs Prophezeiung bewahrheitet. Und eines Tages tatsächlich wieder Neandertaler unter uns sind.