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Neandertaler Leseprobe: Die Grenzen der Paläoanthropologie

Der Archäologe Gerd-Christian Weniger über die Schwierigkeit, fossile Knochenfunde richtig zu deuten

GEOkompakt: Herr Professor Weniger, was sind die wichtigsten menschlichen Relikte, die je entdeckt wurden?

PROFESSOR GERD-CHRISTIAN WENIGER: Zunächst natürlich der Neandertaler, der erste fossile Mensch überhaupt. Er ist der große Startpunkt, der die Paläoanthropologie begründet hat. Dann die rund 200.000 Jahre alten Funde von Omo.

Weshalb sind die von Bedeutung?

Diese Schädel sind die ältesten Zeugnisse des Homo sapiens, auch wenn sie noch einige archaische Züge aufweisen. Sie waren der Schlusspunkt, der die "Out-of-Africa-Theorie" bestätigte – also jene Theorie, der zufolge der moderne Mensch in Afrika entstanden ist und von dort aus die ganze Erde besiedelt hat. Heute ist sich die Mehrheit der Paläoanthropologen dessen sicher.

Neandertaler: GERD-CHRISTIAN WENIGER hat das Neanderthal Museum in Mettmann maßgeblich mitkonzipiert und ist seit der Eröffnung 1996 dessen Direktor
GERD-CHRISTIAN WENIGER hat das Neanderthal Museum in Mettmann maßgeblich mitkonzipiert und ist seit der Eröffnung 1996 dessen Direktor
© Franz Bischof

Welche Funde sind noch herausragend?

Das Kind von Taung in Südafrika und die berühmte Lucy in Äthiopien. Sie gehören zu den Australopithecinen und zeigen, dass es vor dem Menschen bereits Wesen gab, die aufrecht gingen, aber noch das Gehirn eines Affen hatten.

Wie viel lässt sich anhand von Knochen über die Lebensweise eines Menschenvorfahren aussagen?

Man kann zum Beispiel erkennen, ob ein Wesen aufrecht gegangen ist. Das lässt sich etwa am Becken recht gut sehen, aber auch an den Beinknochen, am Kniegelenk oder am Fuß. So wird beurteilt, ob ein Menschenvorfahr sich längere Zeit aufrecht fortbewegen konnte.

Lassen sich aus den Knochen Erkenntnisse über die Lebensweise gewinnen?

Nur schwer. Wenn Forscher etwas über das Verhalten der frühen Menschen aussagen wollen, müssen sie sich vor allem die kulturellen Hinterlassenschaften anschauen: Steingeräte, Überreste von Lagerplätzen. Daran kann man erkennen, ob bereits Feuer genutzt wurde oder womöglich schon richtig umbaute Feuerstellen angelegt wurden, ob diese Menschen bestimmte Tiere gejagt und nach einem bestimmten Muster zerlegt haben, welche Werkzeuge sie dazu gebraucht und hergestellt haben.

So entsteht nach und nach eine Kette von Informationen über das Verhalten einer Menschenform.

Sind Funde von Steinwerkzeugen häufiger als die von Fossilien?

Ja, um ein Vielfaches. Doch die Quantität ist nicht alles. So unscheinbar Steingeräte für den Laien aussehen, es stecken viel mehr Informationen über das Verhalten eines Menschen darin als in einem fossilen Schädel. Wir können recht gut verfolgen, was er mit diesem Stein gemacht hat, in welchen Schritten er daraus ein Werkzeug gefertigt hat. So ein Werkzeug kann eine Million Jahre überdauern und taucht dann im archäologischen Kontext genauso auf, wie sein Benutzer es weggeworfen hat. Es enthält bedeutsame Informationen.

Ab wann wurden Werkzeuge benutzt?

Wir gehen davon aus, dass Homo habilis vor rund 2,4 Millionen Jahren als Erster regelmäßig Steingeräte eingesetzt hat. Allerdings gibt es auch Hinweise auf möglicherweise noch ältere Werkzeuge.

Haben die Ur- oder Vormenschen auch Werkzeuge aus Holz gefertigt, die aber nicht erhalten sind?

Das ist natürlich vorstellbar. Andererseits benötigt man etwas, um das Holz zu bearbeiten und daraus ein Werkzeug herzustellen. Und das geht am besten mit Steingeräten. Denn um ausgeklügelte Werkzeuge aus anderen Materialien – Holz, Bambus oder Knochen etwa – zu fertigen, braucht man ein Gerät zum Schneiden. Das ist das Entscheidende.

Wir Menschen können von Natur aus zwar reißen, schlagen oder etwas zertrümmern – aber schneiden können wir nicht: Das ist in unserem biologischen Programm nicht vorgesehen. Und das Schneiden geht am besten mit den scharfen Kanten von Steinen. Sie ermöglichen eine völlig neue Form der Werkstoffbearbeitung.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Schon die frühen Menschen in der Epoche um mindestens 500.000 Jahre vor unserer Zeit sind fähig, mit steinernen Abschlägen Hölzer oder Knochen so zu bearbeiten, dass sich eine Steinspitze hineinstecken lässt und auf diese Weise ein Messer mit einem Griff entsteht. Sie können die Rinde eines Baumes abschälen, in Streifen schneiden und daraus Behälter bauen oder Netze fertigen. Oder sie zerteilen Felle, um daraus Kleidung herzustellen. All das wird möglich, weil sie nun schneiden können.

Manche fossile Arten sind nur durch einen einzigen Fund dokumentiert. Von der Vormenschenart Australopithecus bahrelghazali etwa wurden im Tschad nicht mehr als ein Kieferbruchstück und ein paar Zähne gefunden. Ist es sinnvoll, mithilfe so weniger Fossili

Paläoanthropologen sind natürlich der Versuchung ausgesetzt, im Laufe ihrer Karriere eine eigene Art zu definieren. Da spielen auch persönliche Eitelkeiten eine gewisse Rolle.

Doch das Problem ist: Wir haben extrem kleine Stichproben aus einem enorm großen Raum-Zeit-Fenster. Und da muss man sich bei jedem neuen Fossil die Frage stellen: Ist es typisch für die Population – oder vielleicht ein Sonderfall? Ist es männlich, ist es weiblich, wie alt war das Individuum?

All das sind ja Faktoren, die in der Skelettmorphologie eine Rolle spielen. Und die für die Interpretation der Humanfossilien entscheidend sein können.

Wer befindet darüber, was eine akzeptierte Art ist und was nicht?

Im Prinzip darf jeder Forscher die Beschreibung einer neuen Art frei formulieren, doch muss sie möglichst hochrangig publiziert werden. Und bevor ein Manuskript in einer Fachzeitschrift veröffentlicht wird, durchläuft es einen Prozess der Begutachtung. Nur wenn die Gutachter das Manuskript für überzeugend halten, wird es gedruckt.

Das ganze Interview lesen Sie in GEOkompakt Nr. 41 "Der Neandertaler".

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