Vermutlich ist es der größte Schock unseres Lebens. Wir alle haben ihn erlebt, und doch kann sich niemand an diesen Moment erinnern, in dem wir nach neun Monaten der Sorglosigkeit in einer schummrig warmen Höhle plötzlich von Eindrücken überflutet werden. Statt gedämpftem Rot trifft grelles, kaltes Licht auf unsere Netzhaut. Statt dem Pochen des mütterlichen Herzschlags prallt der Schall einer Vielzahl von Geräuschen ungefiltert auf das Trommelfell. Die Gliedmaßen, bisher zusammengepresst in der zunehmend eng gewordenen Gebärmutter, breiten sich unkontrolliert in alle Richtungen aus. Statt von körperwarmer Flüssigkeit ist die Haut plötzlich von einem kühlen Nichts umgeben. Und dann jagt ein Impuls durchs Neugeborene, jene Röhre, die von Mund und Nase in den Körper führt und bisher voller Fruchtwasser war, mit ebenjenem Nichts zu füllen: Atme! Natürlich wissen Forscher nicht, wie genau ein Säugling die Augenblicke nach der Geburt empfindet. Schließlich können Babys weder Fragebögen beantworten noch Aufgaben lösen: Sie sind damit beschäftigt, zu überleben. Auch lässt sich kaum messen, was im Gehirn von Säuglingen geschieht, während sie die ersten Sinnesreize aus ihrer neuen Umgebung verarbeiten. Anders als erwachsene Probanden, die sich bei einer Magnetresonanztomographie zur Untersuchung ihrer Hirnaktivität freiwillig in die Röhre des Geräts legen, minutenlang stillhalten und dabei den Anweisungen eines Wissenschaftlers folgen, können Babys überhaupt nur im MRT untersucht werden, wenn sie schlafen oder durch Medikamente ruhiggestellt sind. Dennoch ist es Forschern in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, etliche – zum Teil kurios anmutende – Messtechniken zu entwickeln, um den kleinen Probanden ihr Weltwissen zu entlocken. Und damit einen der wichtigsten und beeindruckendsten Reifungsprozesse im Leben eines Menschen zu ergründen: wie aus einem hilflosen Neugeborenen binnen zweier Jahre ein Kleinkind heranreift, das seine Umwelt präzise wahrnehmen kann, das die Gefühle im Gesicht seiner Eltern erkennt, das abstrakte Gedanken zu fassen vermag oder in der Lage ist, gezielt nach Gegenständen zu greifen.
Lange Zeit gingen Wissenschaftler davon aus, dass Neugeborene über keinerlei Gespür für die Welt verfügen
Zumeist versuchen die Wissenschaftler in den Experimenten, Vorlieben zu messen. Und dabei geben die Kleinen unter anderem preis, zu welchen Sinneswahrnehmungen sie bereits fähig sind. Die Säuglingsforscher lassen ihre Probanden beispielsweise an einem Spezialschnuller nuckeln, der die Saugfrequenz misst. Dabei werden sie zwei kombinierten Reizen ausgesetzt: Über Kopfhörer spielen die Forscher ihnen mal die Stimme der Mutter vor, mal die einer anderen Frau. Die Wissenschaftler stellen den Schnuller anschließend zum Beispiel so ein, dass bei schnellerem Saugen die Stimme der Mutter erklingt. Saugt das Baby langsamer, hört es die Stimme einer fremden Frau. Bei anderen Kindern testen sie genau umgekehrt: Langsameres Nuckeln lässt die vertraute Stimme erklingen; steigert das Kind die Frequenz dagegen, spricht die Fremde. Das Ergebnis: Babys passen ihr Saugverhalten so an, dass sie die Stimme der Mutter herbeinuckeln. Ihr Gehör ist also offenbar fein genug, um die Unterschiede zwischen zwei Stimmen zu erkennen. Mithilfe dieser Präferenzmethode haben Forscher Dutzende Erkenntnisse darüber gesammelt, wie viel Kinder in den ersten 18 Monaten von ihrer Umwelt wahrnehmen – in jener Zeit also, in der sie sich noch gar nicht oder nur wenig komplex sprachlich ausdrücken können. Sicher ist, dass schon bei Neugeborenen alle fünf Sinne funktionieren – und dass äußere Reize bei ihnen Gefühle auslösen, die denen von Erwachsenen zumindest bereits ähneln. Sicher ist aber auch, dass die Empfindungen von Babys reifen müssen. Dass sie sich über Monate, zum Teil Jahre entwickeln, bis sie so fein auf ihre Umwelt abgestimmt sind wie bei älteren Kindern oder Erwachsenen. Immer wieder erleben die Forscher bei ihren Untersuchungen Überraschungen. So begreifen offenbar schon wenige Monate alte Babys – das legen Experimente nahe – Zusammenhänge, die man über Jahrzehnte allein Kleinkindern zutraute. Mehr noch: Zuweilen können sie sogar Dinge sehen oder hören, die Erwachsenen verborgen bleiben.
Angesichts dieser Erkenntnisse ist es geradezu fatal, dass Wissenschaftler lange Zeit annahmen, Säuglinge empfänden überhaupt nichts. Sich (über Stillen und Wickeln hinaus) um ihr Wohlbefinden zu kümmern, sie geistig zu fördern, galt als weitgehend nutzlos. Mussten Neugeborene operiert werden, wurden sie oft nicht einmal betäubt: Man nahm an, sie seien unfähig, Schmerz zu empfinden. Erst ab etwa 1945 erkannten Forscher, dass Babys mehr brauchen als Nahrung, um optimal aufzuwachsen. Das zeigte sich etwa bei Heimkindern, die sich ohne emotionale Zuwendung nicht normal entwickelten oder sogar starben. Nach und nach fanden Wissenschaftler heraus, dass es schon für Neugeborene elementar ist, eine enge Bindung zu ihren wichtigsten Bezugspersonen herzustellen. Also mussten sie schon von Geburt an Sinnesreize wahrnehmen und Gefühle entwickeln. Wie sonst könnte ein Tage alter Säuglinge das Gesicht seiner Mutter zielsicher erkennen? Inzwischen ist den Forschern klar, dass Kinder von Beginn an über das nötige geistige Rüstzeug verfügen, der Flut äußerer Reize Bedeutung abzuringen, Informationen zu verarbeiten und Regeln im scheinbaren Chaos zu erkennen. Dass die Reifung ihrer Sinne also eng verknüpft ist mit ihrer geistigen Entwicklung. Am eindrücklichsten ist dieser Zusammenhang beim Sehvermögen nachzuweisen: zum einen, weil visuelle Vorlieben vergleichsweise einfach zu messen sind; zum anderen, weil sich die Sehkraft im Säuglingsalter stärker verändert als die restlichen Sinne. Und weil erst sie es ermöglicht, dass Kinder ein abstraktes Vorstellungsvermögen entwickeln – eine wichtige Voraussetzung für das Denken.
Heute weiss man: Nach wenigen Tagen erkennt das Baby den Geruch seiner Mutter
Sobald ein Baby nach der Geburt das erste Mal die Augen öffnet, erkennt es bereits seine Umwelt, allerdings nur in groben Zügen. Das liegt unter anderem daran, dass das Auge noch nicht in der Lage ist, sich auf verschiedene Objekte scharfzustellen. Zudem hat die „Sehgrube“ (ein winziger Bereich auf der Netzhaut, der Ort des schärfsten Sehens) noch nicht ihre komplette Ausstattung an lichtempfindlichen Sinneszellen erreicht. Auch kann ein Neugeborenes die Muskeln beider Augen nicht vollständig kontrollieren (deshalb schielt es häufig), und sein Gehirn errechnet aus den unterschiedlichen Blickwinkeln noch kein perfektes räumliches Abbild der Umgebung. Immerhin aber erkennt es sowohl Helligkeitsunterschiede als auch markante Linien oder kontrastreiche Muster. Auch dieses Wissen verdanken Säuglingsforscher der Präferenzmethode: Zeigen sie ihren Probanden abwechselnd graue Tafeln und schwarz-weiß gestreifte Bilder, ruht der Blick der Babys länger auf den Streifen. Ist das Muster hingegen zu fein, als dass das Kind es erkennen könnte, betrachtet es beide Bilder im Durchschnitt gleich lang. So ließ sich auch ermitteln, wie detailreich ein Säugling seine Umwelt wahrnimmt. In vielen Fällen dauert es rund acht Wochen, bis er scharf genug sieht, um etwa einen Teddybär von einer Puppe unterscheiden zu können. Trotz ihrer eingeschränkten Sehfähigkeit reagieren Babys zuverlässig auf etwas, das Nahrung oder Trost verheißt: das Gesicht. Schon wenige Stunden nach der Geburt schaut ein Neugeborenes lieber in ein Antlitz als auf einen ähnlich geformten unbelebten Gegenstand. Vermutlich ist sein Gehirn von Natur aus darauf programmiert, das Dreieck aus Augen, Nase und Mund zu erkennen.
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GEOkompakt Nr. 47 „Kindheit“.