Lesen Sie einen Auszug aus GEOEPOCHE Nr. 38 "Stalin"
1878-1914
1878
6. Dezember. Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, der spätere Josef Stalin, wird in der georgischen Stadt Gori als Sohn eines Schuhmachers und einer streng gläubigen analphabetischen Mutter geboren. Stalins Geburtsdatum ist nicht eindeutig überliefert; um 1900 erklärt er selbst den 21. Dezember 1879 zum Tag seiner Geburt.
1898
13.–15. März. In Minsk gründen neun Delegierte, die sechs Gruppen politischer Aktivisten vertreten, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR). Die Vereinigung strebt, von Karl Marx inspiriert, den Sturz des Zarenregimes an. Schon bald finden sich überall im Russischen Reich Gruppen zusammen, die sich zur SDAPR bekennen. Ab 1900 gibt der ins Münchner Exil geflohene Wladimir Iljitsch Uljanow (der sich später „Lenin“ nennt) gemeinsam mit anderen russischen Marxisten die Zeitschrift „Iskra“ („Der Funke“) heraus. Sie verbindet die Parteitheoretiker im Exil mit den Aktivisten im Russischen Reich, die in der Illegalität arbeiten müssen.
Mit der Veröffentlichung seiner programmatischen Schrift „Was tun?“, in der er die Theorie einer straff organisierten Kaderpartei entwirft, die die Arbeiterbewegung anführt, wird Uljanow 1902 zur Leitfigur einer radikalen Gruppe innerhalb der russischen Sozialdemokratie. Zu den Politkadern im Untergrund gehört ab etwa 1900 auch Dschugaschwili, der sich um 1912 „Stalin“ (sinngemäß: „der Stählerne“) nennt.
1903
Juli/August. Auf ihrem zweiten Parteitag spaltet sich die SDAPR in zwei Fraktionen: Die eine unter Lenins Führung will das Modell einer konspirativen Kaderpartei aus professionellen Revolutionären durchsetzen; die andere – der zeitweise auch Lew Dawidowitsch Bronschtejn, genannt „Trotzki“, angehört – plädiert für eine Massenpartei. Obwohl Lenin und seine Anhänger nicht in allen Fragen die Mehrheit des Parteitags für sich gewinnen können, nennen sie sich fortan „Bolschewiki“ (Mehrheitler), die Mitglieder der anderen Fraktion heißen nun „Menschewiki“ (Minderheitler). 1905 hat die SDAPR etwa 8000 Mitglieder.
1905
9. Januar. Mehr als 100 000 Arbeiter marschieren zum Sankt Petersburger Winterpalast, um dem Zaren eine Petition zu überreichen, in der sie höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, eine Verfassung und freie Wahlen fordern. Auf Befehl des Herrschers eröffnen Soldaten das Feuer, mehr als 100 Menschen sterben. Dieses Vorgehen, der hartnäckige Widerstand des Zaren gegen Reformen sowie die verlustreiche Niederlage seiner Armee im Krieg gegen Japan im Frühjahr 1905 befeuern die allgemeine, schon seit den 1870er Jahren gärende Unzufriedenheit mit dem Regime.
Liberale Kräfte, Unternehmer und aufgeklärte Beamte dringen seit Längerem auf mehr Mitbestimmung. Nachdem es bereits seit 1904 immer wieder zu Streiks gekommen ist, fordern nun Mitglieder aller gesellschaftlichen Schichten radikale Veränderungen. Im gesamten Reich finden Kundgebungen statt, Terroristen verüben Anschläge auf Beamte, töten einen Onkel des Zaren. Im Oktober 1905 bildet sich in Sankt Petersburg ein Rat („Sowjet“) der Arbeiterdeputierten, zu dessen Vorsitzendem Leo Trotzki gewählt wird. Das Gremium wird zum Koordinationszentrum
der Protestbewegung und Vorbild für Räte in anderen Städten.
Am 30. Oktober gibt der Zar dem Druck nach, um die Ordnung wiederherzustellen: Er verspricht bürgerliche Freiheiten, die Zulassung politischer Parteien und die Einführung eines Parlaments. Damit entspricht er den Forderungen seiner gemäßigteren Kritiker. Im Dezember schlagen Regierungstruppen den Arbeiteraufstand nieder und verhaften die Mitglieder des Petersburger Sowjets, darunter Trotzki. Auch viele andere Revolutionäre werden inhaftiert und verbannt.
Anfang 1906 wählen die männlichen Untertanen des Zaren erstmals in indirekter und ungleicher Wahl ihre Vertreter in ein Staatsparlament, die „Duma“. Bolschewiki und Menschewiki kandidieren nicht. Die Partei der Konstitutionellen Demokraten („Kadetten“) stellt die stärkste Fraktion.
1912
Januar. Auf einer Konferenz der SDAPR werden die Menschewiki aus der Partei gedrängt, die nun den Zusatz „Bolschewiki“ erhält. Stalin befindet sich in der Verbannung, wird aber auf Vorschlag Lenins hin ins Zentralkomitee (ZK, siehe Glossar) aufgenommen.
1914
19. Juli. Das Russische Reich tritt als Gegner der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg ein. Schnell führen die Kriegsanstrengungen zu einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise. Streikende Arbeiter, desertierende Soldaten und liberale Politiker, die immer lauter weitere Reformen verlangen, schwächen die Stellung des zaristischen Regimes. Die radikalen sozialistischen Parteien, vor allem die Bolschewiki, fordern ein schnelles Ende des Krieges und werden zunehmend populärer. Bis Februar 1917 wird die Armee des Zaren etwa fünfeinhalb Millionen Tote und Verletzte beklagen.
1917-1918
1917
23. Februar. Ein Streik von Textilarbeiterinnen in Petrograd (wie Sankt Petersburg seit 1914 heißt) wird zum Auftakt der Februarrevolution. Am 25. Februar weiten sich die Proteste aus zu einem Generalstreik, der die gesamte Hauptstadt lahmlegt. Tags darauf feuern Regierungstruppen auf Demonstranten, es gibt zahlreiche Tote.
Am 27. Februar schließen sich immer mehr Armeeeinheiten den Arbeitern an. Als sich die Revolte auf die gesamte Stadt ausbreitet und keine loyalen Truppen mehr zur Verfügung stehen, danken die Minister des Zarenkabinetts ab und fliehen aus der Stadt. Noch am selben Tag bilden liberale Abgeordnete der Duma auf Druck der meuternden Soldaten ein Notstandskomitee, das die Errungenschaften des Aufstands legitimieren und sichern soll.
Die Arbeiter organisieren einen eigenen Rat, den Petrograder Sowjet, in dessen Führungsgremien überwiegend Menschewiki, Parteilose sowie Sozialrevolutionäre sitzen und dem sich am 1. März auch die aufständischen Soldaten anschließen. Die meisten führenden Bolschewiki sind zu dieser Zeit im Exil und erreichen Petrograd erst Wochen später.
2. März. Zar Nikolaus II. tritt zugunsten seines Bruders, Großfürst Michail, zurück, der nach Absprache mit Duma-Abgeordneten sogleich auf den Thron verzichtet. In den Tagen zuvor hat sich Nikolaus geweigert, Kompromisse einzugehen, und stattdessen versucht, den Aufstand in der Hauptstadt mit Hilfe loyaler Frontverbände niederzuschlagen. Vertreter des Duma-Komitees und der Chef des Generalstabs, die dem Zaren nicht mehr zutrauten, die Kampffähigkeit der Truppen an der Weltkriegsfront aufrechtzuerhalten, verhinderten den Marsch der Frontverbände auf Petrograd und zwangen Nikolaus zur Abdankung.
Die Zarenfamilie wird einige Tage später unter Arrest gestellt. Pawel Miljukow, der Vorsitzende der Konstitutionellen Demokraten, ruft am 3. März die „Provisorische Regierung“ aus, die nun in heikler Koexistenz mit dem Petrograder Sowjet die Geschäfte führt. Ohne dessen Zustimmung, insbesondere in militärischen Fragen, kann sie keine Entscheidungen treffen.
3. April. Lenin kehrt mit deutscher Hilfe aus dem Schweizer Exil nach Petrograd zurück. Am Tag darauf fordert er in den „Aprilthesen“ den Sturz der Provisorischen Regierung und die Machtübernahme durch die Sowjets. Seine Anhänger Josef Stalin und Lew Kamenew haben als führende Funktionäre in Petrograd zuvor mit der Regierung kooperiert. Sie akzeptieren aber Lenins Vorstoß.
Weil die Provisorische Regierung nicht auf die Forderungen der Bauern und Arbeiter eingeht, die Grundbesitzer zu enteignen, das Land umzuverteilen und den Krieg zu beenden, verliert sie in den folgenden Monaten mehr und mehr
an Rückhalt in der Bevölkerung. Die Bolschewiki hingegen können sich im Herbst mit ihrem Ruf nach bedingungslosem Frieden, Verteilung des Landes an die Bauern sowie Kontrolle der Fabriken durch die Arbeiter die Mehrheit in den Räten in Moskau und Petrograd sichern.
25. Oktober. In der Nacht auf den 26. Oktober dringen Arbeiterbrigaden unter bolschewistischer Führung in den Winterpalast, den Sitz der Provisorischen Regierung, ein und zwingen diese zum Rücktritt. Bereits seit Mitte Oktober hat das bolschewistische Zentralkomitee einen bewaffneten Aufstand vorbereitet. Am 27. Oktober bilden Lenin und seine Genossen einen Rat der Volkskommissare, der bis zur Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung die Macht innehaben soll.
Lenin übernimmt den Vorsitz, Trotzki das Amt des Kommissars für Äußere Angelegenheiten, Stalin das für Nationalitätenfragen. Die Regimenter an der Front werden aufgefordert, Waffenstillstandsverhandlungen zu führen; kriegsmüde Bauern verlassen daraufhin zu Tausenden die Truppen.
7. Dezember. Auf Initiative Lenins wird eine Geheimpolizei gegründet, die Tscheka (russ. Abkürzung für
„Außerordentliche Kommission“). Schon im Juni 1918 zählt die Tscheka 12 000 Mann, im Januar 1919 etwa 37 000 und im Spätsommer 1921 137 000 Mann. Die Truppe soll die Diktatur der Bolschewiki mit aller Härte absichern.
Sie geht gegen politische Gegner vor, überwacht die Verstaatlichung der Industrie, beschlagnahmt gewaltsam Getreide, schlägt neuerliche Arbeiter- und Bauernproteste nieder. Allein im Herbst 1918 erschießen Tschekisten mehr als 10 000 Menschen standrechtlich.
1918
5. Januar. Die Verfassunggebende Versammlung tritt zum ersten – und zugleich letzten – Mal zusammen. Bei den seit Mitte November abgehaltenen Wahlen haben die Bolschewiki nur rund ein Viertel der Stimmen erhalten. 62 Prozent gingen an andere sozialistische, 13 Prozent an bürgerliche Parteien. Als die Versammlung sich weigert, die Macht der Sowjets bedingungslos anzuerkennen, lässt Lenin sie auflösen. Der Putsch der Bolschewiki ist komplett.
In der ersten Hälfte des Jahres 1918 treiben die Bolschewiki die Vertreter der anderen sozialistischen Parteien aus den Sowjets, übernehmen alle wichtigen staatlichen Einrichtungen, enteignen Grundbesitzer und verstaatlichen die Banken sowie die großen Industriebetriebe.
3. März. Eine bolschewistische Delegation unterschreibt in Brest-Litowsk einen Friedensvertrag mit Deutschland. Lenin hat zuvor gegen den Widerstand seiner Genossen die Bedingungen für einen Friedensschluss akzeptiert: Russland verzichtet unter anderem auf die baltischen Provinzen und erkennt die Unabhängigkeit Finnlands und der Ukraine an. Es verliert ein Drittel seiner Bevölkerung, des Ackerlandes, der Eisen- und Kohlenindustrie. Die Sozialrevolutionäre, die im Dezember Lenins Rat der Volkskommissare beigetreten waren, verlassen daraufhin die Regierung und ebnen so den Weg zur bolschewistischen Alleinherrschaft.
17. Juli. Auf Befehl Lenins erschießt ein Exekutionskommando in Jekaterinburg die siebenköpfige Zarenfamilie. Die Leichen werden verbrannt und in einem Wald verscharrt.
Den vollständigen Text finden Sie in der gedruckten Ausgabe von GEOEPOCHE Nr. 38 "Stalin"