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Jerusalem Leseprobe: Im Zentrum des Glaubens

Sie ist die prächtigste Stadt des Heiligen Landes: Alljährlich kommen Zehntausende jüdischer Pilger nach Jerusalem, um Jahwe zu huldigen

Lesen Sie einen Auszug aus GEOEPOCHE "Das Heilige Land":

Die kleinen Straßen winden sich die Ostseite des Ölbergs hinauf, durch Weiler wie Betfage und Bethanien. Hunderte

Pilger steigen an diesem Herbsttag den Berghang empor, staubbedeckt vom langen Weg durch die Steinwüste: Männer und Frauen aus Galiläa, Familien aus Jericho, Bauern aus der Umgebung, die Lämmer mit sich treiben. Denn die ersten männlichen Jungen der Mutterschafe sollen im Tempel geopfert werden.

Eine spätere Zeitrechnung wird dies das Jahr 7 nach Christus nennen. Für die jüdischen Pilger aber ist es das Jahr

3768 – und das Jahr 2 der römischen Besatzung. Ein Jahr ist vergangen, seit Kaiser Augustus den unfähigen Sohn und Nachfolger Herodes des Großen nach Rom zitiert und später verbannt hat; seither ist Judäa der römischen Provinz Syrien unterstellt.

Die meisten Menschen, die den Ölberg erklimmen, sind im vergangenen Jahr gezählt worden, auf Befehl des syrischen Legaten Quirinius: Er wollte wissen, wie viel Kopfsteuer aus diesem neuen Teil des römischen Reiches zu erwarten ist, ein Denar pro Einwohner.

Und mancher Pilger kennt sicherlich die Gerüchte von religiösen Eiferern, die gegen die Römer kämpfen wollen. Judas der Galiläer etwa verdammt die neue Steuer und geißelt jegliche Verehrung des römischen Kaisers: Keiner Gottheit und keinem Menschen dürfe neben Jahwe gehuldigt werden. Schon sammeln sich militante Fromme um den Galiläer, wächst das Grüppchen, langsam noch, zu einer Bewegung an.

Nach tagelangen Märschen erreichen die Pilger die Heilige Stadt

Doch wer die 1200 Meter aus dem Jordangraben erklommen hat, wer die Passhöhe erreicht, der denkt zumindest einen Augenblick lang nicht mehr an Politik und fremde Mächte. Plötzlich liegt sie vor den Pilgern: die Heilige Stadt,

der Mittelpunkt des Judentums.

Viele Reisende haben seit Tagen nur abgeerntete Felder gesehen, knorrige Olivenbäume, die flachen Steinbauten der Bauern, Ziegenherden, Weinstöcke, an denen die letzten nicht gelesenen Trauben vertrocknen. Ein Land, das auf den Herbstregen wartet.

Jetzt blicken sie hinab auf eine der prachtvollsten Kapitalen des römischen Imperiums. Zehn Maß Schönheit verteilte Gott an die Welt, so wird es dereinst im babylonischen Talmud heißen, und neun Maß erhielt Jerusalem. Keine Stadt Judäas gleicht ihr. Die Abendsonne, die hinter dem gegenüberliegenden Hügel untergeht, zeichnet Licht und Schatten auf die steinernen Mauern der Stadt. Im Westen ragt der Palast des Herodes empor, des größten Bauherrn von Judäa. Seit elf Jahren ist der König tot, doch Jerusalem erinnert noch überall an ihn.

Drei mächtige Türme bewachen seinen Palast: Phasael, Hippicus und Mariamne. Der Bau liegt unmittelbar an der Stadtmauer, die Herodes mit vielen Wachtürmen verstärken ließ. Die Mauer umfasst die gesamte Kapitale – läuft Täler entlang, die Jerusalem zum Teil wie ein natürlicher Graben umschließen, erklimmt Hügel, überquert das Tyropoion-Tal, das das Gassenlabyrinth der Unterstadt durchschneidet, erstreckt sich am Fuß des Ölbergs und umschließt auf der anderen Seite der Stadt die größte Herrlichkeit von allen: den Tempel. Die Wohnstatt des einzigen Gottes, das heilige Zentrum der Heiligen Stadt im Heiligen Land.

Der Tempel ist der größte Sakralbau der römischen Welt

Herodes hat die Grundfläche des Tempelgeländes verdoppeln lassen – jetzt ist es die größte Sakralanlage der römischen Welt. Auf einem gewaltigen, annähernd rechteckigen, mit Steinen senkrecht ummauerten Fundament – dem Tempelberg – ruhen die Außenmauer sowie die Tempelgebäude, die von ihr umschlossen werden.

Bis zu 40 Meter ragt der Steinkoloss empor, auf einem Areal von mehr als 140 000 Quadratmetern. Im Abendlicht leuchten die Fassaden der Tempelbauten aus weißem Marmor, mancher Betrachter mag sich an einen schneebedeckten Hügel erinnert fühlen.

Über die Außenmauern erhebt sich strahlend das Heiligtum in der Mitte des Tempelbergs. Die goldenen Spitzen auf seinem Dach funkeln. Doch die Pracht des sakralen Gebäudes wird von einem für Juden höchst frevelhaften Bau gestört: der Burg Antonia an der Nordseite des Tempelbergs. Herodes hat sie errichtet, um seine Untertanen zu kontrollieren. Eine Kohorte Soldaten ist dort stationiert, direkt neben dem heiligsten Ort des Judentums.

Jerusalem: Die inneren Tempelgebäude liegen jenseits einer unscheinbaren Steinbalustrade (unten links), hinter die bei Todesstrafe kien Nicht-Jude treten darf. Jüdische Frauen müssen in einem Vorhof warten (rechts), während die Männer vor dem goldverzierten eigentlichen Tempel Priestern ihre Tiere für das Brandopfer übergeben. Das Allerheiligste im hinteren Teil des Bauwerks betritt niemand außer dem Hohepriester - und auch der nur einmal im Jahr
Die inneren Tempelgebäude liegen jenseits einer unscheinbaren Steinbalustrade (unten links), hinter die bei Todesstrafe kien Nicht-Jude treten darf. Jüdische Frauen müssen in einem Vorhof warten (rechts), während die Männer vor dem goldverzierten eigentlichen Tempel Priestern ihre Tiere für das Brandopfer übergeben. Das Allerheiligste im hinteren Teil des Bauwerks betritt niemand außer dem Hohepriester - und auch der nur einmal im Jahr
© Jochen Stuhrmann für GEO EPOCHE

Die Pilger steigen hinab in das Kidron-Tal, einen steilen Graben östlich der Mauern Jerusalems. Sie kommen an Monumentalgräbern vorbei – die Stadt ist von Nekropolen umgeben. Denn nichts ist unreiner als der Tod, deshalb darf innerhalb der heiligen Mauern niemand bestattet werden, darf ein Leichnam nicht einmal über Nacht in Jerusalem bleiben.

Doch der Weg ins Kidron-Tal ist eher tröstlich als bedrückend: Wer hier zur ewigen Ruhe gebettet ist, liegt im Angesicht des Tempels. Vor allem die Grabmale der Reichen und Mächtigen, der Toten aus den Familien der Hohepriester, säumen den Weg der Pilger.

Hier – etwa auf dem Landgut Gethsemane, dem „Ort der Olivenpresse“ – spenden Olivenbäume Schatten, bieten

Wiesen Platz zum Lagern, öffnen sich kühle Höhlen und Grotten, in denen die Pilger übernachten können, auch Zelte hat die Stadt aufschlagen lassen. In der Nähe verkaufen Händler Opfertiere.

Einige Pilger biegen deshalb vom Weg ab und suchen sich bereits hier einen Platz für die Nacht. Die anderen nähern sich der Stadtmauer. Der Hohe Rat, in dem Männer aus der Oberschicht Recht sprechen und Verwaltungsaufgaben für die Römer übernehmen, hat vorgesorgt für die Gäste, hat Bäume pflanzen lassen als Sonnenschutz, die Straßen und Wege rechtzeitig ausgebessert und kostenlose Schlafplätze eingerichtet.

Dreimal im Jahr sollen männliche Juden zum Tempel pilgern

Die 40 000 Einwohner Jerusalems sind es gewöhnt, dass sich mehrmals im Jahr ihre Zahl vervielfacht. Dreimal jährlich sollen männliche Juden zum Tempel pilgern, so befiehlt es die Tora: an Passa im Frühling, wenn an den Auszug aus Ägypten erinnert wird, zu Schawuot im Frühsommer, an dem die Gläubigen die Weizenernte feiern, und zum Laubhüttenfest Sukkot im Herbst.

Zu diesem sieben Tage dauernden Fest strömen die Pilger nun in die Stadt, und wie immer sind es mehr als zu den anderen Feiern. Denn wer hat schon Geld und Muße, um im Frühling während der Aussaat eine Reise zu machen? Oder im Sommer, während der Ernte?

Nun aber sind die Trauben verlesen, alle Früchte gepflückt, und das Getreide ist eingebracht. Auch Bauern und Landarbeiter können jetzt die Höfe für einige Tage den Frauen und Alten überlassen und ihre Pflicht vor Gott erfüllen. Es ist eine angenehme Pflicht: Viermal in sieben Jahren sollen die Gläubigen einen Zehnt ihrer Ernte in Jerusalem verbrauchen, als Opfer – und als Festessen.

Keine Feier ist fröhlicher und ausgelassener als das Laubhüttenfest. In den kommenden sieben Tagen werden die Menschen Gott für die Ernte danken und ihn um Regen bitten. Die Nächte werden viele von ihnen in Hütten aus Zweigen verbringen, gedeckt mit Palmwedeln und Weinreben. Diese Tradition geht vermutlich auf die Unterkünfte der Erntearbeiter zurück, inzwischen aber haben die Gelehrten sie umgedeutet: Auf diese Weise soll der Fürsorge Gottes während des Auszugs aus Ägypten gedacht werden.

Wer in der Nähe wohnt, hat seine Tiere mit sich getrieben. Doch die meisten Pilger tragen den Zehnt in einem Lederbeutel am Gürtel: Sie werden mit ihrem Geld morgen in Jerusalem Opfertiere erwerben.

Im Kidron-Tal trennen sich wahrscheinlich die Wege der Pilger. Die meisten folgen der Stadtmauer nach links in die Unterstadt, auf der Suche nach einem einfachen Schlafplatz. Einige Reiche biegen dagegen nach rechts ab, um am Tempel vorbei in die Oberstadt zu gelangen. Möglicherweise betreten sie die Stadt durch das Nordtor.

Die gewaltigen Holztore stehen offen, auf den Türmen halten Soldaten Wache. Im Schatten des Torbogens sitzen Geldwechsler, einige Männer stehen herum und widmen sich dem Glücksspiel. In der Oberstadt kommen viele wohlhabende Pilger in den Villen von Freunden oder Verwandten unter. Welch ein Unterschied zu den bäuerlichen Gehöften, die sie auf dem Weg nach Jerusalem gesehen haben! Die Reichen der Stadt, die Zolleintreiber, Gutsbesitzer und der Hohepriester, leben modern.

Die hellenistischen Machthaber haben die Städter verändert

Die jahrhundertelange Herrschaft hellenistischer Machthaber mag wenig Einfluss auf die bäurische Lebensweise in Galiläa gehabt haben, die Städter aber hat sie verändert. Sie kleiden sich wie die Griechen, mit einem Unterkleid und einem zum Mantel drapierten Tuch darüber, sie sprechen Griechisch, und sie philosophieren über die Tora, als sei sie ein Werk von Platon oder Aristoteles.

Herodes hat hier sogar ein Theater nach hellenistischem Vorbild bauen lassen, in dem griechische Tragödien gegeben werden – in den Augen konservativer Juden eine Gotteslästerung. Latein spricht zwar kaum jemand, nur einige militärische Ausdrücke durchsetzen die Sprache. Ihre Villen aber haben die Reichen nach römischem Modell gebaut.

An diesem Tag im Jahre 7 begrüßt wohl auch der Besitzer des Hauses gegenüber der Südwestecke des Tempelgeländes seine pilgernden Gäste. Es ist eines der größten Gebäude der Oberstadt – Überreste werden Archäologen zwei Jahrtausende später freilegen. Die Frau des Hauses mag sich besonders zurechtgemacht haben für diesen Tag: das Gesicht weiß gepudert, Augenbrauen und Wimpern geschwärzt, die Adern an den Schläfen blau hervorgehoben, auf dem Kopf eine Krone aus Gold.

Vielleicht hat sie ihre Locken mit Bienenwachs hochfrisiert. Diese Frisur ist derart kompliziert gesteckt, dass eine religiöse Vorschrift es der Frau verbietet, die Haare am Sabbat zu lösen – sie würde damit gegen die Verbote des „Bauens“ und „Abbauens“ verstoßen: Tätigkeiten die, wie andere Arbeiten auch, am Ruhetag untersagt sind.

Die wohlhabenden Pilger, so lässt sich vermuten, folgen ihren Gastgebern einige Stufen hinab ins Vestibül mit einem prächtigen Mosaik in Form einer Rosette. Sie bewundern sicherlich die roten und gelben Fresken in einem Raum und den Stuck auf Wänden und Decken eines anderen. Dann treten sie in den großzügigen Innenhof.

Den vollständigen Text können Sie in der Ausgabe von GEOEPOCHE zum Thema "Das Heilige Land" nachlesen.

GEO EPOCHE Nr. 45 - 10/10 - Das Heilige Land

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