Keine deutsche Sage ist von den Dramen der Völkerwanderung stärker durchdrungen als das Nibelungenlied. Mehr als 600 Jahre später verfasst, kündet das Epos wie ein ferner Spiegel von zentralen Ereignissen und Figuren jener ruhelosen Ära. Der Autor des Nibelungenliedes – vermutlich ein gebildeter Mann, der um 1200 am Hof des Passauer Bischofs wirkte – erzählt in seiner Sage die Geschichte der Prinzessin Kriemhild und ihres Bruders Gunther, der mit zwei weiteren Brüdern (Gernot und Giselher) sowie dem Berater Hagen von Tronje über das Burgunderreich zu Worms am Rhein herrscht. Eines Tages erscheint dort Siegfried, Königssohn aus einem Nachbarreich, und wirbt um Kriemhild. Doch Hagen warnt die Burgunder: Siegfried habe in einem fernen Reich die Söhne des Königs Nibelung erschlagen und deren Schatz geraubt sowie eine Tarnkappe, die unsichtbar mache und übermenschliche Kräfte verleihe. Zudem habe er einen Drachen erstochen und in dessen Blut gebadet, was seine Haut unverwundbar machte (bis auf eine kleine Stelle zwischen den Schultern).
Trotz der Warnungen Hagens wird Siegfried gastlich aufgenommen. Doch bevor er Kriemhild heiraten darf, soll er Gunther helfen, die isländische Königin Brünhild als Frau zu gewinnen, die über magische Kräfte verfügt, solange sie jungfräulich bleibt. Siegfried erfüllt dem Burgunderkönig diese Bitte: Verborgen dank der Tarnkappe, ringt er Brünhild nieder, sodass Gunther ihr die Jungfräulichkeit nehmen kann. Viele Jahre später verrät Kriemhild Brünhild, dass Gunther sie einst nur mit Siegfrieds Hilfe bezwungen hat. Brünhild fordert von Gunther daraufhin den Tod des Drachentöters, und Hagen schreitet zur Tat: Er stößt seine Lanze in Siegfrieds einzige verwundbare Stelle – und versenkt den Nibelungenschatz im Rhein. Kriemhild sinnt nun auf Rache für den Tod ihres Mannes. 13 Jahre lang muss sie machtlos am Hof Gunthers leben, ehe Etzel, der mächtige König der Hunnen, um ihre Hand bittet und sie sein Werben erhört. Als sie weitere Jahre später ihre Brüder an den Hunnenhof lädt, wittert Hagen eine Falle.
Dennoch ziehen die Könige samt Gefolge zum Palast von Etzel. Fortan nennt der Dichter der Sage die Burgunder „Nibelungen“: Der Schatz hat erst den Söhnen König Nibelungs und dann Siegfried den Tod gebracht, und bald wird sein Fluch auch Gunther und seine Brüder treffen. Tatsächlich flammt an Etzels Hof tödlicher Streit auf. Die Nibelungen fechten gegen die Hunnen sowie germanische Gefolgsleute Etzels, darunter Dietrich von Bern. Kriemhild lässt, außer sich vor Rachsucht, ihren Bruder köpfen und erschlägt Hagen mit eigener Hand – ein so unerhörter Akt, dass Dietrichs Waffenmeister wiederum Kriemhild niederstreckt. Am Ende sind alle Nibelungen gefallen, Kriemhild ist tot, der Schatz für immer im Rhein verschwunden.
Eine finstere Geschichte – die aber trotz aller literarischen Verfremdung in Teilen indirekt auf historischen Begebenheiten beruht. Denn der Autor hat für das Werk Sagen umgeformt, die seit Jahrhunderten in Europa erzählt werden und die dramatische Ereignisse aus der Zeit der Völkerwanderung spiegeln, etwa:
• den Einfall der Hunnen,
• den Untergang der Burgunder,
• den Aufstieg der Ostgoten.
I. Die Hunnen:
445 steigt Attila zum alleinigen König der Hunnen auf; aus seinem Namen wird später im Mittelhochdeutschen „Etzel“. Seine Hauptresidenz errichtet er wohl in einer Ebene östlich der Donau. Bald nach Attilas Tod 453 wird berichtet, seine burgundische Nebenfrau Ildiko habe ihn ermordet, um Verwandte zu rächen. Der Name Ildiko wiederum bedeutet auf Deutsch „Hildchen“, eine Verniedlichung jedes Frauennamens, der mit „Hild“ beginnt oder endet – wie etwa Kriemhild.
II. Die Burgunder
Im Jahr 407 gründet deren König Gundahar am Rhein ein Reich. Knapp 30 Jahre später besiegt ein römischer Heermeister die Burgunder in einer Schlacht; Gundahar und fast alle seine Adeligen fallen, die Überlebenden werden rund um den Genfer See angesiedelt. Dort wächst ein neues Reich heran, in dem noch fast 100 Jahre lang burgundische Könige herrschen – einem traditionellen Brauch folgend, oft mehrere Brüder gemeinsam. Eine Rechtssammlung überliefert den Namen von König Gibica und dessen Söhnen Gundahar, Gislahar und Gundomar: eine starke Ähnlichkeit zu den drei Königen des Nibelungenliedes.
III. Die Ostgoten
Einer der mächtigsten Herrscher der Völkerwanderungszeit ist Theoderich, der bis zu seinem Tod im Jahr 526 das ganz Italien umfassende Reich der Ostgoten von seinen Residenzstädten Ravenna und Verona aus regiert. Aus dem Namen Verona wird in der Nibelungensage durch Lautverschiebung und -verkürzung der Name „Bern“. Und aus Theoderich: „Dietrich“.
Das Ostgotenreich überdauert sein Dahinscheiden nur um wenige Jahrzehnte, das Reich der Burgunder wird im 6. Jahrhundert von den Franken erobert, das Hunnenreich zerfällt bald nach Attilas Tod: in allen drei Fällen gewaltige Schlachten, Glanz, dann jähe Katastrophe und Erlöschen – jedes Mal wiederholt sich das Muster.
Und so wird die Geschichte der drei untergegangenen Reiche schon bald zu einer häufig erzählten Sage, werden die dramatischen Ereignisse und bedeutenden Persönlichkeiten zur Inspiration der Liedersänger.
Auch andere Motive des Nibelungenlieds deuten auf die Zeit der Völkerwanderung hin – etwa der Schatz. Tatsächlich werden in jenen Jahrhunderten häufig Kostbarkeiten versteckt: Gold, Silber, Münzen, Geschirr, Waffen, Schmuck. Mal vergräbt man sie aus Angst vor heranrückenden Feinden, mal gehen sie in Flüssen verloren, wenn Plünderer über die Gewässer setzen. So werden Wissenschaftler später 70 Kilometer südlich von Worms in einem Altarm des Rheins mehr als 1000 Münzen, Messer, Schalen, Siebe, Teller und andere Metallobjekte finden: gut 700 Kilogramm insgesamt.
Zudem bewahrt die Nibelungensage womöglich sogar Relikte aus noch früheren Zeiten auf: Manche Gelehrte vertreten die These, dass Siegfried ein reales Vorbild in dem germanischen Fürsten Arminius hat, der im Jahr 9 n. Chr. die Legionen des römischen Feldherrn Varus vernichtete. Ein Indiz sind die überlieferten Namen: „Arminius“ ist lateinisch, doch der römische Schriftsteller Tacitus nennt zusätzlich die germanischen Namen von Vater, Schwiegervater und Schwager des Arminius: Alle beginnen mit der Vorsilbe „Sieg“/„Seg“.
Dennoch bleibt die Verbindung von Sagengestalt zu realer Person letztlich willkürlich. Denn selbst wenn die Heroen des Nibelungenliedes tatsächlich auf echte Krieger zurückgehen – im Mythos sind ihre Taten fast bis zur Unkenntlichkeit verändert worden.