Lesen Sie einen Auszug aus der neuen Ausgabe von GEOEPOCHE EDITION zum Thema "Expressionismus":
So muss es vor dem Sündenfall gewesen sein – vor der Zeit der Fabriken, der Luftschiffe und der Neurasthenie. Bevor die Städte wuchsen, Korsette und steife Krägen die Menschen einzwängten. Bevor die strengen Väter die Welt erstickten: die Oberamtsräte, die Schulmeister, die Pfarrer und die Offiziere – und schon seit gut 20 Jahren Kaiser Wilhelm II.
An den Moritzburger Teichen werfen Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Max Pechstein die Kleider ab und die Hemmungen. Morgens ziehen sie los, bepackt mit Leinwänden, Farbkästen, Pinseln und Zeichenutensilien, begleitet von Frauen und Mädchen mit Taschen voller Proviant. Sie lassen sich nieder am schilfbestandenen Ufer, zwischen Büschen und Eichen, Kiefern und Birken.
Dann ziehen sie sich aus, rennen ins Wasser, baden und tollen durch das Gebüsch, spielen Ball und machen Bocksprünge. Sie schießen mit dem Bogen und werfen den Bumerang. Sie planschen und spritzen, bewerfen einander mit Schilf. Sie umarmen die Frauen und Mädchen, essen und trinken oder lungern einfach im Gras. Und sie halten das bukolische Treiben in Skizzen und Aquarellen fest, als Vorlagen für Gemälde und Holzschnitte.
Und wenn der Ortsgendarm wegen „gröblicher Versündigung gegen die Sittlichkeit“ einschreitet, rollen sie die Leinwände auf, nehmen die Keilrahmen auseinander und wickeln sich die Kleider um die Köpfe. Dann schwimmen sie zu einer Insel hinüber und malen im blickdichten Gesträuch weiter.
Leben wie ein wilder Volksstamm
Vorzeitliche Tage! An diesen Teichen, 15 Kilometer nordwestlich von Dresden, führen sie im Sommer 1910 „ein Leben in der Art eines wilden Volksstammes“, wie ein Kunstsammler ihnen bescheinigt. Es gibt ja „nichts Reizvolleres“, schreibt Kirchner dem Kunstfreund, „als Akte im Freien“.
Kirchner ist ein Draufgänger, ein nervöser Genialiker, belesen und intelligent, doch auch reizbar und misstrauisch wie ein Tier. An der Königlich Sächsischen Technischen Hochschule in Dresden hat er sein Architekturstudium mit der Note „Gut“ abgeschlossen – jetzt will er nur noch für die Malerei leben. Mit drei Kommilitonen, dem zerbrechlichen Erich Heckel, dem rührigen Fritz Bleyl und dem wortkargen Karl Schmidt, der sich nach seinem Geburtsort bei Chemnitz „Schmidt-Rottluff“ nennt, hat er am 7. Juni 1905 die „Künstlervereinigung Brücke“ gegründet.
Heckel wurde „Schriftführer“ und mietete für acht Mark monatlich in der Berliner Straße einen verlassenen Fleischerladen als Hauptquartier, das sie mit selbstgezimmerten Hockern ausstaffierten, „dazu Vorhänge aus Batik“. Bald kamen weitere Mitstreiter hinzu – unter ihnen der herzliche Norddeutsche Emil Nolde, der lebensfrohe Sachse Max Pechstein, später der in sich gekehrte Otto Mueller aus dem Riesengebirge.
Die „Brücke“-Gründer haben Malerei nicht studiert, sie scheren sich nicht um „dieses Sumsilarium um Technik, Studium, Talent“, wie Kirchner es nennt. „Unmittelbar und unverfälscht“, so heißt es in ihrem nur zwei Sätze umfassenden „Programm“ von 1906, wollen sie ausdrücken, was sie „zum Schaffen drängt“.
Die Bilder sollen intensive Empfindungen offenlegen
Getreu der aktuellen Lehre des einflussreichen Wiener Kunsthistorikers Alois Riegl, der nicht das Können, sondern das Gefühl des Malers zum Maßstab der Kunst erklärt, gestalten sie nicht, was sie sehen, sondern was sie spüren: „Rein sinnlich instinktmäßig“ will Kirchner seine Empfindungen auf die Leinwand wuchten – Malerei als Punk-Rock des neugeborenen Jahrhunderts.
Sie pfeifen auf Distanz, Perspektive, Schattierungen, Nuancen oder Details. Auf ihren Bildern ragen kantige Figuren hart in den Raum, wie mit Äxten aus der Landschaft gehauen, roh, konturiert mit dicken schwarzen Linien.
Leuchtende, ungebrochene Farbflächen stehen Kante an Kante, schreien einander an, bilden flackernde Komplementärkontraste: rote Leiber vor grünem Wald; blaue Bäume über orangefarbenen Feldwegen. Und immer wieder schimmert die nackte, weiße Leinwand durch.
Das ist ein Affront gegen die pedantischen Historienschinken, die der Kaiser und sein Kunsthochschul-Direktor Anton von Werner so schätzen. Es macht sich auch nicht gemein mit dem dekorativen Ästhetizismus des Jugendstils oder dem Perfektionismus der „deutschen Impressionisten“ wie Max Liebermann, Max Slevogt und Lovis Corinth.
Mehr verdanken die Brücke-Maler Farb-Berserkern wie dem Niederländer Vincent van Gogh, dessen Malerei sie ab 1905 in Dresden und Berlin studieren können, oder dem Norweger Edvard Munch – auch wenn ihre Einladung an den Pionier, der Brücke beizutreten, ohne Antwort bleibt.
Der Südsee-Romantiker Paul Gauguin, von dem Heckel 1908 „einige wunderschöne Bilder“ gesehen hat, hat sie ebenfalls beeindruckt. Auch von den „Fauves“ haben sie gelernt, den „Wilden“ um den Franzosen Henri Matisse, die leuchtende Farben direkt und flächig auf die Leinwand bringen.
Doch wo die Franzosen mit Augenmaß und Delikatesse zu Werke gehen, um eine „Kunst voll Gleichgewicht, Reinheit und Ruhe“ zu schaffen, „ein Linderungsmittel, das die Seele milde glättet“, so Matisse, setzen die Deutschen auf die Wucht der Erregung.
Den vollständigen Text können Sie in der neuen Ausgabe von GEOEPOCHE EDITION zum Thema "Expressionismus" nachlesen.