Anzeige
Anzeige

Leseprobe: Leinwand voller Rätsel

Mitten in den Wirren der Revolution von 1918/19 malt der Künstler Max Beckmann einen albtraumhaften Überfall auf eine Kleinfamilie – für viele ein expressionistisches Sinnbild des gewaltvollen politischen Umbruchs. Aber vielleicht ist das Werk auch ganz anders zu deuten

Lesen Sie einen Auszug aus der neuen Ausgabe von GEOEPOCHE EDITION zum Thema "Expressionismus":

Nach Anbruch der Dunkelheit kommt das Grauen. Drei Männer sind in die enge Dachkammer eingedrungen und fallen über die Familie her, Vater, Mutter, Kind. Gerade noch war aufgetischt, mit Tafeltuch und Kerzenschein, jetzt stürzen Teller – und leiden Menschen.

Einer der Gewalttäter erwürgt den Hausherrn mit einem langen Stück Stoff, ein zweiter verdreht ihm den Arm. Die Frau, gefesselt, womöglich vergewaltigt, hängt halbnackt am Fenster, ihre Beine gespreizt. Der dritte Eindringling hat das Kind wie ein Beutestück gepackt. Vom heruntergerutschten Tischtuch und einem verkrampften Bein des Vaters halb verdeckt, jault ein Hund. Ganz vorn liegt eine erloschene Kerze – in der Kunst seit Jahrhunderten ein Symbol für den Tod.

Max Beckmanns Gemälde „Die Nacht“ überwältigt den Betrachter auf den ersten Blick. Durch die Gewalttätigkeit der albtraumhaften Szenerie, aber auch durch die explosive Wucht ihrer Darstellung: die verdrehten Perspektiven und Gestalten, die fahlen Farben, die klaustrophobisch verdichtete Komposition.

Vieles an dem Werk bleibt rätselhaft

Doch so drastisch und unverhohlen es ist – vieles an dem Bild bleibt bis heute rätselhaft, verschlüsselt. Wer sind die Männer, die die Familie drangsalieren? Was treibt sie zu ihrem teuflischen Werk? Welche Bedeutung hat die Frau mit den roten Haaren im Hintergrund? Unterschiedlichste, zum Teil widersprüchliche Anspielungen und Symbole durchziehen das eng gefüllte Tableau.

Selbst was zunächst klar erscheint, kann sich als komplex erweisen: Der Eindringling am rechten Bildrand etwa entspricht mit Bart, großem Kinn und proletarischer Schirmmütze den Bildern des russischen Revolutionsführers Lenin.

Dabei zitiert Beckmann hier auch das ferne Mittelalter: Er hat den Kopf des Mannes dem eines Bettlers auf einem Fresko nachempfunden, das um 1355 an die Wand einer Kirche in Pisa gemalt wurde und als großes Foto im Atelier des Künstlers hängt.

Und noch etwas stiftet Verwirrung: „Die Nacht“ gilt vielen als ein Hauptwerk des Expressionismus, obwohl der Maler sich dieser Bewegung nie zugehörig fühlt, sie für ihre „falsche und sentimentale Geschwulstmystik“ sogar verachtet. Sicher ist indes eines: Das Gemälde, das einen barbarischen, aus den Fugen geratenen Moment zeigt, entsteht in einer Zeit, die genau das ist – aus den Fugen geraten, chaotisch, brutal. Halblinks am unteren Bildrand hat Beckmann den schicksalhaften Entstehungszeitraum notiert: „August 18–März 19“.

Den vollständigen Text können Sie in der neuen Ausgabe von GEOEPOCHE EDITION zum Thema "Expressionismus" nachlesen.

Einbruch der Gewalt: Auf engsten Raum verdichtet Beckmann in der "Nacht" Brutalität und Chaos. Wahrscheinlich thematisiert er damit die Exzesse der Revolution. Gut möglich aber auch, dass das Bild das Schicksal seiner eigenen Familie verrätselt
Einbruch der Gewalt: Auf engsten Raum verdichtet Beckmann in der "Nacht" Brutalität und Chaos. Wahrscheinlich thematisiert er damit die Exzesse der Revolution. Gut möglich aber auch, dass das Bild das Schicksal seiner eigenen Familie verrätselt
© MaxBeckmann1918/1919

zurück zur Hauptseite

GEO EPOCHE EDITION Nr. 4 - 10/11 - Expressionismus

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel