Lesen Sie einen Auszug aus GEOEPOCHE Nr. 51 "Das China des Mao Zedong":
1893
26. 12. Mao Zedong kommt als Sohn eines Reisbauern im Dorf Shaoshan zur Welt, 1500 Kilometer südlich der Hauptstadt Beijing. In den Jahrzehnten zuvor ist das Kaiserreich von der Vormacht Ostasiens zu einer „Halbkolonie“ westlicher Staaten herabgesunken: Als die Regierung 1839 den langjährigen britischen Opiumhandel über Kanton (Guangzhou) – neben der portugiesischen Handelsstation Macau der einzige Außenhandelshafen für China – unterbinden wollte, griff Londons Flotte an.
1842 musste der Kaiser (der der mandschurischen Qing-Dynastie entstammt) die Hafenstadt Hongkong an Großbritannien abtreten und weitere Häfen dem britischen, später auch dem internationalen Handel öffnen, darunter Shanghai. Bis 1911 erzwangen weitere europäische Staaten sowie die USA ein Dutzend solch „ungleicher Verträge“, die unter anderem Ausländer der chinesischen Gerichtsbarkeit entzogen. Russland annektierte einen Teil der Mandschurei.
1894
Missernten im Kaiserreich. Bereits in den 20 Jahren zuvor sind mindestens zehn Millionen Chinesen verhungert, vor allem Landarbeiter sowie Kleinbauern. Denn die Äcker sind meist zu klein, die Pachtzinsen oft zu hoch – und der Staat ist zu schlecht organisiert, um helfen zu können.
Mao und seine Eltern müssen nicht hungern: Der ehrgeizige Vater hat sich zu einem wohlhabenden Bauern hochgearbeitet, die Familie bewirtschaftet einen Hektar Land. In den folgenden Jahren erwirbt Maos Vater zusätzliche Felder, stellt Knechte ein und baut einen Reishandel auf. Dennoch muss Mao – wie später seine drei Geschwister – schon als Sechsjähriger auf dem Hof mithelfen.
25. 7. Japanische Truppen marschieren in Chinas Tributstaat Korea ein. Zwar verhindert der Druck Russlands, dass Japan das Land annektiert, doch muss Beijing Korea im folgenden Jahr die volle Souveränität gewähren, zudem unter anderem die Insel Taiwan an Japan abtreten. Auch in anderen asiatischen Regionen hat China seinen Einfluss verloren: 1884 etwa hat Frankreich Beijings Vasallenstaat Annam (der etwa dem späteren Vietnam entspricht) erobert.
1898
Russlands Regierung zwingt China dazu, die mandschurische Halbinsel Liaodong mit der Hafenstadt Port Arthur (Lüshun) an das Zarenreich zu verpachten. Dort lässt sie einen Flottenstützpunkt einrichten. Etwa gleichzeitig pachtet das Deutsche Reich in der nordchinesischen Provinz Shandong Gebiete, die seine Truppen im Jahr zuvor besetzt haben. Dort errichten die Deutschen einen Flottenstützpunkt sowie einen Handelshafen in Tsingtau (Qingdao).
Angesichts der fortschreitenden Schwächung Chinas und der Hilflosigkeit der eigenen Regierung unterbreiten Gelehrte Kaiser Guangxu ein Reformprogramm, das die Erneuerung der Armee nach westlichem Vorbild, den Aufbau einer nationalen Industrie, die Modernisierung der Landwirtschaft, die Einrichtung von Schulen sowie den Ausbau der Infrastruktur vorsieht.
Viele dieser Vorschläge will der junge Herrscher umsetzen. Doch dann stellt ihn seine Tante, die „Kaiserinwitwe“ Cixi, unter Hausarrest und lässt führende Reformer hinrichten. Die 62-jährige Cixi – einst kaiserliche Konkubine – übt seit 1861 die tatsächliche Macht in China aus, gestützt auf den konservativen Hofstaat.
1900
Im Juni versuchen 25 000 Aufständische, ins Beijinger Diplomatenviertel einzudringen, um die Ausländer zu vertreiben. Denn die werden von den meisten Chinesen als Bedrohung gesehen: Eisenbahntrassen der Fremden durchschneiden Felder und Friedhöfe, Kaufleute machen mit billiger Importware traditionellen Handwerkern Konkurrenz, christliche Priester mischen sich in die Belange der Dorfgemeinschaften ein. Deshalb haben sich überall in Nordchina Widerstandsgruppen gebildet, von den Ausländern „Boxer“ genannt, weil sie sich anfangs mithilfe magischer Faustkämpfe Stärke holen wollen.
Als kurze Zeit später deutsche Truppen auf chinesische Soldaten schießen, unterstützt Cixi den „Boxer-Aufstand“. Doch bis zum Sommer schlägt ein Heer der Kolonialmächte die Revolte nieder: Soldaten plündern Beijing und ermorden mehr als 100 000 Chinesen. Nach dem Ende der Kämpfe wird China unter anderem eine Geldstrafe von 17 000 Tonnen Silber auferlegt, für deren Tilgung das Land bis 1910 etwa die Hälfte der Staatsausgaben
aufwenden muss.
1902–1906
Mao besucht die Grundschule. Damit gehört er zu einer Minderheit: 90 Prozent der Chinesen sind Analphabeten.
1904/05
Japans Marine erobert den russischen Stützpunkt Port Arthur, Tokyo wird zur vorherrschenden Macht in der rohstoffreichen Mandschurei (die weiterhin zu China gehört); Russlands Einfluss ist nun auf den Norden des Territoriums beschränkt.
1905
20. 8. Unter Führung des 39-jährigen Arztes Sun Yatsen vereinen sich in Tokyo drei oppositionelle Organisationen zur „Revolutionären Allianz Chinas“. Sun lebt seit zehn Jahren im Ausland und hat unter anderem in Großbritannien die Institutionen westlicher Demokratien studiert. Sein politisches Programm zur Wiedererlangung der Souveränität und Modernisierung Chinas fasst er bald in „Drei Volksprinzipien“ zusammen: „Volkstum“ – gegen Fremdherrschaft; „Volkswohl“ – gegen soziale Ungleichheit, „Volksrechte“ – in einer demokratischen Republik.
1907
Wie in China üblich, muss Mao, der inzwischen im väterlichen Betrieb arbeitet, ein von den Eltern ausgesuchtes Mädchen heiraten, um die Stellung der Familie im Dorf zu sichern. Doch er weigert sich, die Ehe mit Luo Yixiu anzuerkennen. Sie stirbt wenige Jahre später.
1908
14. 11. Kaiser Guangxu erliegt einer Arsenvergiftung. Viele Chinesen sind davon überzeugt, dass Cixi den entmachteten Monarchen hat ermorden lassen. Wenige Stunden später wird Guangxus zweijähriger Neffe Puyi als Kaiser inthronisiert. Cixi stirbt tags darauf an einem Schlaganfall. Mittlerweile haben sich in China mehrere oppositionelle Gruppen gebildet, die mit Sun Yatsens Revolutionärer Allianz in Verbindung stehen.
1909
Die von Puyis Vater geführte Regierung organisiert Wahlen zu Provinzversammlungen – den ersten Parlamenten. Wahlberechtigt sind nur wohlhabende und gebildete Männer.
1910
22. 8. Japan annektiert Korea, macht es zu seiner Kolonie. Entgegen dem Wunsch des Vaters setzt Mao seine Schulausbildung fort. Er liest unter anderem Bücher des Evolutionstheoretikers Charles Darwin und des Aufklärers Jean-Jacques Rousseau.
1911
9. 10. Nach einer Explosion in der Stadt Wuchang entdeckt die Polizei in den Trümmern eines Hauses ein Waffenlager und die Mitgliederliste einer revolutionären Gruppe. Daraufhin gehen die Rebellen, vor allem junge Offiziere, in die Offensive und besetzen eine Militärkommandatur. Innerhalb weniger Wochen erfasst der Aufstand große Teile Chinas: Armeeeinheiten und fast alle Provinzen kündigen dem Kaiser die Gefolgschaft auf. Zivilisten schließen sich den Kämpfern an, darunter Mao. Als Sun Yatsen vom Aufstand erfährt, reist er in seine Heimat.
29. 12. Eine Nationalversammlung aus Vertretern der Provinzparlamente wählt Sun, der durch die Aktionen seiner Revolutionären Allianz Ansehen genießt, zum „Provisorischen Präsidenten“. Sun verspricht, Maßnahmen zu ergreifen, um das Kaiserhaus zu stürzen und danach zurückzutreten.
1912
12. 2. Puyis Vater verzichtet für seinen Sohn auf den Thron. Daraufhin legt Sun Yatsen wie versprochen sein Amt als Provisorischer Präsident nieder.
10. 3. Eine provisorische Verfassung erklärt China zur Republik.
März. Nach dem Rücktritt Sun Yatsens übernimmt der konservative Militär Yuan Shikai das Amt des Präsidenten. Für viele Aufständische ist mit der Abdankung Puyis die Revolution beendet. Von Yuan erwarten sie, dass er die gewonnene Freiheit militärisch sichern wird.
25. 8. Sun Yatsens Revolutionäre Allianz schließt sich mit anderen Parteien zur Nationalen Volkspartei (Guomindang, GMD) zusammen. Doch Suns soziale Ziele, etwa eine Landreform, werden nicht ins Parteiprogramm aufgenommen.
Dezember. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung erhält die GMD die Stimmenmehrheit.
1913
15. 2. Tibet erklärt seine Unabhängigkeit von China. Der Dalai Lama, das geistliche und weltliche Oberhaupt des Staates, baut mit britischer Unterstützung eine eigene Armee auf. Chinas Präsident Yuan Shikai, der seine Position unter anderem durch die diplomatische Anerkennung der USA gefestigt hat, strebt die Alleinherrschaft an: Er setzt Guomindang-Gouverneure ab, schlägt einen Aufstand nieder und verbietet die GMD – deren Funktionäre nach Japan fliehen, in den Untergrund gehen oder ermordet werden. Dann ruft Yuan Shikai das Kriegsrecht aus, löst das Parlament auf und regiert China fortan als Diktator.
1914
November. Japanische Soldaten besetzen das Pachtgebiet des Deutschen Reichs (dessen Truppen durch den Weltkrieg in Europa gebunden sind) und zwingen Yuan Shikai zu einem Vertrag, der unter anderem Tokyos Stellung in der Mandschurei weiter stärkt.
1915
Dezember. Der durch den japanischen Angriff geschwächte Yuan Shikai proklamiert sich zum Kaiser. Als er aber wenige Monate später an Nierenversagen stirbt, fällt die Macht an untereinander zerstrittene Generäle sowie lokale Kriegsherren, warlords. Die Zentralregierung in Beijing – die nun wieder von einem Präsidenten geführt und von einem Parlament kontrolliert wird – ist praktisch machtlos.
1917
April. „Unserer Nation fehlt Stärke. Der militärische Geist ist nicht gefördert worden“, schreibt Mao, inzwischen Student an einem Lehrerseminar, in seinem ersten politischen Artikel. Wie viele junge Chinesen lehnt er die Herrschaft der Warlords ab. Seine Vorbilder sind in dieser Zeit starke Persönlichkeiten wie der chinesische Staatsmann Shang Yang (390–338 v. Chr.), ein Befürworter strenger Gesetze. In der Krise seines Landes sieht Mao jedoch Chan cen – auch für sich: In solchen Epochen entwickelten sich Männer zu Helden, notiert er.
1. 7. Ein Warlord proklamiert Puyi zum Kaiser. Doch schon zwei Wochen später wird der Elfjährige von anderen Kriegsherren wieder abgesetzt. In den folgenden Jahren lebt Puyi zurückgezogen in der „Verbotenen Stadt“.
14. 8. Als sich abzeichnet, dass Deutschland den Weltkrieg nicht gewinnen wird, erklärt Chinas Regierung Berlin den Krieg – in der Hoffnung, nach einem Friedensschluss die Souveränität über das deutsche Gebiet in der Provinz Shandong zurückzuerhalten.
31. 12. Der legale Opiumhandel wird in China eingestellt. Millionen Süchtige müssen die Droge nun bei Kriminellen kaufen.
1918
Nach bestandenem Lehrerexamen arbeitet Mao als Hilfsbibliothekar an der Beijing Universität. Dort lernt er den Studenten Zhou Enlai kennen, der zu seinem langjährigen Weggefährten wird. Um diese Zeit entdeckt Mao die Theorien des kommunistischen Vordenkers Karl Marx.
September. Chinas Regierung ernennt den Warlord Zhang Zuolin zum Generalinspektor der drei chinesischen Provinzen in der Mandschurei, in denen er mit Japans Unterstützung seit Langem eine starke Machtbasis hat. Ab 1920 weitet Zhang seinen Einflussbereich nach Südwesten aus und kontrolliert schließlich bis 1928 sogar die Politik der Zentralregierung in Beijing.
1919
4. 5. Mehrere Tausend Studenten demonstrieren auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ im Zentrum Beijings gegen den Versailler Friedensvertrag, der unter anderem bestimmt, dass Deutschland nach dem verlorenen Weltkrieg die Pachtgebiete in Shandong Japan übereignen muss. Als Chinas Regierung den Protest zu unterdrücken sucht, entsteht landesweit die „4.-Mai-Bewegung“, die auch von Unternehmern und Arbeitern getragen wird. Zu ihren Zielen gehören die Einheit und Modernisierung Chinas, manche Aktivisten streben eine Revolution nach russischem Vorbild an. Mao ist um diese Zeit bei seiner sterbenden Mutter. In seiner Heimatprovinz Hunan arbeitet er als Grundschullehrer, gibt politische Zeitschriften heraus und beteiligt sich an der Organisation von Streiks.
1920
In Beijing, Shanghai und anderen Großstädten bilden Aktivisten der 4.-Mai-Bewegung erste kommunistische Gruppen. Andere Oppositionelle schließen sich zu liberalen Vereinen oder anarchistischen Kreisen zusammen.
Dezember. Mao heiratet die 19-jährige Kaihui, die Tochter seines Mentors Yang Changji, der ihn am Lehrerseminar in Ethik, Logik und Psychologie unterwiesen hat. Das Paar zieht bald in ein kleines Haus in Changsha. Um diese Zeit bezeichnet er sich erstmals als Marxist.
Die vollständige Zeitleiste finden Sie in der gedruckten Ausgabe von GEOEPOCHE Nr. 51 "Das China des Mao Zedong".
