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Samstag, 4. April 2009, 3.30 Uhr morgens.
Verdunkelt schiebt sich die "Hansa Stavanger" durch den Indischen Ozean, etwa 740 Kilometer östlich der Küste Somalias. Das Containerschiff ist auf dem Weg vom Hafen Dschabal Ali in Dubai nach Mombasa im Süden Kenias. Die Positionslaternen sind ausgeschaltet, nicht einmal aus den Bullaugen dringt Licht - alles Vorsichtsmaßnahmen für die Passage durch Piratengebiet. Binnen eines Jahres ist die Zahl der Angriffe hier am Horn von Afrika um 200 Prozent gestiegen.
Frederik Euskirchen, der Zweite Offizier, hat sich für die Fahrt vor Ostafrika eine Glatze rasiert. In dem Seerevier herrscht ganzjährig drückende Schwüle, die Temperaturen gehören zu den höchsten weltweit, können im Sommer fast 50 Grad Celsius erreichen. Euskirchen hat vor dreieinhalb Stunden seine Wache angetreten, die erste des Tages zwischen null und vier Uhr morgens, die unter Seeleuten "Hundewache" heißt. Er ist 26 Jahre alt, jung für einen Zweiten Offizier. Gleich nach seiner ersten Fahrt als diplomierter Nautik-Ingenieur ist er befördert worden von der Hamburger Reederei Leonhardt & Blumberg, auf deren Schiffen er seit Beginn seines Studiums arbeitet. Euskirchen ist an Bord unter anderem für Sicherheit zuständig. Eigentlich gilt die "Hansa Stavanger" als nicht besonders anfällig für eine Kaperung. Die "Best Management Practices" der Schifffahrtsgesellschaften und Versicherungen, die Crews als Anleitung für die Fahrt durch Piratengebiete dienen, erwähnen ausdrücklich, dass erfolgreiche Kaperungen von Schiffen mit einer Geschwindigkeit von mehr als 15 Knoten (rund 28 km/h) nicht bekannt seien. Die "Hansa Stavanger" kann bei voller Fahrt und je nach Ladung 18 bis 19 Knoten erreichen.
Derzeit hat sie 542 Container als Fracht, 1550 wären möglich. Aber sie hat eine Schwachstelle: In der Mitte des 170 Meter langen Schiffes ragt die Bordwand nur etwa vier Meter über das Wasser. Täglich erreichen das Schiff Warn- und Überfallmeldungen anderer Crews, über Funk, per Fax und E-Mail. Die Offiziere tragen die Koordinaten in eine Übersichtskarte ein. Die Positionsangaben verraten ihnen, dass die Piraten immer weiter von der Küste entfernt angreifen. Sie plädieren deshalb für eine Routenänderung, für einen Umweg weiter hinaus auf den Indischen Ozean. Doch ein Umweg würde einen höheren Treibstoffverbrauch bedeuten und dadurch möglicherweise Probleme mit den Auftraggebern. Per E-Mail lässt der Kapitän Krzysztof Kotiuk seinen Zweiten Offizier bei der Reederei anfragen, ob sie eine Routenänderung befürworten würde. Die Antwort aus Hamburg ist eindeutig: Gemäß SOLAS, der UN-Konvention zur Sicherheit auf See, liege die Verantwortung für das Schiff allein beim Kapitän. Sofern es den Schutz des Schiffes betreffe, könne niemand für ihn entscheiden oder ihm einen Kurs vorschreiben. Kotiuk verzichtet auf einen Umweg.
Der gebürtige Pole ist in seinen Jahren auf See schon mehrmals mit Piraten in Kontakt gekommen. In der Straße von Malakka zwischen Malaysia und Sumatra standen sie plötzlich mit Messern auf der Brücke und raubten das Bargeld der Besatzung. Dass vor der Küste von Somalia sein gesamtes Schiff Piraten in die Hände fallen könnte, kann er einfach nicht glauben. Und wenn es doch passieren sollte, so denkt er, ist ja schließlich auch Hilfe in der Nähe. Denn im Dezember 2008 hat die EU die "European Naval Force Somalia" eingerichtet. Deren "Operation Atalanta", benannt nach einer Jägerin aus der griechischen Mythologie, soll das Seegebiet vor Somalia sichern. Die deutsche Marine ist mit vier Schiffen daran beteiligt. Neben der EU-Flotte patrouillieren noch Einheiten der Nato-Mission "Allied Protector" vor dem Horn von Afrika sowie knapp 20 weitere Kriegsschiffe mehrerer Nationen.
Regelmäßig beobachten zudem Aufklärungsflugzeuge das Revier. Die Überwachung konzentriert sich jedoch vor allem auf den viel befahrenen Golf von Aden, der das Rote Meer mit dem Indischen Ozean verbindet. Hier verläuft ein etwa 900 Kilometer langer, besonders abgesicherter Transitkorridor. Das Seegebiet zwischen dem Horn von Afrika und der Nordspitze von Madagaskar aber kann nicht flächendeckend kontrolliert werden.

Und seit das Militär vor der somalischen Küste präsent ist, bringen die Seeräuber ihre Boote immer weiter auf den Indischen Ozean hinaus - mithilfe von Mutterschiffen, meist größeren Fischtrawlern, die Schnellboote und Waffen transportieren können. Die Crew der "Hansa Stavanger" ist darüber informiert. Wöchentlich trainiert sie das Verhalten bei Piratenangriffen. Um die Reling ist Stacheldraht gewickelt, an Deck sind Feuerlöschschläuche ausgelegt. Mit Wasserbeschuss wollen die Seeleute Piraten am Entern hindern. Das Automatic Identification System, das Daten wie Name, Größe, Position, Geschwindigkeit und Kurs über Funk an Schiffe im gleichen Seegebiet übermittelt, um Kollisionen zu vermeiden, bleibt jetzt dauerhaft abgeschaltet. Jeder Wachmatrose muss auf sein UKW-Funkgerät verzichten, wenn er bei seinen nächtlichen Feuerrunden das Schiff auf Brandherde kontrolliert. Die verdunkelte "Hansa Stavanger" soll für die Piraten unsichtbar sein und unhörbar. Manchmal bekommt Frederik Euskirchen an Bord Nachrichten von seinem Vater, der weitere Abwehrmaßnahmen empfiehlt. Auch an diesem frühen Samstagmorgen warnt Christian Euskirchen seinen Sohn aus der mehr als 6000 Kilometer entfernten Heimat per Fax vor der Gefahr und schickt Bauanleitungen für Molotowcocktails.
Kurz bevor Euskirchen gegen vier Uhr morgens seine Wache an den Ersten Offizier übergibt, sendet er seinem Vater noch eine Antwort: Sie würden es schon heil durch das Piratengebiet schaffen.
9.00 Uhr
Die "Hansa Stavanger" fährt rund 330 Seemeilen (etwa 610 Kilometer) vor der somalischen Küste ungefähr auf Höhe der Hafenstadt Kismaju. Die See ist glatt, der Himmel wolkenlos. Für den Abend vor dem Einlaufen in Mombasa hat die Besatzung ein Barbecue geplant. Die philippinischen Elektriker haben bereits ein Spanferkel mariniert.

Die 24 Seeleute an Bord stammen aus einem halben Dutzend Ländern. Der Kapitän, sein Zweiter Offizier, der technische Offiziersassistent sowie zwei Kadetten (Auszubildende zum Schiffsmechaniker) sind Deutsche. Der Erste Offizier und der Leitende Ingenieur kommen aus Russland, Dritter Offizier und Maschinenschlosser aus der Ukraine, die beiden Bordelektriker von den Philippinen, ein Maschinist von den Fidschi-Inseln, die übrigen Maschinisten, Matrosen, Koch und Steward aus Tuvalu, einem Inselstaat im Pazifik zwischen Australien und Hawaii.
In der Kombüse bereitet der Koch das Mittagessen vor. Der Kapitän sitzt in seiner Kabine über den letzten Abrechnungen, die von Mombasa aus per Post an die Reederei verschickt werden sollen. Krzysztof Kotiuk hat seine Kabine im E-Deck. Es ist das fünfte Stockwerk im Deckshaus, einem weiß lackierten Stahlturm über dem Heck des Frachters. Im siebten und obersten Geschoss, dem G-Deck, liegt die Brücke. An diesem Morgen ist sie nur mit dem Dritten Offizier besetzt. Den Wachmatrosen hat der Kapitän mit Instandsetzungsarbeiten an Bord beauftragt.

Krzysztof Kotiuk, 60 Jahre alt, fährt erst seit einem Dreivierteljahr für die Reederei Leonhardt & Blumberg. Im Allgemeinen hält er nicht viel von Reedereien, sie achten, so empfindet er es, zu sehr auf den Profit und zu wenig auf das Wohl der Mannschaft. Kotiuk, impulsiv und laut, nimmt Dinge schnell persönlich. Mehr als einmal hat er sich mit Arbeitgebern überworfen. Nur wenig ist in seinem Berufsleben unkompliziert verlaufen, seit er nach einer Ausbildung zum Radiound Fernsehtechniker an der Marineschule im ehemaligen Stettin Navigation studierte.
Nach seiner Ausreise aus Polen Mitte der 1980er Jahre hat er sich lange mit befristen Aufenthaltsgenehmigungen und immer neuen Jobs in Bayern durchgeschlagen, als Möbelpacker, Messebauer, Fliesenleger.

An Bord eines Schiffs ging er in diesen Jahren nur selten und dann als Urlaubsvertretung. Für Sprachkurse blieb offenbar keine Zeit, seine Deutschkenntnisse sind auch nach vielen Jahren begrenzt. Erst als er ab 1998 wieder voll zur See fahren konnte, schließlich auch mit einem deutschen Kapitänspatent und der deutschen Staatsbürgerschaft, endete diese "verlorene Zeit", wie Kotiuk sagt - sein Leben als Niemand.
Jetzt bestimmte wieder der Rhythmus der Heuerverträge sein Leben, vier Monate auf See, zwei daheim in München, wo er mit seiner zweiten Frau Bozèna wohnt.
9.14 Uhr
Der Kapitän wird auf die Brücke gerufen. Der wachhabende Dritte Offizier meldet ein Schnellboot, das sich aus südwestlicher Richtung nähert. Als der Offizier den Kurs der "Hansa Stavanger" um 15 Grad nach Steuerbord ändert, folgt das Skiff sofort.
Der Kapitän löst Alarm aus.
Auf dem Radarschirm ist das Boot als Punkt zu sehen. Es schießt mit mehr als 22 Knoten Geschwindigkeit durchs Wasser. Der Kapitän ordnet eine Wende um 180 Grad nach Steuerbord an, um dem Boot auszuweichen. Selbst bei 110-prozentiger Maschinenbelastung schafft die Stavanger jetzt nur 18,2 Knoten. Auf Dauer kann sie den Verfolgern nicht entkommen. Als Frederik Euskirchen geweckt wird von dem lang gezogenen Alarmton und der Durchsage "vessel under pirate attack", denkt er sekundenlang an eine Übung. Bis ihm einfällt, dass jeder Drill von ihm selbst angesetzt werden muss.
Dann klingelt in seiner Kabine das Telefon. Zwei Minuten später steht er auf der Brücke. Als er das Piratenskiff hinter der Stavanger sieht, ist es nur noch anderthalb Seemeilen entfernt, ein knapp sechs Meter langes Schnellboot mit Außenbordmotor.
Auf der Brücke sind sie zu viert, Kapitän, Erster und Zweiter Offizier und ein Matrose als Rudergänger; er steuert das Schiff. Der Rest der Mannschaft hat sich im Aufenthaltsraum auf dem A-Deck versammelt, er ist im Sicherheitsplan des Schiffs im Falle eines Angriffs zur schützenden "Zitadelle" bestimmt. Euskirchen übernimmt die Krisenkommunikation. Über Funk setzt er einen Notruf ab und eine Meldung an die Sicherheitsbehörde UKMTO.
Das Büro der "UK Maritime Trade Operation" mit Sitz in Dubai, eingerichtet von der britischen Marine, sammelt Informationen über den Verkehr und die aktuelle Gefahrenlage in der Region. Schiffe, die von Piraten angegriffen oder bedroht werden, sind angehalten, sich möglichst sofort mit der Behörde in Verbindung zu setzen.
Über Satellitentelefon meldet sich Euskirchen in Dubai und beantwortet zunächst Fragen nach der Zahl der Boote und Piraten, ihrer Ausrüstung und Bewaffnung. Der Marineoffizier des UKMTO bleibt danach in der Leitung, um die Besatzung bei ihren Abwehrmanövern zu unterstützen.

Euskirchen fragt, ob Marine in der Nähe ist. Wäre ein schnelles Eingreifen eines Kriegsschiffs möglich, könnte sich die Besatzung in der Zitadelle verbarrikadieren und den Angriff abwarten.
Das nächste Schiff sei mehr als 600 Seemeilen entfernt, gibt der UKMTO-Offizier an. (Ob die Auskunft so gefallen ist oder ob es sich um ein Missverständnis handelte, ist heute nicht mehr zu klären. Tatsächlich beträgt die Distanz der "Hansa Stavanger" zur deutschen Fregatte "Rheinland-Pfalz" zu diesem Zeitpunkt wohl nur 250 Seemeilen. )
Das Schnellboot liegt nun fast gleichauf mit dem Containerschiff. Mit Gesten fordern die Männer in dem Skiff die Offiziere auf der Brücke der "Hansa Stavanger" auf, die Maschinen zu stoppen. Sekunden später schlägt eine Panzerfaust- Granate an der Steuerbordseite zwei Decks unter ihnen ein. Das Geschoss explodiert mit 2000 Grad Celsius und setzt die Kapitänskajüte in Brand. Während der Feueralarm auslöst, nehmen die Angreifer das Schiff mit Sturmgewehren unter Beschuss. Mit dem Satellitentelefon in der Hand wirft sich Euskirchen auf den Boden. Auf Knien legt er das Ruder um, um doch noch das Wendemanöver zu wagen, mit dem die "Hansa Stavanger" das Boot abdrängen will. Der Frachter dreht hart nach Steuerbord und wirft das Skiff zurück.
Die Piraten brechen den Angriff ab. Der Offizier des UKMTO gratuliert. Doch nur knapp fünf Minuten später starten die Räuber eine zweite Attacke, nun von der Backbordseite. Wieder trifft eine Granate das E-Deck, diesmal die Kammer des Leitenden Ingenieurs, durchschlägt einen Sessel und bleibt – ohne zu zünden - in der Wand stecken. Erneut wendet die "Hansa Stavanger" auf das Skiff zu, schiebt das Piratenboot beiseite und lässt es weit hinter sich in den Wellen zurück. Die Männer auf der Brücke jubeln. Doch Minuten später holt das Boot wieder auf.
Dem Zweiten Offizier gelingt es noch, die 24-Stunden-Hotline der Reederei anzurufen, ehe die Piraten zum dritten Mal angreifen, nochmals an der Steuerbordseite. Das Schnellboot hüpft auf den Wogen. Die dritte Granate verfehlt die Brücke nur knapp und explodiert in der Luft darüber.
Während der Rudergänger die Brandentwicklung im E-Deck prüft, übernimmt Euskirchen dessen Posten. Der Kapitän hält am Brückenfenster Ausschau. Euskirchen will ein erneutes Wendemanöver nach Steuerbord vorbereiten. Doch bevor er so weit ist, greift Kotiuk ein und legt das Ruder nach Backbord, um den Abstand zwischen Reling und Wasser durch eine Neigung des Schiffes zu erhöhen und ein Entern zu erschweren.
Minuten vergehen.
Euskirchen hat wieder die Kommunikation mit der UKMTO übernommen, der Erste Offizier das Ruder. Etwa 20 Meter unterhalb der Brücke hüpft das Skiff längsseits der "Hansa Stavanger" auf den Wellen. Die Piraten versuchen neben die niedrigste Stelle der Bordwand zu manövrieren. Dort angekommen, drosseln sie das Tempo, fahren nun gleichauf mit der Stavanger, richten an der stählernen Schiffswand eine mitgebrachte, mehr als vier Meter lange Metallleiter aus, deren gebogene Enden sich leicht in die Reling haken lassen.
Vom Fenster des Ruderhauses aus sieht der Kapitän, wie sie die wenigen Meter zwischen Deck und Wasserlinie überklettern.
Den vollständigen Text können Sie in der neuen Ausgabe von GEOEPOCHE "Piraten" nachlesen.