Liebe Leserin, lieber Leser
Kann es sein, dass wir bald 25 Jahre nach dem Mauerfall im nun vereinten Deutschland dazu neigen, die Unterdrückung in der DDR zu verharmlosen?
Natürlich ist wohl jedem von uns bewusst, wie in Ostdeutschland mit offener Opposition umgegangen wurde. Wissen wir sehr viel über den Spitzelapparat der SED und die unnachgiebige Verfolgung jeder Form von Widerstand durch die Stasi. Kennen wir die Berichte über Selbstschussanlagen an der Grenze und die Mauertoten.
Dennoch glauben heute viele von uns, dass man sich durchaus einrichten konnte im Alltag hinter dem "Antifaschistischen Schutzwall". Dass es zwar Einschränkungen gab in der Reisefreiheit, im Konsum, in der Meinungsfreiheit, es aber trotzdem möglich war, seine Nische zu finden fernab der Partei und dort einigermaßen ungestört zu leben - wenn man sich denn nur politisch zurückhielt.
Tatsächlich aber ließ es die SED nicht zu, dass sich jemand einigelte. Sie forderte mehr als nur stillschweigende Anpassung: Sie forderte sichtbare Unterwerfung unter das Primat der Partei. Und zwar in jedem Alter, in jeder Lebenslage, tagaus und tagein.
Bereits die Kindergärten hatten nach Vorgaben des Regimes den "sozialistischen Menschen" zu schulen. Vierjährige lernten die Kampflieder der Arbeiterbewegung, sie verinnerlichten (quasi im Gleichschritt) beim Spielen, beim Essen, beim Schlafen das Prinzip des Kollektivs; und selbst das (gern gesehene) Ballern mit kleinen Plastikpanzern war mehr als nur der übliche Spaß unter Jungen: Es sollte den Kindern die "Nationale Volksarmee" näherbringen.
Diese Ausrichtung der Erziehung setzte sich lückenlos fort. Fast alle Erstklässler traten den "Jungpionieren" bei, trugen nun Uniform, hatten dem Staat "Liebe" zu schwören und lernten bei Fahnenappellen sowie stets einstimmig verlaufenden Wahlen (etwa zu Klassensprechern), was die Partei fortan von ihnen erwartete. Mit zehn Jahren wurden die Kinder zu "Thälmann-Pionieren", mit 14 traten sie in die SED-gesteuerte "Freie Deutsche Jugend" ein, mit 15 trainierten sie im Sportunterricht das Werfen von Handgranaten.
Es folgte der Wehrdienst für junge Männer, eine vormilitärische Ausbildung für Frauen - und dann für sehr viele der Eintritt in die Partei: In den 1980er Jahren waren mehr als zwei Millionen Menschen Mitglied der SED, fast 20 Prozent aller erwachsenen DDR-Bürger.
Auch nach der Ausbildung ließ das Regime seine Untertanen nicht los: So gut wie alle Berufstätigen gehörten der Einheitsgewerkschaft an, die keine Interessenvertretung der Werktätigen war, sondern der lange Arm der SED in den Betrieben. Und wer nach der Arbeit Briefmarken tauschen wollte in einem Verein oder sich für Heimatkunde interessierte, unterlag der Kontrolle des staatlich gelenkten "Kulturbundes". Die Partei war immer dabei.
All jene, die sich dem verweigerten, hatten mit Konsequen-zen zu rechnen. Die durften trotz guter Noten oft nicht studie- ren, die bekamen einen miesen Arbeitsplatz, die versuchte die Staatsmacht durch Freunde oder Kollegen zu disziplinieren.
Und selbst wenn einer brav all das tat, was von ihm erwartet wurde, konnte er ins Visier der knapp 300 000 Stasi-Mitarbeiter geraten: ein falsches Wort, ein falsches Buch, ja sogar die falsche Verwandtschaft, und schon war eine Akte angelegt, wurden Spitzel auf einen angesetzt, wurde im schlimmsten Fall die gesamte Existenz zerstört.
Kurz: Die Diktatur drang in jeden Winkel der Gesellschaft vor, sie war lückenlos und flächendeckend, keiner vermochte sich ihr zu entziehen. Jede Bagatellisierung dieses totalitären Systems ist Geschichtsklitterung. Und so kann der Gedanke daran, dass die Nachfolgepartei der SED eines Tages für Deutschland Regierungsverantwortung übernehmen könnte, einen schier fassungslos machen.
Herzlich Ihr
Michael Schaper