Liebe Leserin, lieber Leser
was für ein Jahr! 1914 war ein Epochenjahr, mehr noch: das Schicksalsjahr des 20. Jahrhunderts. Denn ohne das Attentat von Sarajevo und die anschließende Eskalation wäre es womöglich nicht zum Weltkrieg gekommen (und ziemlich sicher nicht in dieser Konstellation). Ohne den Weltkrieg kein Versailler Vertrag, keine schwache Weimarer Republik, wohl auch kein Hitler, kein Zweiter Weltkrieg. Für die Anhänger der virtuellen Geschichtsschreibung - also des Spiels mit dem "Was wäre, wenn..." - ist 1914 das Idealobjekt. Denn wie anders hätte sich Europa, hätte sich die Welt ohne den damals ausgebrochenen Krieg entwickelt?

Eine mögliche Antwort: Vermutlich wären das Habsburger und das Osmanische Reich früher oder später dennoch von ihren inneren Widersprüchen zerrissen worden. Und natürlich wären die USA dank ihrer ökonomischen und militärischen Kraft zu einer Weltmacht aufgestiegen. Auch das Zarenregime hätte sich angesichts der tiefen sozialen Ungerechtigkeit in Russland wahrscheinlich nicht mehr lange halten können. Aber wäre es in Sankt Petersburg ohne Krieg wirklich zur bolschewistischen Machtergreifung gekommen - mit der Folge dass das größte Land der Welt gut 70 Jahre Terror und Diktatur erleiden musste? Wären Frankreich und Großbritannien auch ohne den Waffengang so geschwächt gewesen, dass ihr langsamer, über Jahrzehnte andauernder Abstieg aus dem Kreis der Großmächte unabwendbar gewesen wäre?
Vor allem aber: Wie hätte sich Deutschland entwickelt? Ein Land, in dem die Eliten und große Teile des Volkes engstirnig, reaktionär und großmannssüchtig waren, das aber in Wirtschaft, Forschung, Kultur ungemein fortschrittlich war. Hätte sich das Deutsche Reich gesellschaftlich und politisch reformieren können (und etwa seine missglückte und inhumane Kolonialpolitik irgendwann aufgegeben)? Wäre die Herrscherkaste um den - bemerkenswert unbegabten - Kaiser Wilhelm II. nach und nach kalt gestellt worden? Wie hätte sich dieses Land, das in den 40 Jahren zuvor einen gigantischen Schritt nach vorn getan hatte, in weiteren 40 Jahren des Friedens entwickelt? Das alles ist natürlich nur ein Gedankenexperiment, doch unbestreitbar bleibt, dass 1914 die Statik der Welt erschütterte. Von den sechs Monaten vor und nach dem Mord von Sarajevo handelt das vorliegende Heft - nicht von den anschließenden vier Jahren auf den Schlachtfeldern.
Das liegt zum einen daran, dass wir 2004 bereits eine Ausgabe über den Ersten Weltkrieg erarbeitet haben (die noch vorrätig ist, siehe Seite 174). Zum anderen fanden wir es ungemein reizvoll, uns einen Zeitraum von zwölf Monaten so genau wie möglich anzuschauen und nicht nur von dem bedeutendsten Ereignis jenes Jahres zu berichten, sondern auch von vielen anderen. Etwa von Charlie Chaplins erstem Film. Von Franz Kafkas Arbeit am "Prozess", seinem wichtigsten Roman. Oder - in kürzeren Beiträgen - vom mexikanischen Bürgerkrieg.
Von den Kämpfen der chinesischen warlords. Und von der damals ausbrechenden weltweiten Tango-Manie. Herausgekommen ist das Panorama eines Jahres, wie wir es so noch nicht versucht haben. Ich hoffe, Sie halten das Experiment für gelungen.
15 Jahre GEOEPOCHE
Mit dieser Ausgabe wird GEOEPOCHE 15 Jahre alt. Wir haben dieses kleine Jubiläum zum Anlass genommen, das Heft zu renovieren. Die Ausstattung ist nun höherwertiger, der Schriftzug auf dem Umschlag neu, der Einband dicker (und aufwendiger produziert). Im Heft selbst werden Sie in Zukunft keine Anzeigen mehr finden - mit Ausnahme der Hinweise für Abonnenten und Sammler. Vor allem aber haben wir die grafische Präsentation der Beiträge überarbeitet. Unsere Art Directorin Tatjana Lorenz hat gemeinsam mit der Hamburger Designerin Anna-Clea Skoluda ein neues Layout entwickelt, das moderner und zugleich zeitloser ist. Wir haben alle Schriften ausgetauscht und uns sogar den Luxus erlaubt, den renommierten britischen Typographen Ray O’Meara exklusiv für GEOEPOCHE eine völlig neue Schrift entwickeln zu lassen (die Sie beispielsweise in der Titelzeile über das Attentat von Sarajevo finden).
Ich lade Sie herzlich ein, sich einen Eindruck von dem neuen GEOEPOCHE zu verschaffen - in Form und Inhalt.

Ihr
Michael Schaper