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Weltkulturerbe Haithabu - Aufstieg und Fall der mächtigen Wikinger-Metropole

Haithabu
Haithabu zur Zeit seiner größten Blüte im 10. Jahrhundert: Mehr als 1000 Menschen leben in den Holzhütten der Handelsstadt, die an einer Bucht im Süden des dänischen Reiches liegt. Ein gewaltiger Halbkreiswall schützt sie vor Angreifern
© JOCHEN STUHRMANN UND TIM WEHRMANN
300 Jahre lang beherrschen die Bewohner von Haithabu in Südjütland den Handel zwischen Nord- und Ostsee. Heiden, Christen und sogar Muslime feilschen in der Wikingerstadt um Eisenbarren, orientalische Gewürze und Tausende Sklaven. Bis die Siedlung auf rätselhafte Weise untergeht

Diese Stadt stinkt, sie erstickt im Abfall, ihre hölzernen Häuser verfaulen, die Bewohner sterben früh - und doch ist sie reicher und bedeutender als jeder andere Ort im Land der Wikinger. Arabische Reisende werden den Kalifen von ihr berichten, isländische Dichter sie in ihren Sagas erwähnen und mächtige Runensteine ihren Namen verkünden: Haithabu, die Siedlung auf der Heide.

Ihren Reichtum verdankt die Stadt den Kaufleuten. Denn hier verläuft einer der Handelswege, die von der Iberischen Halbinsel bis nach Mesopotamien und vom Weißen Meer im Norden Russlands bis zur Ägäis reichen.

Am Ende eines Ostseefjordes, der rund 40 Kilometer tief in das dänische Jütland hineinragt, liegt dieser weltbekannte Hafen; ein Umschlagplatz für spanisches Quecksilber, chinesische Seide, norwegisches Eisen, Bergkristall vom Schwarzen Meer, rheinischen Wein, fränkisches Glas, orientalische Gewürze - und Tausende Sklaven.

Zur Zeit ihres größten Glanzes im 10. Jahrhundert leben mehr als 1000 Menschen in dem Handelszentrum an der Meereseinbuchtung (westlich des heutigen Eckernförde) - das sind zehnmal mehr als in einer ländlichen Wikingersiedlung und so viele wie nirgendwo sonst in Skandinavien. Fast 300 Jahre lang steuern jeden Sommer Händler den Hafen an, den größten Nordeuropas.

Doch fast ebenso plötzlich, wie die Stadt aufgestiegen ist, verfällt sie wieder. Nur wenige frühmittelalterliche Beschreibungen und Erwähnungen überdauern die Zeiten - dafür jedoch zahllose Artefakte, die Archäologen seit über 100 Jahren bergen.

Jene spärlichen Hinweise helfen, den Dämmer zu erhellen, der die Anfänge der Metropole umgibt: Denn sie blüht nur deshalb auf, weil eine andere Siedlung untergeht.

Zu Beginn des 8. Jahrhunderts deutet nichts darauf hin, dass an der sandigen Bucht von Haithabu, dem Haddebyer Noor, einmal eine Stadt entstehen wird. Das unberührte Noor erstreckt sich am westlichen Ende der Schlei, einem schilfgesäumten Meeresarm, der von der Ostsee aus tief ins Land führt.

Die Halbinsel Jütland teilen sich vier Völker: Im Norden leben Dänen, im Süden Sachsen, im Osten (dem heutigen Ostholstein) Slawen und im äußersten Westen, entlang der Nordseeküste, Friesen - jene Kaufleute, die zu dieser Zeit den Fernhandel von der Rheinmündung bis zu den Britischen Inseln und nach Skandinavien beherrschen.

Vermutlich sind sie es, die um 725 n. Chr. am Strand des Noors einen Stützpunkt errichten. Die benachbarten Völker lassen die Neuankömmlinge gewähren, denn der waldreiche und sumpfige Landstrich ist noch dünn besiedelt. Wahrscheinlich fördert ein dänischer Herrscher sogar die Entstehung der Siedlung an der Südgrenze seines Reiches.

Haithabu und Danewerk zum Weltkulturerbe ernannt

Am 30. Juni 2018 wurden der Handelsplatz Haithabu und die Festungsanlage Danewerk von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Die Wikingerstätten in Schleswig-Holstein seien ein einzigartiges Zeugnis der Wikingerzeit und ihrer kulturellen Traditionen, hieß es zur Begründung. Mit der hansestädtischen Altstadt von Lübeck und dem Weltnaturerbe Wattenmeer hat das Bundesland nun drei von der UNESCO ausgezeichnete Stätten.

Niemand kann heute mehr sagen, ob die Friesen über die Ostsee nach Haithabu segeln oder ob sie von der Nordseeküste über Land zum Noor gelangen - doch nach ihrer Ankunft hinterlassen sie im Boden Spuren: Tongefäße, Silbermünzen und vor allem Urnengräber, wie sie Archäologen aus Friesland kennen. Anfangs nutzen die Pioniere ihr Lager wohl nur im Sommer; doch um das Jahr 750 erweitern sie es zu einer bescheidenen Siedlung - kaum mehr als eine Ansammlung kleiner Hütten, die sich über flachen Erdgruben erheben.

Die Friesen haben entdeckt, welche Chancen die Bucht bietet. Sie ist gut geschützt und lässt sich doch leicht vom Meer aus erreichen. Zudem verläuft in unmittelbarer Nähe eine schon seit der Bronzezeit genutzte Nord-Süd-Handelsroute: der Ochsenweg, die wichtigste Verbindung zwischen dem Land der Dänen und dem Tal der Elbe.

Haithabu erstmals 804 in einer schriftlichen Quelle erwähnt

Vor allem aber bietet das Noor den Zugang zu einer Abkürzung zwischen Ost- und Nordsee: Statt Jütland zu umsegeln und womöglich im sturmgepeitschten Skagerrak Schiffbruch zu erleiden, muss ein Händler von Haithabu aus nur 18 Kilometer über Land zurücklegen bis zum nächsten Binnenhafen; dann tragen ihn die Flüsse Treene und Eider in die Nordsee. Nirgendwo sonst ist die Fahrt über Land zwischen den Meeren so kurz.

Eine gewaltige Umwälzung erfasst Nordeuropa in diesen Jahrzehnten. Lange war der Ostseeraum vom Westen Europas relativ isoliert, doch nun nimmt der Handel mit Skandinavien schlagartig zu - vor allem, weil die Wirtschaft in Westeuropa aufblüht und den Nordmännern bessere Schiffe zur Verfügung stehen. Zudem erkunden Seefahrer nun Fahrtrouten entlang der von Slawen und Balten besiedelten Küsten im Süden der Ostsee.

Zur gleichen Zeit öffnen andere skandinavische Pioniere Handelswege über den Dnjepr nach Konstantinopel und zum islamischen Kalifat.

An günstig gelegenen Orten, etwa an Meeresengen, Flussmündungen, oder im Grenzgebiet zwischen den Völkern, gründen Kaufleute und lokale Herrscher feste Niederlassungen - neben Haithabu auch Wolin an der Odermündung und Staraja Ladoga beim heutigen Sankt Petersburg.

Dieser wirtschaftliche Aufschwung weckt das Interesse der Dänen: Ende des 8. Jahrhunderts unterwerfen sie die in Jütland lebenden Friesen. So zumindest deuten Archäologen die dänischen Grabbeigaben, die sich immer häufiger in der Nähe friesischer Siedlungen finden.

Als Haithabu 804 erstmals in einer schriftlichen Quelle erwähnt wird - den Annalen des Fränkischen Reiches -, kontrolliert bereits der dänische König Göttrik den Ort. Die fränkische Chronik feiert die Taten von Göttriks gefährlichstem Gegner: Karl dem Großen, dem König der Franken und Herrn über das gewaltigste Imperium in Mitteleuropa.

Kurz zuvor hat der fränkische Monarch die Sachsen besiegt und seinen Machtbereich bis an die dänische Grenze ausgedehnt: dem Flusslauf der Eider, gut 30 Kilometer südlich von Haithabu.

Am Ufer des Haddebyer Noors, so berichten die Annalen, habe der dänische Herrscher in jenem Jahr Heer und Flotte versammelt, um die Franken von einem Angriff auf Dänemark abzuhalten.

Göttrik ist ein ebenso machtbewusster wie ehrgeiziger Monarch. Er weiß, dass die mageren Abgaben, die ihm die Bauern entrichten, auf die Dauer nicht ausreichen, um die Franken abzuwehren. Wenn er seine Truhen füllen will, dann muss er wohlhabende Händler in sein Reich locken - oder sie dazu zwingen, nach Haithabu zu kommen.

Im Jahr 808 bricht er zu einem Feldzug gegen slawische Stämme auf, die im heutigen Holstein und Westmecklenburg siedeln. Auf dem Rückweg zerstört seine Flotte dort einen wichtigen Handelsplatz: die Hafenstadt Reric an der Wismarer Bucht.

Offenbar versucht Göttrik, auf diese Weise den Handel zwischen Ost- und Nordsee zu kontrollieren, mögliche Konkurrenten auszuschalten und Haithabu zum Handelszentrum auszubauen. Deshalb zwingt er die durch seinen Überfall heimatlos gewordenen Kaufleute von Reric, sich nun in Haithabu niederzulassen.

Das Kalkül des Königs geht auf, denn die Neuankömmlinge haben das Geld, die Kontakte und die Erfahrung, um die günstige Lage des Ortes für ihre Geschäfte zu nutzen. Bald schon ist Haithabu bedeutender, als es Reric je war.

Drei Jahre nach Ankunft der fremden Händler beginnen Arbeiter, den Ort zu erweitern. Wohl auf Befehl des Königs oder seiner Gefolgsleute legen sie ein Netz rechtwinkliger Wege an, die sie mit Eichenbohlen bedecken; zudem stecken sie Grundstücke mit Zäunen ab, errichten Häuser und befestigen den Strand mit Reisig sowie Holzplanken, um das Entladen von Schiffen zu erleichtern.

Wie ein breites Band säumt die Siedlung nun das Westufer des Noores. Eine 600 Meter lange Hauptstraße quert sie von Norden nach Süden. Etwa auf halber Höhe des Weges führt ein hölzerner Steg über einen begradigten Bachlauf, der Haithabu von Westen nach Osten durchfließt. Hier, kaum 150 Meter vom Hafen entfernt, stehen die Häuser besonders dicht.

Im Verlauf der folgenden 150 Jahre wird sich die Siedlung von den Niederungen des Strandes immer weiter nach Westen ausdehnen - bis ihre Form einem riesigen Halbkreis ähnelt, dessen Durchmesser etwa 600 Meter beträgt.

Haithabu kann sich deshalb so ungestört entwickeln, weil sich in unmittelbarer Nähe die größte Festungsanlage Skandinaviens erhebt: das Danewerk.
Der gewaltige Schutzwall aus Erde und Steinen - 30 Kilometer lang, zehn Meter breit, bis zu fünf Meter hoch - erstreckt sich von der Treene im Westen bis zur Ostsee und riegelt so Jütland bei Haithabu ab. Verschanzt hinter hölzernen Brustwehren, bewachen Bogenschützen und Krieger den Wall. Seit dem 8. Jahrhundert bauen die dänischen Könige das Bollwerk immer weiter aus.

Danewerk schützt den Handelsweg

Für das aufblühende Haithabu ist das Danewerk lebenswichtig, denn es schützt den Handelsweg zwischen beiden Meeren. In seinem Schatten können die Händler, die bei Haithabuan Land gehen, ihre Waren sicher mit Ochsenkarren zur Treene transportieren und von dort in die Nordsee segeln. Auf dem Höhepunkt seines Reichtums wird Haithabu selbst Teil der gewaltigen Festung: Ein mehr als vier Kilometer langer Wall verbindet seit 968 die Stadt mit dem Danewerk.

König Göttrik erlebt den Glanz seiner neu gegründeten Metropole nicht mehr - er fällt 810 dem Attentat eines seiner Gefolgsleute zum Opfer. In den Jahrzehnten darauf ringen seine Söhne mit anderen Verwandten um die Macht in Dänemark. Solche Kämpfe entbrennen zu dieser Zeit häufig. Denn das Königtum ist noch nicht gefestigt, die Erbfolge nicht geregelt, und wer den Thron besteigt, muss ihn ein Leben lang gegen Rivalen verteidigen.

Haithabu wächst trotz der Ränke weiter. Die Siedlung wandelt sich vom Handelsplatz zur ersten Stadt in Nordeuropa: zu einem Ort, in dem keine Bauern mehr leben, sondern spezialisierte Handwerker und Kaufleute. Dessen Bewohner keine Äcker und Herden mehr besitzen, sondern Werkstätten, Schiffe - und volle Geldbeutel.

Um 840 ist die Stadt bereits so bedeutend, dass sich hier ein Adeliger in einem der prächtigsten Gräber der Wikingerzeit beisetzen lässt. Unweit der Siedlung erhebt sich der langovale Hügel, in dessen Innerem sich ein 18 Meter langes, seetüchtiges Kriegsschiff verbirgt. Unter dem Kiel, in einer hölzernen Kammer, liegen drei Männer begraben: ausgerüstet mit kostbaren fränkischen Schwertern, vier Schilden, Pfeilen und prunkvollem Zaumzeug.

Wer die Toten sind, weiß niemand. Manche Forscher sehen in einem von ihnen einen dänischen Thronanwärter, dem Mundschenk und Marschall ins Grab gefolgt sind. Möglicherweise wurde hier aber auch ein Statthalter des Königs mit seinen Getreuen beerdigt - ein Wikgraf: der wichtigste dänische Adelige in Haithabu, der die Stadt im Auftrag des Herrschers verwaltet, Steuern einzieht und im Kriegsfall das militärische Kommando führt.

Haithabu
Die Landebrücken von Haithabu ragen bis zu 80 Meter weit ins Hafenbecken hinein. Statt ihre Waren mühsam in die Stadt zu schaffen, verkaufen die Händler sie gleich hier - auf einem Marktplatz über dem Wasser
© JOCHEN STUHRMANN UND TIM WEHRMANN

Auch Göttriks Nachfolger tun alles, um den Handel zu fördern. Und wagen es sogar, ihre Götter zu erzürnen.

Denn um 850 erlaubt König Horik, einer der Söhne Göttriks, den Bau einer Kirche in Haithabu - allerdings erst, nachdem ihn der Erzbischof von Hamburg und Bremen, der Missionar Ansgar, mit kostbaren Geschenken bestochen hat. Seit Jahrzehnten schon versucht der aus Frankreich stammende Benediktinermönch, die Völker des Nordens zu bekehren.

Vermutlich errichten die Christen ihr hölzernes Gotteshaus etwas außerhalb der Siedlung am Ufer der Schlei. Zehn Jahre später läuten hier die ersten Kirchenglocken - eine Glocke mit Klöppel werden Archäologen fast unversehrt aus dem Hafenbecken bergen.

Es ist ein geschickter Schachzug des Königs, der auf diese Weise christliche Händler aus den fränkischen Reichen nach Haithabu lockt. Horik aber geht noch weiter: Er erlaubt seinen eigenen Untertanen, zum Christentum überzutreten.

Möglicherweise will er ihnen damit helfen, noch bessere Geschäfte zu machen. Denn nur wer sich zur Kirche bekennt - so haben es die Franken verfügt -, darf mit Christen handeln.

Viele Wikinger nutzen die neue Freiheit.

Immer größere Schiffe steuern den Hafen von Haithabu an

Bald schon tragen die reichsten Männer Haithabus das Zeichen Jesu Christi. Doch ganz auf ihren alten Glauben verzichten sie nicht; deshalb lassen sie sich nicht taufen, sondern nur feierlich von einem Priester bekreuzigen.

Dieser "erste Segen" erlaubt es ihnen, die Kirche zu besuchen und sich mit Christen zu treffen - aber wer will, kann dennoch weiterhin zu seinen heidnischen Göttern beten.

Die Metallgießer der Stadt stellen sich schnell darauf ein. Sie schnitzen Formen aus Speckstein, mit denen sich in einem Arbeitsgang die Symbole beider Religionen gießen lassen: der Thorshammer der Heiden und das Kreuz der Christen. Und so mancher Bewohner kauft ein Amulett, das Kreuz und Hammer in einem Schmuckstück vereint.

Immer größere Schiffe steuern nun den Hafen von Haithabu an. Damit Kapitäne leichter anlegen können, errichten die Bewohner um das Jahr 865 eine Landungsbrücke. Sie ist schmal und kaum 20 Meter lang - doch erstmals müssen die Boote nicht mehr auf den Strand auflaufen, sondern können schwimmend festmachen und bequem entladen werden. Binnen weniger Jahre wird die Plattform ausgebaut.

Um Haithabus Reichtum zu mehren, schließt der Dänenkönig Siegfried sogar Frieden mit den Ostfranken, die seine Vorgänger fast ein Jahrhundert lang bekämpft haben: 873 schickt er Gesandte an den Hof des dortigen Königs und versichert ihm, künftig für den Schutz fremder Händler zu sorgen - wenn die ihm dafür Zoll auf ihre Waren zahlen.

Vermutlich sichert sich Siegfried ein weiteres Privileg: Fremde Händler, die nach Haithabu reisen, müssen ihre Luxusgüter zuerst ihm zum Kauf anbieten - so kann der Monarch stets die besten Waren auswählen.

Die Kaufleute beugen sich seinem Willen. Denn sie alle profitieren von seiner Obhut, vor allem die Skandinavier.

Bei Dänen, Schweden und Norwegern sorgt zwar die jeweilige Sippe für die Sicherheit der Familienmitglieder, jene Kaufleute aber, die aus fernen Regionen nach Haithabu kommen, sind allein - und gelten im Prinzip als vogelfrei; als rechtlose Männer, die jeder ungestraft töten oder versklaven kann.

Ohnehin sind sie ja bevorzugte Opfer von Raubmördern und Piraten.

Deshalb wacht der Herrscher seit der Gründung der Stadt über den "Marktfrieden": Wer durch sein Hoheitsgebiet nach Haithabu reist, dem darf nichts geschehen. Der Wikgraf sorgt im Auftrag des Königs dafür, dass sich in der wichtigsten Handelsmetropole des Landes alle an die Vorschriften halten.
Doch die Macht des dänischen Königs hat Grenzen: Jenseits der Schleimündung, auf der offenen See, drohen den Kaufleuten weiterhin Angriffe von Piraten - obwohl die Langschiffe des Monarchen auch in den Küstengewässern patrouillieren. Deshalb schließen sich Händler häufig zu Konvois zusammen, um so sicher den Hafen von Haithabu zu erreichen.

Aus dem trüben Wasser des Noors ragt ein hölzernes Bollwerk, Palisaden versperren den Blick vom Wasser aus auf die dahinter liegende Stadt. Die kleine Hafenöffnung in ihrer Mitte wird von Türmen flankiert, in denen Kämpfer wachen. Die Posten lassen nur die unverdächtigen Schiffe zu ihren Ankerplätzen gleiten: plumpe Handelsboote, die tief im Wasser liegen und keine Krieger transportieren. Sobald etwas ihr Misstrauen weckt, schlagen sie Alarm.

Hat ein Kaufmann mit seinem Schiff die Wachen passiert, nähert er sich dem größten und ungewöhnlichsten Hafen Nordeuropas. Inzwischen ragen in Haithabu Dutzende hölzerner Stege gut 80 Meter weit in das rund 600 Meter lange und 100 Meter breite Hafenbecken.

Das Kopfende dieser Kaianlagen ist derart ausladend, dass ein Frachtschiff daran längsseits festmachen kann.

Zwischen den bauchigen Handelsfahrern und königlichen Kriegsschiffen gleiten Ruderboote sowie die Kanus der Einheimischen durchs Becken - ausgehöhlte Baumstämme, mit denen sie zu den Fischreusen fahren, die sie im tieferen Wasser ausgelegt haben.

Jeder Neuankömmling wird sofort bedrängt: Was hat er geladen? Ist er hungrig? Braucht er einen Kamm oder eine vergoldete Nadel für seinen Mantel? Übersetzer bieten ihre Dienste an, die Aufseher des Dänenkönigs inspizieren die Ladung und fordern Ankerzoll - eine Gebühr für den Aufenthalt.

Möglicherweise, so vermuten Archäologen, erhält jeder Kaufmann, der ihn entrichtet, als Beleg einen kleinen Anker aus Blei.

Einen solchen Anhänger haben Forscher jedenfalls im Schlick des Hafens gefunden.

JOCHEN STUHRMANN UND TIM WEHRMANN
Reetgedeckte Häuser säumen die Hauptstraße des Ortes. Ihre Wände bestehen aus gespaltenen Stämmen oder lehmverputztem Flechtwerk. Nirgendwo sonst in Skandinavien leben so viele Menschen auf so kleiner Fläche
© JOCHEN STUHRMANN UND TIM WEHRMANN

Die Landebrücken sind zugleich ein Marktplatz über dem Wasser, gegründet auf Tausenden von Pfählen. Die Stege sind miteinander verbunden: zu einer Plattform von fast 1500 Quadratmeter Fläche. Statt ihre Waren mühsam in die Siedlung transportieren zu müssen, können die Händler sie gleich anbieten, neben ihren Schiffen. Reiche Wikinger in pelzbesetzten Mänteln treffen hier auf arabische Händler in Seidengewändern und slawische Kaufleute mit Zipfelmützen auf ihren Köpfen.

Im Sommer, zum Höhepunkt der Handelssaison, stapeln sich auf der mit Holzbohlen bedeckten Fläche Fässer und Seekisten, Mühlsteine aus Basalt, Beutel voller Glasperlen, Weinamphoren, zu Bündeln geschnürte Messingbarren sowie Kochtöpfe aus Speckstein, so groß, dass man darin eine Mahlzeit für eine ganze Bootsbesatzung zubereiten kann.

Auch die Handwerker der Stadt bahnen sich dann einen Weg durch das Gedränge, auf der Suche nach Geweihen, der schwärzesten Pechkohle, dem klarsten Bergkristall. Über allem hängt beißender Schweißgeruch, denn die Seefahrer wuchten ihre Schätze meist ohne Hilfsmittel auf die Plattform. Allein für besonders schwere Fracht - wie die mannslangen Fässer aus Tannenholz, in denen wasserempfindliche Ladung transportiert wird - nutzen sie die Rahen ihrer Schiffe als Kräne: Zerren die Männer an den Brassen, schwenkt der Balken mit dem Fass zum Kai.

Sklavenhändler bieten auch Nonnen feil

Mit einem Flaschenzug senken sie es dann langsam hinab auf den hölzernen Steg.

Nur von einem skandinavischen Händler in Haithabu kennen wir heute noch den Namen und seine Fahrtroute: Es ist Ottar von Halogaland, ein Großbauer vom Rand der bekannten Welt - jener Region hoch im Norden, in der das Land der Norweger immer schmaler wird, bis es sich schließlich in der arktischen Wildnis verliert.

Um das Jahr 890 bricht er in der Nähe des heutigen Tromsø auf und segelt wochenlang an der norwegischen Küste entlang nach Süden, bis er schließlich Haithabu erreicht.

Nach seinem Zwischenstopp an der Schlei reist er später weiter nach Westen - vermutlich über Land in Richtung Nordsee - und berichtet am Hof des angelsächsischen Königs von seiner Fahrt.

Dort ist der Auftritt des Norwegers offenbar derart beeindruckend, sind seine Schilderungen so neu und wundersam, dass ein Chronist davon später in einer Schrift berichtet.

Von Ottars Erzählungen wissen wir, was ein skandinavischer Händler in Haithabu gewöhnlich verkauft. Denn vor dem angelsächsischen König rühmt er sich unter anderem seines Reichtums: 600 Rentiere grasen auf seinen Gütern, und die Nomaden vom Volk der Samen zahlen ihm Tribut - deshalb ist sein Schiff mit Daunen, Pelzen und Geweihen beladen, mit Tauen aus Seehundfell und Walrosszähnen so lang wie Schwertklingen.

Vor allem diese Hauer sind bei Handwerkern beliebt, da sie aus ihnen Spielsteine schnitzen, die ihren Glanz in 1000 Jahren nicht verlieren.

Auch andere Luxuswaren werden gehandelt, darunter goldener Schmuck, Wein, sogar Pfirsiche. Christen aus dem Frankenreich interessieren sich besonders für Pelze - so sehr, dass ihre Priester gegen diese Luxusware wettern. "Deren Duft", schreibt ein Bremer Kleriker um 1000, habe "das todbringende Gift der Prunksucht in die Welt getragen". Jeder giere nun nach einem warmen Pelz wie nach der ewigen Seligkeit.

Doch auch die frommen Christen finden auf dem Markt von Haithabu gottgefällige Waren: Bienenwachs etwa aus den Wäldern Osteuropas - für Kerzen, die Klöster und Kirchen erhellen.

Keine andere Ware aber verspricht so viel Gewinn wie der Mensch. Auf dem Markt an den Landebrücken bieten die Wikinger häufig Gefangene an, die sie auf Raubzügen verschleppt haben: Männer und Frauen in groben Wollkleidern, die Füße und Hände mit Eisenketten gefesselt.

Selbst der oströmische Kaiser sowie der Herrscher des östlichen Kalifats schicken Gesandte an die Schlei, um sich mit Sklaven einzudecken. Denn nirgendwo im Ostseeraum ist das Angebot so groß wie hier.

Manchmal, so berichtet ein unbekannter Chronist um das Jahr 900, bieten die Sklavenhändler auch Nonnen feil. Ein fränkischer Missionar verkauft bei einem Besuch in Haithabu sein Pferd samt Zaumzeug, um eine irische Christin aus der Gefangenschaft zu befreien -zuvor hat sie auf den Landebrücken laut Kirchenlieder gesungen und den Priester auf sich aufmerksam gemacht.

Die meisten Sklavinnen haben aber weniger Glück und wechseln für einen durchschnittlichen Preis von 200 Gramm Silber den Besitzer. Damit sind sie doppelt so teuer wie eine Kuh, aber ein Drittel billiger als ein Pferd.

Niemand kann heute sagen, wie die Geschäfte in Haithabu genau ablaufen - auch Ottar von Halogaland schweigt dazu. Einzig die Gegenstände, die von den Landebrücken ins Wasser gefallen sind und von Archäologen geborgen wurden, geben Aufschluss: Münzen, Waagen, Schmuckstücke, Gewichte.

In Haithabu gelten etliche Währungen, obwohl die dänischen Könige mehrfach versucht haben, eine eigene Münzsorte einzuführen.

Manche Händler bezahlen mit friesischen Geldstücken aus Silberblech, andere mit Denaren aus dem Frankenreich, wieder andere geben Perlen aus Glas oder Bergkristall.

Ehemalige Söldner des byzantinischen Kaisers prunken mit goldenen Amuletten, während die Bauern aus der Umgebung wohl am liebsten Ware gegen Ware tauschen. Und wer über die Wolga gekommen ist, der bringt Silbertaler aus dem Zweistromland nach Haithabu: islamische Darahim, geprägt in Madinat As-Salam (dem heutigen Bagdad), der Hauptstadt des östlichen Kalifen.

Dann gibt es Händler, die noch ganz anders zahlen: Ihnen geht es allein um das Gewicht des Silbers, die Form und Prägung ist ihnen gleichgültig. Um einen geforderten Preis zu begleichen, zerschneiden sie Münzen, zerhacken silbernes Geschmeide oder zerstückeln die glänzenden Barren.

Haithabu
Jenseits der Palisaden im Westen von Haithabu verläuft das Danewerk (im Hintergrund). Der gewaltige Wall ist für die Stadt lebenswichtig - er schützt die Kaufleute auf ihrem Weg an die Nordsee vor Überfällen feindlicher Truppen und vor Räubern
© JOCHEN STUHRMANN UND TIM WEHRMANN

Erfahrene Fernhändler sind vermutlich auf all das vorbereitet. An ihren Gürteln tragen sie lederne Geldbörsen, die in mehrere Fächer unterteilt sind - für jede Münzsorte eines. Und daneben, in einem Futteral, ihr wichtigstes Instrument: eine Klappwaage aus Bronze, wie sie die Araber und viele Bewohner in Haithabu verwenden, kaum größer als eine Handfläche.

Will ein Kaufmann mit einem Fremden ein Geschäft abschließen, dann legt er in eine Waagschale kleine, kugelförmige Gewichte - und in die andere so lange zerhacktes Silber, bis die Schalen im Gleichgewicht sind.

Zuletzt, so verraten es die Spuren auf erhaltenen Münzen und Barren, ritzt der Verkäufer das Silber an oder beißt hinein, um das Metall zu prüfen. Dann erst gilt das Geschäft als abgeschlossen.

Die Händler von Haithabu haben jeden Grund, misstrauisch zu sein. Da viele von ihnen mit islamischen Münzen bezahlen, bietet sich Falschmünzern eine verlockende Gelegenheit: Sie mischen Blei mit Zinn und gießen daraus Kopien der fremden Geldstücke. Sobald sie den Gusszapfen abgefeilt haben, lassen sich die Imitate kaum von echten Münzen unterscheiden. Nur ein Händler, der die Silberlinge zerhackt und wiegt, wird den Betrug bemerken.

Im Hafen droht den Kaufleuten noch eine weitere Gefahr: Die Landebrücken sind auch ein Ziel der Diebe.

Nachts schleichen sie sich auf die Schiffe und brechen die Schlösser der Seekisten auf, in denen die Händler ihre Habseligkeiten verstauen. Um ihre Taten zu vertuschen, füllen sie die Truhen anschließend häufig mit Steinen aus dem Ballast der Boote und versenken sie im Hafenbecken.

Sind sie auch bereit zu töten, falls sie jemand überrascht? Möglicherweise. Auf dem Grund des Hafenbeckens unweit der Landebrücken haben Archäologen den Kieferknochen eines Mannes und den Schädel einer jungen Frau gefunden - beide starben möglicherweise durch die Hand eines unbekannten Mörders.

Wenn am Abend die Sonne tief über den Häusern steht, begeben sich die Händler in die Stadt. Kurze, mit Bohlen befestigte Pfade führen von den Landebrücken zur Hauptstraße, die teilweise nur wenige Dutzend Meter hinter dem Strand verläuft. Die Planken sind mit Dreck verkrustet. Denn über die Wege fließen auch die Abwässer der Siedlung, jeder Regenguss spült einen schmutzigen Strom ins Noor.

Den Besuchern schlagen das Dröhnen der Schmieden und der Gestank von Tausend Misthaufen entgegen. Ihren Müll sowie den Dung der Tiere, Kot und anderen Abfall schaffen die Bewohner Haithabus nicht etwa fort, sondern schichten ihn neben ihren Häusern auf. Das Ungeziefer vermehrt sich rasch in der Stadt und quält die Menschen, die mit Kämmen aus Hirschgeweih versuchen, sich zumindest die Läuse vom Leib zu halten.

Auf der Hauptstraße vermischt sich der Gestank von Mist und Rauch aus offenen Herdfeuern mit dem Geruch geschlachteter Tiere: Vor den Türen einiger Häuser sind die Häute und Schädel von Widdern, Ziegenböcken sowie ganzen Schweinen auf Pfähle gespießt - ihr Fleisch verzehren die Bewohner als Opfermahl für die heidnischen Götter.

Vornehme Frauen eilen an den Kaufleuten vorbei, die Kleider gefärbt, die Gesichter geschminkt mit einer Mischung aus Rötelstein und Schweineschmalz.

Die ärmeren Bewohnerinnen Haithabus hocken am Bach - und zwar dort, wo der Weg über den Wasserlauf führt, der die Siedlung von Westen nach Osten durchquert und am Hafen in das Noor mündet; auf schmalen Stegen säubern sie die Wäsche, während ihre Söhne wohl Spielzeugschiffe schwimmen lassen.

Kaum jemand hier ist älter als 30 Jahre. Die Leute der Stadt führen ein hartes, kurzes Leben. Nur drei von zehn Kindern erreichen das 14. Lebensjahr, Erwachsene werden selten älter als 40 - darauf deuten medizinische Untersuchungen der Skelettreste, die Forscher in den Grabfeldern der Stadt gefunden haben. Schon ein entzünde-ter Zahn kann den Tod bedeuten. Viele Menschen sind tief gebeugt von der Knochentuberkulose, die ihre Wirbelsäulen schmerzhaft verkrüppeln lässt.

Wer sich von der Hauptstraße nach Norden wendet, blickt auf das Viertel der Kammschnitzer, Glasperlenmacher und Weber. Wer nach Westen schaut, wo das Gelände der Stadt sanft ansteigt, erspäht das Quartier der Schmiede - wegen der Glut in ihren Essen haben die Stadtväter sie an das äußerste Ende Haithabus verbannt, an den Oberlauf des Baches. Denn nichts fürchten die Bewohner der hölzernen Stadt mehr als das Feuer.

Die Schmiede, so glauben die meisten Menschen in Haithabu, stehen im Bund mit den Göttern. Besitzt nicht auch der mächtige Thor einen Hammer? Erzählen die Wikingersagen nicht von Riesen, Zwergen und Gottheiten, die aus der Glut neue Welten erschaffen? Vermutlich erscheint vielen die Kunst der Schmiede als eine Form der Magie.

Mancher Handwerker ist von weit her an das Ufer der Schlei gekommen, um die Rohstoffe der Händler zu veredeln: Kämme, Broschen, Perlen und bernsteinerne Spielfiguren aus Haithabu sind in ganz Nordeuropa begehrt.

Die Kaufleute, die wie Ottar von Halogaland nur für ein paar Wochen der Geschäfte wegen in Haithabu weilen, kehren in reetgedeckten Häusern ein, deren hölzerne Giebel die Hauptstraße säumen. Es sind Kontore - halb Herberge, halb Warenlager.

Einige werden von Handelsgesellschaften betrieben, denn viele Wikinger schließen sich zu Gilden zusammen, die Gewinne und Risiken einer Reise teilen. Félag, Partnerschaft, nennen sie so ein Bündnis. Niemand weiß heute mehr, wie viele Mitglieder eine solche Vereinigung zählt. Die Wagemutigen unter ihnen segeln mit den Waren aller Partner in die Fremde, während die eher Zögerlichen daheim bleiben, aber Schiffe und Güter finanzieren.

Ein gewöhnliches Haus hält nur wenige Jahre

In einem solchen Händlerhaus öffnet sich hinter einer schweren Tür aus Eichenholz ein dunkler Lagerraum. Fässer, wie sie im Hafen entladen werden, liegen dort in einer Ecke, Krüge voller Bier stehen auf dem Boden aus festgetretener Erde, und unter dem Dach hängen mächtige Schinken.

Die Wände bestehen, wie bei den meisten Gebäuden in der Stadt, aus gespaltenen Stämmen, die die Baumeister ohne Fundament direkt in den feuchten Boden gerammt haben. Meist hat sich die Fäulnis schon nach einem Winter durch das Holz gefressen. Ein gewöhnliches Haus hält nur wenige Jahre.

In der Mitte des Raumes erstreckt sich eine Herdplatte aus gebranntem Lehm. Hier verbringen die einfachen Seefahrer ihre freien Stunden.

Um ein kleines Feuer gedrängt, trinken sie gehopftes Bier, essen gesalzenen Hering, messen sich in Brettspielen oder singen Lieder, begleitet von Flöte, Fiedel und Leier.

Für fremde Ohren sind dies ungewöhnliche Klänge: "Nie hörte ich hässlicheren Gesang", berichtet ein arabischer Besucher. "Das ist ein Gebrumm, das aus ihren Kehlen herauskommt, gleich dem Gebell der Hunde, nur noch viehischer als dies." Der Kapitän eines Handelsseglers hingegen sowie die reicheren Kaufleute müssen sich ihr Bett mit niemandem teilen.

Sie schlafen hinter Trennwänden aus Holz - bis sie Haithabu schließlich wieder verlassen: entweder nach Osten, zurück auf die Baltische See, oder nach Westen. So wie Ottar von Halogaland.

Der lässt am Ende seines Besuchs vermutlich sein Schiff im Hafen der Stadt zurück und fährt mit einem Karren am Danewerk entlang zum Ufer der Treene, um von dort per Boot zu ferneren Zielen aufzubrechen.

Gut 30 Jahre später, zu Beginn des 10. Jahrhunderts, wachen die führenden Familien des dänischen Reiches über diese Handelsroute. Immer mehr adelige Reiterkrieger lassen sich am Ufer der Schlei nieder.

Auch der König besucht Haithabu nun häufiger - doch sein Lager schlägt er wohl eher am nördlichen Ufer des Fjords auf, entfernt vom Schmutz, Gestank und dem Pöbel der Metropole. Wenn er seine Untertanen beeindrucken will, dann besteigt er ein Langschiff und lässt sich hinüberrudern.

Dem dänischen Herrscher erwächst in diesen Jahren eine neue Bedrohung: Denn den deutschen Königen, den Erben der fränkischen Monarchen, missfällt es, dass die dänischen Adeligen zwar christliche Händler und Kirchen in ihrem Reich dulden, sich selbst aber nach wie vor zu ihren heidnischen Göttern bekennen.

Immer stärker drängen sie nun auf die Missionierung der Dänen, allerdings weniger aus religiösem Eifer, sondern aus politischem Kalkül: Mit einer zunehmenden Zahl von Christen würde auch ihr Einfluss wachsen.

Um ihre Forderungen durchzusetzen, greifen die Deutschen zur Gewalt: Im Jahr 934 schlagen sie vor Haithabu ein Heer des Dänenkönigs Knut und zwingen den besiegten Monarchen zur Taufe. Zudem müssen die Dänen fortan dem König Tribut zahlen, die Ober hoheit des Römischdeutschen Reichs anerkennen - und sich dem Machtwillen der Kirche beugen. Die ernennt 948 erstmals einen Bischof für Haithabu, um von hieraus Dänemark für die Sache Christi zu gewinnen.

Zehn Jahre später besteigt ein Mann den dänischen Thron, der eine folgenreiche Entscheidung treffen wird: Harald Blauzahn.

Um den Deutschen den Vorwand für einen weiteren Kriegszug zu nehmen, bekennt sich der König um 965 zum Gott der Christen. Dessen Symbole werden in den folgenden Jahren im Land der Dänen alltäglich. Erste Kirchen entstehen, und in Silbermünzen wird nun häufig auf beiden Seiten ein Kreuz geprägt. Um seinen guten Willen zu beweisen, lässt der König sogar seinen Vater exhumieren, der als Heide gestorben war, und anschließend in einer Holzkirche begraben.

Die meisten Bewohner von Haithabu aber bleiben vermutlich - wie viele Dänen - zunächst noch ihren alten Göttern treu. Der arabische Reisende Ibrahim at-Tartushi, der um 965 in die "sehr große Stadt am äußersten Ende des Weltmeeres" reist, berichtet jedenfalls, dass die Bewohner immer noch den Sirius anbeteten, den hellsten Stern am Nachthimmel - so deutet der Fremde vermutlich die Verehrung des Gottes Odin.

Trotz der Taufe Haralds bleibt der Friede zwischen Dänen und Deutschen in den folgenden Jahren brüchig; Harald scheint dem deutschen Kaiser nicht zu trauen. Auch versucht er nicht, die Beziehung mit dem Nachbarreich durch eine Heirat zu festigen, wie sonst unter Herrschern üblich. Stattdessen heiratet er die Tochter eines slawischen Fürsten, eines Gegners der Deutschen.

Aus Furcht vor einem möglichen Angriff seiner südlichen Nachbarn lässt Harald um 968 das Danewerk ausbauen, mit Palisaden verstärken und an den Schutzwall heranführen, der seit Kurzem Haithabu umgibt. Und 974 greift er die deutschen Gebiete südlich der Eider sogar mit seinen Kriegern an.

Doch der Dänenkönig hat die Stärke des Feindes unterschätzt: Ein Gegenschlag treibt Haralds Männer weit nach Norden zurück - Danewerk und Haithabu fallen in die Hände des römisch-deutschen Kaisers Otto II.

Erst neun Jahre später können die Dänen die Siedlung zurückerobern. Zum Andenken an ihre Gefallenen errichten sie unweit des Walles zwei gewaltige Runensteine. (Harald Blauzahn stirbt 987 in einem Kampf gegen seinen Sohn, der sich gegen ihn erhoben hat.)

Trotz aller politischen Wirren: Wer Haithabu zu dieser Zeit besucht, dem muss die Stadt vorkommen wie für die Ewigkeit gebaut. Seit einigen Jahrzehnten schon schützt ein gewaltiger Halbkreiswall die Handelssiedlung; ein Bischof residiert am Ufer der Schlei, ein christlicher König wacht über ihre Geschicke Im Hafen liegt eine Kriegsflotte vor Anker, und der Herrscher der Dänen empfängt hier erfolgreiche Wikinger, die mit Schätzen beladen von Kriegsfahrten zurückkehren.

Und doch beginnt mit dem 11. Jahrhundert der schleichende Verfall der Metropole: Innerhalb nur eines Menschenlebens wird sie untergehen.

Dunkle Jahrzehnte: Haithabus Untergang

Wieso kann ein solcher Handelsplatz so schnell aus der Geschichte verschwinden? Kein Forscher vermag diese Frage bislang eindeutig zu beantworten. Denn die letzten Jahrzehnte von Haithabu sind die dunkelsten der Stadt. Die Quellen schweigen, und gerade jene Erdschichten, die vom Untergang künden, sind am stärksten von Pflug und Witterung zerstört. Es bleiben nur Indizien.

Vielleicht liegt es einfach an einer Umweltkatastrophe. Denn als die Bewohner von Haithabu in der Siedlung keinen Platz mehr haben für ihren Müll, kippen sie den Abfall kurzerhand ins Hafenbecken.

Meterhoch türmen sich am Grunde des Noores Tierknochen, verrottete Stofffetzen, Tonscherben und verfaultes Holz - so hoch, dass die Kaufleute bald Mühe haben, mit ihren Booten den Hafen anzusteuern.

Um das Jahr 1000 werden die Landebrücken ein letztes Mal verlängert. Sie ragen nun so weit ins Hafenbecken hinein, dass Schiffe an ihrem Kopfende wieder schwimmend anlegen können.

Doch kurz darauf zeigt sich das alte Problem erneut: Denn noch größere Schiffstypen kommen auf, die sehr viel tiefer im Wasser liegen als die Boote der Wikinger.

Doch entscheidend für Haithabus Verschwinden sind vermutlich zwei Kriege: Im Jahr 1050 erobert der norwegische König Harald der Harte die Stadt (siehe Seite 154). Und 16 Jahre später zerstören slawische Truppen den wohl zum Teil wiederaufgebauten Handelsplatz endgültig.

Ob die letzten Überlebenden nach dem Inferno noch einmal in ihre Stadt zurückkehren, ist ungewiss.

Wahrscheinlich flüchten sie sich an das Nordufer der Schlei, wo das Wasser tiefer ist. Dort, in Sichtweite ihrer alten Heimat, gründen sie eine neue Siedlung: Schleswig.

Von dem Ort aber, an dem einst heidnische, christliche und muslimische Händler zusammenströmten, von der Weltstadt der Wikinger, bleibt nichts als ein namenloser Erdwall zurück.

Und ein Hafenbecken voller Abfälle.

GEO EPOCHE Nr. 53 - 2/12 - Die Wikinger

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