GEOEPOCHE: Herr Professor Sommerfeld, wie steht es um die jahrtausendealten Altertümer im Zweistromland?
Walter Sommerfeld:Sehr schlecht – zum Beispiel in Nimrud, dem alten Kalchu. Die jahrtausendealte Stadt war eines der archäologischen Glanzstücke aus dem Alten Orient: eine der prachtvollsten assyrischen Metropolen,
mit einem völlig unberührten Königinnengrab. 2015 haben die Kämpfer des sogenannten „Islamischen Staats“ die Monumente systematisch zerstört – mit Fassbomben gesprengt, mit Bulldozern auseinandergerissen.
Warum dieser Hass?
Der IS sagt: „Die Mesopotamier waren Anhänger heidnischer Götter, und wir rotten jede Art von Polytheismus aus – egal ob in der Gegenwart oder in der Vergangenheit.“ Niemand sonst in der islamischen Welt sieht das so. Der Koran weist immer wieder auf die Überreste untergegangener Reiche und Städte hin: als Warnung für Menschen, die kein gottgefälliges Leben führen. Nirgendwo steht, dass man sie zerstören soll.
Welche Schäden hat der IS noch angerichtet?
Die Öffentlichkeit hat viele Zerstörungen kaum registriert – nämlich die Raubgrabungen für den illegalen Antikenhandel. Die hat der IS systematisch in seinem gesamten Herrschaftsgebiet durchgeführt. Aber auch die anderen Bürgerkriegsparteien in Syrien und die Regierungstruppen bedienen sich an dem kulturellen Erbe.
Wie läuft der Handel ab?
Statuetten, Tontafeln, Rollsiegel werden außer Landes geschmuggelt, nach Kurdistan, in die Türkei und die Arabischen Emirate. Dort übernehmen Händler, die ihre weltweiten Vertriebsnetze über Jahrzehnte aufgebaut haben.
Wer sind die Käufer?
Sammler in Europa, den USA, Israel. Und inzwischen zunehmend auch reiche Araber aus Golfstaaten. Sie legen die Fundstücke in ihre Tresore – als Kapitalanlage – und warten ab, bis der Nachschub an mesopotamischen Antiquitäten versiegt und sich der Wert enorm steigert. Aber auch Museen haben sich früher an dem Handel beteiligt, besonders in den USA.
Ist der Verkauf nicht verboten?
Mittlerweile ja. Aber im Westen waren die Märkte für gestohlene Antiquitäten jahrelang legal. Inzwischen gibt es dagegen internationale Konventionen der UNESCO sowie Schutzgesetze. Der Handel wird so in den Untergrund abgedrängt, der Ablauf dadurch immer unüberschaubarer. Aber es geht eben um riesige Summen: Für eine Löwenstatue, die 1930 im Zweistromland ausgegraben wurde, hat ein anonymer Privatkäufer vor ein paar Jahren 57 Millionen Dollar gezahlt.
Welche Rolle spielt Deutschland?
Unser Land war leider immer ein Eldorado für den Handel mit gestohlenen Antiquitäten. Erst 2016 wurden hier ernsthafte Anstrengungen unternommen, ihn zu unterbinden. Bis dahin konnten solche Objekte ganz legal oder zumindest weitgehend unbehindert verkauft werden.
Das Erbe des Zweistromlandes leidet aber nicht erst seit dem Aufstieg des „Islamischen Staats“.
Nein. Schon die von den USA angeführte Invasion im Irak 2003 hat durch die Untätigkeit der Amerikaner das Land den Raubgräbern preisgegeben. Die dadurch entstandenen Schäden gehören zu den schlimmsten in der Weltgeschichte. Sie sind viel schlimmer als alles, was der IS angerichtet hat – weil sie den ganzen Irak betreffen, ein weitaus größeres Gebiet. Die US-Truppen haben außerdem auf den Ruinen Babylons ein Militärlager aufgebaut und dort einen Hubschrauberlandeplatz angelegt. Das sollte zwar auch dem Schutz der Anlagen dienen, hat aber die archäologische Substanz des Ortes stark beschädigt.

Angeblich gab es bereits vor dem Einmarsch der westlichen Truppen konkrete Bestellungen von Sammlern antiker Objekte.
Das haben mir irakische Kollegen nachdrücklich so versichert. Im Nationalmuseum in Bagdad kam es nach der Invasion 2003 nicht nur zu planlosen Plünderungen, sondern es wurden auch bestimmte Objekte ganz gezielt mitgenommen – wahrscheinlich als Beute gut vorbereiteter Auftragsdiebe.
Wo aber liegt für Sie der Unterschied zwischen den heutigen Raubgräbern und jenen europäischen Forschern des 19. Jahrhunderts, die viele Schätze, die sie bei Grabungen fanden, außer Landes brachten?
Diese Forscher besorgten sich seinerzeit meist offizielle Lizenzen von der damaligen osmanischen Regierung in Istanbul: Sie beachteten also internationales Recht, die Funde wurden dann geteilt. Heute würde man so ein Vorgehen natürlich ganz anders bewerten.
Einer der zu jener Zeit im Zweistromland wirkenden Archäologen war der Deutsche Robert Koldewey. Seinetwegen steht das Ischtar-Tor von Babylon heute im Berliner Pergamonmuseum.
Wer das Tor sieht, denkt: Koldewey hat es so in Babylon abtransportiert und in Berlin wiederaufgebaut. Die wenigsten Besucher wissen, dass er 500 000 Einzelteile in Hunderten Kisten mitbrachte. Und dass
30 Arbeiter mehrere Jahre lang aus diesen Bruchstücken das Tor wieder zusammengesetzt haben. Das war ein gigantisches Puzzlespiel. Ohne diesen enormen Aufwand gäbe es das Ischtar-Tor heute überhaupt nicht.
Aber gehört das Tor nicht ins Nationalmuseum von Bagdad?
Die Funde aus dem Zweistromland sind Eigentum der dortigen Staaten – aber eben auch Weltkulturerbe. Ich könnte gut damit leben, dass westliche Museen alle Objekte an die Ursprungsländer zurückgeben: wenn die in Bagdad dann genauso zugänglich für internationale Wissenschaftler wären wie jetzt in Berlin, Paris oder London. Das ist aber nicht in Sicht.
Wie groß ist der Verlust für die Forschung durch die Plünderungen?
Er ist unermesslich und unersetzlich. Wenn jahrtausendealte Städte dem Erdboden gleichgemacht werden, ist eine unendliche Fülle von Informationen, Dokumenten, Architektur einfach weg. Und wir wissen nicht, ob es Tausende oder Hunderttausende Objekte sind, die aus dem Boden geholt wurden und in privaten Sammlungen verschwunden sind. Allein in Syrien sind etwa 1500 antike Stätten durch illegale Grabungen beschädigt oder auch ganz zerstört worden. Und Satellitenaufnahmen zeigen, dass viele Quadratkilometer Fläche im Irak jetzt von Raublöchern durchzogene Mondlandschaften sind.
Was sagen Sie Leuten, die meinen: Im Angesicht von Krieg und Terror gibt es Wichtigeres, als ein paar uralte Statuen und Tontafeln zu bewahren?
Dieser Gegensatz gefällt mir nicht. Natürlich ist der Schutz von Menschen entscheidend. Aber zum Menschsein gehört eben auch die Kultur, das Interesse an der Vergangenheit.