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Konstantin Ziolkowskij Vision eines Sonderlings

Konstantin Ziolkowskij: Vision eines Sonderlings
© aus: Une aventure dans l’art du XXème siècle
Ein kauziger Lehrer aus der russischen Provinz begründet 1903 die Raumfahrt.

Vielleicht wäre Konstantin Eduardowitsch Ziolkowskij kein solch genialer Forscher geworden, hätte er sich 1867 nicht mit Scharlach infiziert. Durch die Krankheit verliert der zehnjährige Förstersohn seinen Hörsinn fast vollständig – und wird fortan zum Einzelgänger.

Er verlässt die Schule, verbringt viel Zeit in der kleinen Bibliothek seines Vaters, liest naturwissenschaftliche und mathematische Bücher. Mit 16 geht er nach Moskau, um eine technische Akademie zu besuchen – wird ohne Schulabschluss aber nicht zugelassen.

Der Russe bleibt trotzdem, besucht die zahlreichen Büchereien der Metropole. Er isst nur Schwarzbrot, trägt löchrige Hosen, gibt die spärlichen 15 Rubel, die seine Eltern ihm monatlich schicken, fast komplett für Lektüre aus, zudem für Experimente mit Quecksilber und Schwefelsäure. Aus Büchern lernt er die Grundsätze von Mechanik, Differenzial- und Integralrechnung. Der Zwang zur Selbstständigkeit lehrt ihn, Schwierigkeiten zu überwinden, Aufgaben zu lösen, eigene Denkmodelle zu erschaffen.

Jules Vernes Roman „Von der Erde zum Mond“ begeistert ihn für die Raumfahrt. Schnell ist er besessen von der Idee, Menschen ins All zu transportieren – auch wenn er zu wenig von Physik versteht, anfangs glaubt, man könne die Fliehkraft nutzen, um die Erdanziehung zu überwinden. Die Vision eines Weltraumfluges beschäftigt ihn auch noch, als er 1876 in die Provinz zurückkehrt, trotz seiner nahezu vollständigen Taubheit das Examen für den Lehrerberuf ablegt und künftig Mathematik unterrichtet.

Nun schreibt er seine Gedanken zur Raumfahrt nieder, verfasst Science-Fiction-Romane und wissenschaftliche Artikel, nutzt dabei Kenntnisse in Physik, Chemie und Mechanik, die er sich nach und nach anliest.

In einem Aufsatz von 1903 beschreibt Ziolkowskij, wie Raumfahrt mit Raketen möglich sein könnte: Nicht mit Schwarzpulver müsse man sie antreiben, wie seit Jahrhunderten bei militärischen Geschossen üblich, sondern mit flüssigem Wasserstoff, der während des Fluges mit flüssigem Sauerstoff gemischt werde und so auch im Vakuum des Weltalls abbrennen könne. Die dabei entstehenden Gase würden mit einem solchen Druck austreten, dass der Rückstoß der Rakete ausreichend Schub verleihen würde. Und durch ihre extrem niedrigen Temperaturen verhinderten die Treibstoffe auch, dass der Antrieb überhitzt. Es sind Ideen, die Jahrzehnte später genau so umgesetzt werden.

Zudem enthält Ziolkowskijs Artikel eine Gleichung, mit der sich bestimmen lässt, welche Endgeschwindigkeit eine im Weltraum beschleunigte Rakete bei idealen Verhältnissen erreichen kann. Diese Geschwindigkeit ergibt sich, so der Autor, aus dem Anteil des Treibstoffs am Raketengewicht beim Start, dem Treibstoffverbrauch und der Ausströmgeschwindigkeit der Gase.

Ziolkowskijs Arbeit ist bis heute Ausgangspunkt der Raumfahrtforschung, doch anfangs interessiert sie kaum einen Wissenschaftler. Erst 1923 wird der Aufsatz einem größeren Publikum bekannt: In jenem Jahr veröffentlicht der deut- sche Raketenforscher Hermann Oberth Ideen, die denen des Russen nahe kommen. Als eine russische Zeitung Oberths Werk als Pionierarbeit lobt, lässt Ziolkowskij 1000 Exemplare seines Artikels drucken und in mehreren Buchläden Moskaus verkaufen sowie an Journalisten und Studenten verteilen.

Im Vorwort steht zu lesen: "Sind wir denn für immer angewiesen, von Ausländern das zu übernehmen, was seinerzeit in den Tiefen unserer unermesslichen Heimat geboren wurde, lebte und in der Einsamkeit verkam?"

Die Führer der UdSSR werden auf ihn aufmerksam und bauen ihn nach und nach zum nationalen Helden auf. Sie lassen seine Schriften in großen Zeitungen drucken, verleihen ihm einen bedeutenden Wissenschaftsorden. Als er 1935 stirbt, verehren ihn Millionen Sowjetbürger als Pionier der Raumfahrt.

Wie brillant Ziolkowskij tatsächlich war, wird der Welt aber erst deutlich, als die Sowjetunion 1957 den ersten Satelliten ins All schießt – auf Grundlage jener Theorien, die ein russischer Lehrer ein halbes Jahrhundert zuvor in der Provinz entwickelt hatte.

GEO Epoche Nr. 86 - Der Traum vom Fliegen

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