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Giftgas Der Tod aus dem Labor

Im April 1915 lassen deutsche Offiziere in Belgien 150 Tonnen Chlor abblasen, und 1200 feindliche Soldaten sterben: die Premiere einer teuflischen Waffe, entwickelt von dem Chemiker Fritz Haber

Inhaltsverzeichnis

Grausame Premiere

Es ist der 2. April 1915. Auf dem deutschen Truppenübungsplatz Beverloo in Belgien durchdringt ein Zischen die Morgenstille. Gelblichgrüne Schwaden kriechen über den Boden, vereinigen sich zu einem Nebel. Plötzlich treiben zwei Männer ihre Pferde in die Gaswolke - der deutsche Chemiker Fritz Haber und Oberst Max Bauer vom deutschen Generalstab. Kaum sind sie vom Nebel umhüllt, schnürt es den Reitern die Kehlen zu. Krampfartiger Husten schüttelt ihre Körper; ihre Pferde stolpern keuchend und zitternd vorwärts. Als sie die Schwaden passiert haben, sind die Männer fast erstickt, ihre Gesichter wachsbleich. Auf Tragen werden sie vom Übungsgelände transportiert.

Der Ritt der beiden Männer war ein Selbstversuch - und aus sicherer Entfernung haben ihnen Offiziere des deutschen Generalstabs zugesehen. Die Vorführung räumt letzte Zweifel aus. Knapp drei Wochen später, am 22. April, kommt es zum ersten großen Chemie-Angriff der Geschichte. Abends um 18 Uhr, als der Wind günstig steht, lassen deutsche Offiziere nördlich des belgischen Städtchens Ypern auf rund sieben Kilometer Frontlänge aus Tausenden von Stahlflaschen etwa 150 Tonnen Chlor abblasen - unter der Aufsicht von Fritz Haber, der die neue Waffe entwickelt hat.

Panik breitet sich unter den französischen Truppen in den Schützengräben aus. 1200 Soldaten sterben, 3000 werden verletzt. Die Chemie hat ihre Kriegstauglichkeit bewiesen. Fritz Haber wird in einer "Blitzbeförderung" zum Hauptmann ernannt. Er soll Tränen des Glücks vergossen haben, als er davon erfuhr. "Im Frieden der Menschheit, im Krieg dem Vaterland" lautet ein Motto des 1868 geborenen Chemikers. Er erfüllt beide Vorgaben im Übermaß - und gilt bis heute als einer der umstrittensten deutschen Wissenschaftler.

Fritz Haber, ca. 1918
Fritz Haber um 1918
© gemeinfrei

1909 entdeckt Haber die Ammoniak-Synthese

Seine berühmteste Erfindung gelingt Fritz Haber sechs Jahre bevor er zum "Vater des Gaskriegs" wird: 1909 demonstriert er in seinem Karlsruher Labor, wie sich der in der Luft enthaltene Stickstoff in einem Hochdruckverfahren binden lässt. Nach jahrelanger Experimentierarbeit gelingt es ihm und seinem Kollegen Carl Bosch, die katalytische Ammoniak-Synthese für die Massenproduktion tauglich zu machen - eine Sensation. "Brot aus Luft" nennen Zeitgenossen Habers Entdeckung. Denn Ammoniak ist ein Grundstoff für Kunstdünger.

Gas als "humane Waffe"

Doch zunächst bringt die neue Waffe gegen den Hunger den Tod über Europa. Denn mithilfe der Ammoniak-Synthese lässt sich auch Salpetersäure produzieren - eine Grundsubstanz für die Herstellung von Schießpulver und Sprengstoff. Als sich in den ersten Kriegsmonaten durch den immensen Munitionsverbrauch im Stellungskrieg Salpetermangel abzeichnet, organisiert Fritz Haber den Nachschub. Der Chemiker drängt sich den Militärs regelrecht auf. Von Ehrgeiz und leidenschaftlichem Patriotismus getrieben, arbeitet er wie ein Besessener an seinem Großprojekt, der "Gassache". Moralische Bedenken hat er nicht. Er ist davon überzeugt, dass er dem Vaterland so zum schnellen Sieg verhelfen kann, preist Gas gar als "humane Waffe", die weniger Leiden und Todesopfer verursache als ein konventionelles Geschoss.

Organisator des chemischen Krieges

Andere deutsche Forscher arbeiten zwar auch im Auftrag der Heeresleitung. Doch Haber ist der erste Wissenschaftler, dem eine eigene Abteilung im Kriegsministerium unterstellt wird. Er hat gute Kontakte zu deutschen Chemiefirmen und kann kriegsrelevante Forschungsergebnisse sofort großtechnisch umsetzen lassen. So wird er zum Organisator des chemischen Kriegs - zum Verbindungsmann zwischen Wissenschaft, Militär und Industrie. Während des Krieges strukturiert Haber das Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin um, dessen Leiter er seit 1911 ist. Ende 1918 sind dort 1450 Mitarbeiter mit der Entwicklung von Gaskampfstoffen und Gasschutz beschäftigt. Für das heikle Abblasen von Chlor an der Front werden unter Habers Regie eigens geschulte Gas-pionierregimenter aufgestellt. Höchstpersönlich besetzt er Offiziersstellen mit Wissenschaftlern; darunter sind spätere Nobelpreisträger wie Otto Hahn (Chemie), James Franck (Physik) und Gustav Hertz (Physik).

Potenz des Grauens: Gaswerfer und Gasgranaten

Kurz nach seiner gefeierten Rückkehr vom ersten Gaseinsatz bei Ypern erlebt Fritz Haber eine persönliche Tragödie: Seine Frau Clara erschießt sich in der Nacht auf den 2. Mai 1915 - möglicherweise aus Verzweiflung über das Engagement ihres Mannes für den Gaskrieg. Nur einen Tag nach Claras Tod reist der Witwer wieder an die Front. Seinen 13-jährigen Sohn lässt er in Berlin zurück. Haber glaubt, er werde bei der Truppe gebraucht. Denn die Alliierten rüsten auf: Fünf Monate nach dem Gasangriff der Deutschen bei Ypern greifen britische Truppen am 25. September 1915 mit Chlorgas an. Haber bekommt die Entwicklung einer sicheren Gasmaske übertragen. Ab Januar 1916 werden die neuen Gummimasken mit abschraubbarem Dreischichtenfilter in Serie produziert - ein erster Schutz vor Chlorgas und Phosgen. Doch die Rüstungsspirale dreht sich immer schneller: Gaswerfer und Gasgranaten ersetzen das wetterabhängige Blasverfahren - womit die bis dahin mögliche Vorwarnzeit wegfällt.

50-mal giftiger als Chlorgas

Als Reaktion auf verbesserte Masken des Gegners erfinden Haber und seine Mitarbeiter die Taktik des "Buntschießens": Ein erster Angriff mit extrem reizenden "Blaukreuz"-Kampfstoffen, die auch Gasmasken durchdringen können, soll den Gegner zum Herunterreißen der Masken verleiten; im zweiten Beschuss werden die tödlichen "Grünkreuz"-Geschosse eingesetzt. Schließlich kommt es in der Nacht zum 13. Juli 1917 unter Habers Regie zum ersten Senfgasangriff gegen die Briten. Nach der "Haberschen Tödlichkeitsformel", die eine Skalierung giftiger Gase nach Konzentrationshöhe und Einwirkzeit erlaubt, ist Senfgas 50-mal giftiger als Chlorgas.

Die Haut wirft Blasen

Die Wirkung von Senfgas beschreibt ein Betroffener so: "Ein Gefühl, als ob Sand oder Kies in die Augen gerieben worden waren. Feuchte Hautstellen wurden zu langen gelben Blasen. Das Gas drang durch die Kleidung." Zwei Tage später sterben die ersten Soldaten qualvoll. Haber selbst beurteilt den Einsatz von Senfgas als "fabelhaften Erfolg, nicht wegen der Wirkung auf die inneren Organe, sondern wegen seiner Hautwirkung". Die Überlegenheit der Alliierten lässt Haber lange in dem Glauben, "dass es nur mit dem Gas geht". Er irrt. Zwar sterben insgesamt etwa 80 000 Soldaten im Gaskrieg, werden mehr als eine Million verwundet. Doch kriegsentscheidend ist diese Waffe nicht. Der Wettlauf um immer tödlichere Kampfstoffe führt am Ende zu einem Patt.

Haber erhält den Nobelpreis

Nach der deutschen Niederlage flüchtet Fritz Haber in die Schweiz. Er soll auf einer Gesuchtenliste der Alliierten stehen, weil er gegen das Völkerrecht verstoßen habe: Die "Haager Landkriegsordnung" verbietet die militärische Verwendung von Giften und "erstickenden Gasen". Doch dann erreicht ihn die Nachricht, dass ihm der Nobelpreis zuerkannt worden ist - für seine Verdienste um die Ammoniak-Synthese. Haber nimmt den Preis an. Er habe "einer sittlichen Pflicht gehorcht, seine Arbeit der Verteidigung seiner Heimat" zu widmen. Zu einer Anklage durch die Siegermächte kommt es nicht mehr.

Zyklon B für die Schädlingsbekämpfung

In den 1920er Jahren forscht er an neuen Giften zur Schädlingsbekämpfung. Eines davon wird Zyklon B genannt. Dessen grausige Verwendung in den Gaskammern der Nazis erlebt Fritz Haber aber nicht mehr: Er verliert 1933 als Jude seine Stellung als Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts, geht nach England und stirbt acht Monate später. Zu den Millionen der von Deutschen ermordeten Juden gehören später auch enge Verwandte jenes Chemikers, der Patriot sein wollte und zum Kriegsverbrecher wurde.

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