Die Deutschen, so notiert ein aufmerksamer Beobachter, leben um 1900 in einem "Zeitalter der Reizbarkeit" - in einer Epoche der tausend neuen Impulse und Anregungen, die Begeisterung auslösen und Schaudern, Sehnsucht und Verwirrung. Nichts, so scheint es, ist noch stabil und verlässlich in diesem Land. Kein Wunder: Allein zwischen 1890 und 1913 nimmt die Bevölkerungszahl von 49,4 auf 66,9 Millionen Menschen zu - um ein Drittel in nicht einmal einer Generation.
Hunger und Seuchen, die großen Schnitter früherer Zeiten, sind zum ersten Mal nicht mehr alltäglich. Neue Techniken erhöhen die Ernten in der Landwirtschaft, Waren können per Zug und Schiff über weite Strecken herangeschafft werden, Frischwasserleitungen und Kanäle verbessern die öffentliche Hygiene, in den Laboratorien der Kliniken, Universitäten und neu entstehenden Pharmafirmen ersinnen Ärzte, Physiker und Chemiker vom Aspirin bis zum Röntgengerät revolutionäre neue Medikamente, Diagnose- und Heilverfahren.
Aber es leben nicht bloß mehr Menschen im Kaiserreich - sie durchwandern es auch, ruhelos und sprunghaft. Fast jeder zweite Deutsche lebt 1907 nicht mehr an dem Ort, an dem er einst geboren wurde.
Die Fabriken und die Mietskasernen der Metropolen saugen die Bürger förmlich ein. Vor allem aus dem Osten, aus Ostpreußen und Posen, strömen Menschen fort - Auswanderer im eigenen Land. Es zieht sie nach Berlin sowie in die Industriezentren Schlesiens und des Ruhrgebiets. Berlin bläht sich zur Zwei-Millionen-Metropole, Hamburg wächst um das Zweieinhalbfache auf 932 000 Einwohner, und selbst ein Provinznest wie Hamborn, das 1890 nur 4260 Bürger zählte, hat zwei Jahrzehnte später mehr als 100 000 Einwohner. So stolz die Zeitgenossen auf die Entwicklung sind (Deutschland ist nach dem russischen Zarenreich das bevölkerungsreichste Land Europas), so verunsichert sind sie auch über die in dieser Zeit entstehende "Massengesellschaft".
Denn die Deutschen werden zu Städtern. Bei der Reichsgründung 1871 lebten noch zwei von drei Untertanen des Kaisers auf dem Land - 1910 wohnen dagegen bereits zwei Drittel der Bevölkerung in der Stadt. Experten entwerfen nun Bebauungspläne, um das urbane Durcheinander zu ordnen: in Wohnviertel, Gewerbegebiete, Parks, Zentren der Verwaltung und des Kommerzes. In Hamburg etwa lebte 1871 noch die Hälfte der Bevölkerung in der Innenstadt, 1910 ist es nur noch ein Zehntel; der große Rest ist inzwischen verdrängt von Büros und Geschäften. Und im schicksten Wohnviertel der Hansestadt sind die Mieten 800-mal so hoch wie im ärmsten.
Deshalb auch sind die Städte keine Schmelztiegel: Reich und Arm leben streng geschieden, allenfalls die alten Differenzen zwischen Protestanten und Katholiken verschleifen sich, denn in den Metropolen flanieren die Gläubigen beider Konfessionen nun Schulter an Schulter.
Gas bringt Licht und Wärme in die Städte, bis 1910 wird fließendes, sauberes Wasser zur Selbstverständlichkeit. Starb im Jahr der Reichsgründung noch jedes vierte Baby im ersten Jahr (bei armen Textilarbeiterinnen, die kurz nach der Geburt wieder schuften mussten, waren es sogar zwei von drei Kindern), so reduziert sich dieser traurige Wert auch dank neuer Hygiene bis 1914 um immerhin ein Drittel.

Die Elektrizität schließlich wird zum Symbol der Städte schlechthin: Das Licht der Lampen flimmert durch die Nacht. (Die größten Stromverbraucher allerdings sind die ebenfalls neu entwickelten Straßenbahnen.)
So wird die Stadt zur Bühne des Alltags, und sie wird das vor allem für das Bürgertum. Denn der Adel, ohnehin bloß eine winzige Schicht, lebt auf Landgütern oder kreist um die knapp zwei Dutzend Fürstenhöfe sowie um die Kasernen und Paradeplätze, wo die Offiziere von Stand dominieren.
Und die Arbeiter brauchen länger, um in der Stadt anzukommen. Sehr viele von ihnen, arm und jung, wechseln oft mehrmals im Jahr die Bleibe und ziehen gar ganz fort, auf der ruhelosen Suche nach dem Glück in der nächsten Stadt, der nächsten Fabrik, dem nächsten Gewerbe. Der Anblick von Familien, die mit Handkarren und Leiterwagen ihre Habe durch die Straßen schleppen, ist fast alltäglich.
Das Bürgertum also: eine heterogene Gruppe vom Unternehmer über den Oberlehrer bis hin zum Gastwirt, vielleicht 15 Prozent der Bevölkerung. Eine Schicht auch der Neureichen, die ihren Wohlstand präsentieren, vor dem Adel buckeln und das Proletariat fürchten. Vom Kaiser lassen sich solche Parvenüs gern in Ermangelung anderer Auszeichnungen den Ehrentitel "Kommerzienrat" verleihen, der den angenehmen Nebeneffekt hat, bei Geschäftsverhandlungen die eigene Kreditwürdigkeit zu erhöhen.
Überhaupt blüht unter dem Kaiser die kunstvoll versteckte materielle Absicherung des Bürgers. Wer es auch nur zu ein wenig Geld gebracht hat, der richtet sich nun eine "gute Stube" ein - einen Schauraum fürs Prestige, im Alltag oft genug verschlossen, auf dass sich die kostbaren Einrichtungsstücke nicht abnutzen. Denn sollte je die Not drohen, dann wandelt sich das Wohnzimmer zur Lebensversicherung in Damast und Mahagoni: wenn die Möbel Stück für Stück wieder verkauft werden.
Die Hüterin der guten Stube ist die Ehefrau: Meist heiraten Bürgerinnen mit Mitte zwanzig, der Bräutigam ist oft einige Jahre älter, man hat sich standesgerecht kennengelernt, bei Hausbällen, Bildungsreisen, Kuraufenthalten oder Konzerten. Mesalliancen zwischen Reich und Arm sind skandalös und entsprechend selten.
Das Bürgerliche Gesetzbuch - ein im Jahr 1900 in Kraft tretendes Monument wilhelminischer Jurisprudenz - erklärt den Ehegatten zum Vormund der Kinder und Verwalter des Vermögens, und selbst eine Scheidung ist nun schwerer durchzusetzen als zuvor nach dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794.
Kaum ein Mädchen darf eine Oberschule oder gar die Universität besuchen. Noch der berühmte Physiker Max Planck erklärt, dass "die Natur selbst der Frau ihren Beruf als Mutter und Hausfrau vorgeschrieben"“ habe - wobei sich allerdings niemand die Mühe macht, die Mädchen wenigstens auf den Beruf Mutter vorzubereiten. Aufgeklärt werden sie schon gar nicht, und so ist die Hochzeitsnacht oft genug ein Schock. Deshalb fliehen viele Frauen in Migräneanfälle und nervöse "Unpässlichkeiten" - oder in die modernen Kaufhäuser, eine Erfindung jener Zeit.
Dort immerhin vollziehen sie, wortwörtlich, eine Befreiung: Um 1900 zwängt sich die Bürgerin aus dem Korsett, die Kleidung wird luftiger. Die Dame von Welt treibt nun Sport und fährt, wie revolutionär, mit dem Fahrrad, auch ohne Begleitung durch einen Herren. "Das Bicycle hat zur Emanzipation der Frauen aus den höheren Gesellschaftsschichten mehr beigetragen als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammengenommen", verkündet 1905 Rosa Mayreder - eine Frauenrechtlerin. Ungeheuer bleibt hingegen der Druck von Herrn und Frau Kommerzienrat auf ihre Söhne. Die sollen pauken, denn das Bildungspatent
ist die Eintrittskarte zur Karriere. Der Schriftsteller Theodor Fontane beklagt die "Verlederung" des deutschen "Examensvolkes", das in Bildungshuberei erstarre, mit durchaus tragischen Konsequenzen: "Wie Eisenbahnunfälle und Abstürze von Touristen, so scheinen auch Schülerselbstmorde in Deutschland zu einer stehenden Zeitungsrubrik zu werden", bilanziert ein Gymnasialprofessor 1908.
Langsam nur öffnen sich Fluchten, weg von der Pression der Ehrbarkeit, des Aufstiegs, der Wohlstandsabsicherung. Arbeiten die Menschen im Jahr 1871 in der Regel noch zwölf Stunden an sechs Tagen in der Woche, so wird um 1900 in einigen Branchen der freie Samstagnachmittag üblich, die Arbeitszeit sinkt auf manchmal bloß noch zehn Stunden am Tag. Die Arbeitslosenquote liegt 1890 bei unter drei Prozent, die Wirtschaft hat Hochkonjunktur, es sind gute Zeiten auf dem Arbeitsmarkt.
Nun erschließt sich den Angestellten und Arbeitern eine völlig neue Domäne: die Freizeit. Vor allem die Bürger verbringen sie im Konsumrausch, kaufen Kaffee und Tee aus den Kolonien und 1907 erstmals das Waschmittel "Persil", ein Produkt der boomenden Chemieindustrie, für das geworben wird (Reklame ist ebenfalls eine Erfindung des Zeitalters). Zigaretten werden vom Luxusaccessoire zum Allgemeingut, gerade auch für die Dame.
Die freie Zeit verbringen die Menschen jetzt im Varieté, im Tanzlokal oder Kino: 1895 zeigt der Berliner Wintergarten die ersten "lebenden Fotografien", 1914 glitzern schon 2000 "Lichtspielhäuser" im Reich. Und wer es sich leisten kann, entkommt im eigenen Automobil dem Verkehrsgewimmel der Metropole in die Sommerfrische am Meer oder in den Bergen.
Danach geht es zurück in den Alltag der Städte, wo sich die Leute schneller bewegen als auf dem Land. Wo sich durch den Einfluss der Massenmedien die Dialekte abschleifen und das Hochdeutsch herausbildet. Und wo die "BZ am Mittag", die sich selbst als "schnellste Zeitung der Welt" rühmt, die Kurse der Berliner Börse schon 30 Minuten nach deren Schließung auf dem noch druckfeuchten Papier präsentiert.
Immer rascher pulst das Leben, immer hektischer müht sich der Bürger. Doch wohin? Und wozu? Fast scheint es, als sei in all der rasenden Bewegung der innere Kompass verloren gegangen, als staue sich hinter den Neorenaissance-Fassaden der wilhelminischen Ära eine aggressive Geschäftigkeit an, der nur noch Ziel und Anlass fehlt, um hervorzubrechen gegen die Welt.
"Die Zeit", notiert der bekannte Kulturkritiker Alfred Kerr in einem Fazit am letzten Tag des Jahres 1899, "ist aus den Fugen."