Liebe Leserin, lieber Leser
Es gibt vermutlich nicht viele Fotos, die den rasanten Modernisierungsschub, der zum Ende des 19. Jahrhunderts das Deutsche Reich prägt, so anschaulich wiedergeben, wie das Bild rechts neben diesem Editorial: Auf einer Landstraße überholt ein motorisierter Wagen einen von vier Hunden gezogenen Karren; der Fahrer des neuartigen Automobils blickt ein wenig gönnerhaft auf den Kutscher und dessen Zugtiere.

Es ist, als begegneten sich für einen Moment Vergangenheit und Zukunft - das archaische, in Teilen noch mittelalterlich geprägte Land der Vor-Kaiserzeit und das ins 20. Jahrhundert vorwärtsstürmende vereinigte Reich der Deutschen. Die Aufnahme erzählt von einem Land im Umbruch; einem Land der zwei Geschwindigkeiten; einem Land, dessen Einwohner den Anbruch der Moderne höchst unterschiedlich erleben. Und es ist erkennbar zu einer Zeit aufgenommen, in der die Fotoapparate bereits so weit ausgereift sind, dass es möglich ist, zwei Wagen in ihrer Bewegung einzufrieren.

Oder nehmen Sie das Foto, das wir auf Seite 72 zeigen und das auf den ersten Blick so ganz anders ist als das eben beschriebene. Gut 300 Menschen sind darauf zu sehen - so viele wie wohl nur auf wenigen anderen Bildern aus dem Deutschland jener Zeit. Es sind Teilnehmer eines Kongresses der Allgemeinen Radfahrer-Union, der 1905 in Weimar abgehalten wird. Eng nebeneinander haben sich die Sportler (der Kleidung nach zu urteilen die Mitglieder von mehr als zehn Vereinen) auf der Freitreppe vor einem Museum postiert und fixieren die Plattenkamera des Fotografen Louis Held. Sein Gruppenporträt ist bewusst statisch und unterscheidet sich dadurch vollkommen von dem Reportagefoto von der Landstraße - und dennoch überwältigt auch dieses Bild: vor allem wegen seiner Fülle an Details. Wir erkennen unter anderem eine Gruppe von Männern in Arbeitstracht, offenbar Bergleute, die sich stolz um ihr Wappen versammelt haben; und in ihrer Mitte eine Frau, die während der Belichtungszeit anscheinend ihr Gesicht abgewandt hat, denn wir sehen sie sowohl von vorn wie im Profil.
Anderswo auf diesem Bild sind Männer in Zimmermannstracht auszumachen; andere tragen historische Kostüme, wieder andere eine Uniform. Dazwischen einige Kinder - und drei Dutzend Frauen. Louis Held erzählt uns mit diesem Foto von dem Vereinsleben, das in Deutschland nach der Gründung des Kaiserreichs reichsweit und überregional aufzublühen begonnen hat; davon, dass sich die Menschen in ihrer Freizeit nun organisieren – ja dass sie überhaupt Freizeit haben. Ich stelle Ihnen diese beiden Aufnahmen so ausführlich vor, weil sie von der erzählerischen Kraft der Fotografie künden. Einer Kraft, die längst sprichwörtlich geworden ist und auf die wir seit 14 Jahren bei GEOEPOCHE setzen, um historische Ereignisse zu veranschaulichen. Doch trotz der Bedeutung der Fotografie für den Erfolg von GEOEPOCHE stand das Bild stets im Dienst des Textes, hatten wir aufgrund des Platzmangels in den regulären Ausgaben nur selten Gelegenheit, geschichtliche Zusammenhänge allein mit optischen Mitteln aufzuzeigen. Deshalb haben wir ein neues Magazin entwickelt, das vor allem auf die Macht des Visuellen setzt – und hier ist es: GEOEPOCHE PANORAMA. In Zukunft werden wir in diesem Heft alle sechs Monate ein Zeitalter allein über die Fotografie präsentieren. Die Abbildungen werden in ausführlichen Bildunterschriften erläutert und durch Textessays ergänzt.


Die Themen werden manchmal bereits in GEOEPOCHE behandelt worden sein - wie im vorliegenden Heft - oder für uns ganz neu sein, wie "Das Amerikanische Jahrhundert", das in der nächsten Ausgabe vorgestellt wird. Wie Sie es bereits von GEOEPOCHE EDITION gewohnt sind, unserer dritten Heftreihe (über die Geschichte der Kunst), werden wir uns auch hier um höchste Abbildungsqualität bemühen - und selbstverständlich um ebenso präzise und anschauliche Bildtexte.
Es ist kein Zufall, dass wir unser neues Projekt mit der Geschichte des Kaiserreichs beginnen. Denn es war eine Zeit, in der sich nicht nur Deutschland dramatisch veränderte, sondern auch das Medium Fotografie. Gut vier Jahrzehnte nach seiner Erfindung wurde der Fotoapparat dank neuer Techniken mobil, schwärmten Lichtbildner in alle Winkel des Reichs aus und hielten auf ihren Glasplatten fest, was ihnen vor die Kamera kam: Tunnelarbeiter in Altona, Bäuerinnen in Ostpreußen, Droschkenfahrer in Berlin, Bohemiens in Thüringen.
Sie dokumentierten den Verfall der Hamburger Gängeviertel, die Pracht der Kaufhäuser, die Maschinen der Stahlkonzerne, die Architektur der neuen Bahnhöfe. Und den Geist jener Zeit: das Katzbucklige, Pickelhaubige, Großmannssüchtige, das vor allem die Jahre nach 1888 ausmachte, die Ära Wilhelms II. - aber auch den Aufschwung der Künste und vor allem den von Wissenschaft und Technik; denn Deutschland war in dieser Hinsicht damals das modernste Land der Welt.
Es hat Spaß gemacht, GEOEPOCHE PANORAMA zu entwickeln - und damit noch einmal einen Blick auf die Kaiserzeit zu werfen: jene Epoche, in der Deutschland einen großen Sprung nach vorn machte. Und dennoch am Ende ganz allein dastand.
Herzlich Ihr, Michael Schaper