Ein Morgen in Berlin. Vor dem Zuchthaus steht Franz Biberkopf, groß, kräftig, Anfang 30. Vier Jahre hat der Transportarbeiter hier verbracht, als Strafe für den Totschlag seiner Geliebten. Jetzt ist er frei – und weiß nicht wohin: „Das war zuerst, als wenn man beim Zahnarzt sitzt, der eine Wurzel mit der Zange gepackt hat und zieht, der Schmerz wächst, der Kopf will platzen.“In der Haftanstalt herrschte Ordnung. Jetzt aber, 1927, dröhnt Berlin auf ihn ein, der Vier-Millionen-Menschen-Moloch, laut, stickig, dynamisch. Ein Anziehungspunkt für Künstler, Literaten, Zeitungsleute, Glücksjäger. Und mittendrin Franz Biberkopf, der jetzt nur noch eines will: „anständig“ bleiben.
Als Straßenhändler verkauft er Schlipse am Alexanderplatz, in Kneipen und Zuhälterkaschemmen verbringt er die Abende. In diesem Milieu findet Biberkopf seine große Liebe. Doch es wird nicht gut enden mit ihm. Daran lässt sein geistiger Vater, der Arzt und Autor Alfred Döblin, bereits im Prolog zu „Berlin Alexanderplatz“ keinen Zweifel – jenem Roman, der wie kein zweiter für die Erneuerung der deutschen Literatur zu Zeiten der Weimarer Republik steht.
Die Autoren genießen die Befreiung von der wilhelminischen Zensur: Proletarischrevolutionäre Schriftsteller wie Johannes R. Becher nutzen die Literatur offen als Kampfinstrument für die Sache der Arbeiter. Expressionisten kämpfen gegen die verlogene Gesellschaft an, so Ernst Toller. Hermann Hesse schreibt seinen „Steppenwolf“, Lion Feuchtwanger den „Jud Süß“ und Thomas Mann den „Zauberberg“.
Der jüdische Nervenarzt Döblin beobachtet die Menschen mit dem Blick des Analytikers. Kühl und sachlich lässt der 1878 geborene Autor seinen Erzähler in „Berlin Alexanderplatz“ den Protagonisten auf dessen Weg ins Verderben begleiten. Noch ehe die eigentliche Geschichte beginnt, berichtet der Erzähler vom „Schicksal“, das „gegen den Mann“ fahre und ihn zur Strecke bringe.
Mithilfe einer neuartigen Montagetechnik versucht Döblin, den Leser in jene Unruhe zu versetzen, die auch Biberkopf treibt. Der dauernde Wechsel der sprachlichen Mittel – die Vielstimmigkeit von Berliner Jargon, Bibelsprache, Werbeslogans, Schlager- und Moritatenton, Zeitungsdeutsch, Statistiken – soll das neue Tempo der Großstadt wiedergeben: „Rumm rumm haut die Dampframme auf dem Alexanderplatz. ... Ruller ruller fahren die Elektrischen, Gelbe mit Anhängern ... da sitzt ein alter Mann mit Arztwaage: Kontrollieren Sie Ihr Gewicht, 5 Pfennig.“
Die Großstadt ist der eigentliche Gegenspieler von Biberkopf. Das Pandämonium aus Menschentrubel und Reklamegeschrei, Verbrechertum, Schlachthausdunst und Jazz, aus Kaschemmenphilosophie, Zuhälterpack, Flittermoral und strahlendem Lichter- glanz nimmt ihm den Halt und macht es ihm unmöglich, „anständig“ zu sein.
Döblins Verlag wagt eine Erstauflage von 10 000 Exemplaren. Sie ist binnen Monaten nach Erscheinen im Oktober 1929 vergriffen. Der Kulturkritiker Walter Benjamin urteilt: „So hat der Gischt der Sprache den Leser noch nie bis auf die Knochen durchnässt.“
Form und Inhalt des Romans sind revolutionär, so vielseitig wie die Literatur der Republik: Mit seiner „Geschichte vom Franz Biberkopf“ zieht der Autor gleichsam die Summe aus allen literarischen Avantgardenseiner Zeit. Mal schreibt er expressionistisch, mal kühl und mit großem Abstand. Er experimentiert mit Filmstil, Naturalismus, Dokumentation. Er montiert, schneidet, konfrontiert. Und porträtiert so auf nie zuvor versuchte Weise das Dasein im Griff der Großstadt. Damit trifft er ein wesentliches Lebensgefühl der Weimarer Republik – die große Verunsicherung, die Frage: Was kommt danach?
Biberkopf schafft es nicht, „anständig“ zu bleiben. Schnell wird er in schmutzige Geschäfte verwickelt, verliert seine Geliebte durch Mord. Und geht zugrunde. Döblin verlässt 1933 Deutschland. Er emigriert nach Paris, 1940 gelingt ihm die Flucht in die USA, nach dem Krieg lebt er in Süddeutschland. 1957 stirbt Alfred Döblin. Ein Roman von der Kraft und dem Einfallsreichtum seines größten Erfolgs ist ihm nie wieder gelungen.