Ein Geschenk des Nil sei Ägypten, schreibt um 430 v. Chr. der griechische Historiker Herodot. Wer sollte dieser Erkenntnis widersprechen? Schließlich schafft der Strom in einer der trockensten Regionen der Welt seit Jahrtausenden ein mehr als 1000 Kilometer langes, fruchtbares Paradies. Spült Süßwasser in eine Wüste, in der Leben sonst kaum möglich wäre. Und hinterlässt durch die jährliche Überschwemmung seiner Ufer nährstoffreichen Schlamm, in dem Pflanzen bestens gedeihen. Auch die Bewohner des Pharaonenreichs selbst sehen den Fluss als Heilsbringer. Sie preisen den Hapi, die göttliche Verkörperung der alljährlichen Nilüberschwemmung: „Unbegreiflich in seinem Wesen, dunkel am Tage. / Schlammflut aus Oberägypten, die das Land überschwemmt, / geschaffen von Ra, um einen Dürstenden zu beleben. / Der die Gerste erschafft, der den Emmer entstehen lässt / und die Tempel der Städte festlich macht.“ Doch tatsächlich ist das nur die halbe Wahrheit. Denn nicht allein der Leben spendende Nil lässt in Ägypten eine der frühesten Hochkulturen der Menschheit entstehen: Das Pharaonenreich mit seiner einzigartigen, dem Diesseits wie dem Jenseits verhafteten Tradition ist auch ein Geschenk der todbringenden Wüste. Denn die Sahara ist nicht immer eine ausgetrocknete Einöde aus Sand, Stein und Geröll gewesen. Noch um 6000 v. Chr. sind weite Teile des Gebiets grasbewachsene Savanne. An einigen Stellen fällt derart viel Regen, dass sich Seen bilden und dort Nomaden mit ihren Rinderherden leben können.
Aus Hirten, Jägern und Sammlern werden allmählich sesshafte Bauern. Sie bauen Emmer an, eine Weizenart; sie lernen, aus Ton Gefäße zu formen und zu haltbarer Keramik zu brennen; sie wissen, wie man tiefe Brunnen gräbt; und sie entwickeln einen Kalender, der es erlaubt, die jährliche Wiederkehr der Regenzeit exakt vorherzusagen. Das Niltal ist zu dieser Zeit eine mit Papyrusstauden und Schilfwäldern dicht bewachsene Wildnis, das Delta ein Sumpf. Im Fluss leben Fische, Nilpferde und Krokodile, in den Auen Vögel und Büffel – aber wohl kaum Menschen: Die regelmäßige Überschwemmung, die das Land im Tal für Monate vollständig unter Wasser setzt, macht eine Besiedlung so gut wie unmöglich. Es dauert Jahrhunderte, dann haben sich die Sedimente der Nilflut zu meterhohen Dünen angehäuft, die auch bei Hochwasser über dem Fluss aufragen – und so zu Rückzugsräumen für Siedler werden, die sich nach und nach am Strom niederlassen. Denn um 5000 v. Chr. versiegt der Regen. Die Sahara wird zur Wüste. Und je mehr das Umland austrocknet, desto näher drängen die Menschen an den Nil, der schon bald (bis auf wenige Oasen) zur einzigen Wasserquelle der Region wird. Das allmähliche, aber unaufhaltsame Vordringen der Wüste lässt den aus der Sahara vertriebenen Menschen keine andere Wahl, als an den Fluss zu ziehen – dorthin, wo Büffel, Löwen und Paviane mit ihnen um den Lebensraum konkurrieren. Sie müssen die Wildnis urbar machen, Buschdickichte roden, Moraste für Getreidefelder trockenlegen. Und lernen, die bis dahin verderbliche Überflutung zu nutzen, die der Nil alljährlich über das Land bringt – jene Schlammwelle, die sich stets im Spätsommer vom Dach Afrikas aus ergießt.
Denn von Juni bis Oktober gehen im abessinischen Hochland schwere Monsunregengüsse nieder. Die zu Tal stürzenden Wasser reißen Geröll aus den Bergen mit in das Bett des Blauen Nil, eines der Zuflüsse des Stroms. Der Fluss zerkleinert das Gestein zu mineralhaltigem Schlick und trägt diesen nach Norden. Im Juli eines jeden Jahres erreicht die Flut bei Assuan Oberägypten: das eher enge Niltal, das die Einheimischen schon seit Langem vom weitläufigen unterägyptischen Delta unterscheiden. Binnen weniger Tage verwandelt das Hochwasser das Niltal in einen weiten See, und wenn das Wasser im Oktober abfließt, bleibt ein feuchter, schlammbesetzter, schwarzer Boden zurück – höchst fruchtbares Ackerland: Ein Saatkorn keimt dort schnell und braucht zum Wachsen keinen weiteren Dünger. Die Flüchtlinge aus der Wüste schaffen sich um 5000 v. Chr. am Rand des Deltas in Unterägypten eine neue Heimat. Die älteste bekannte Rundplastik des Nillandes, ein wenige Zentimeter großes menschliches Antlitz aus gebranntem Ton, stammt aus einer dieser Siedlungen. Etwa 700 Jahre später erblüht flussaufwärts in Oberägypten die Naqada-Kultur. 80 Kilometer südlich des heutigen Luxor entsteht schließlich eine der ersten Städte Ägyptens. Anfangs ist Hierakonpolis (griech. „Falkenstadt“) noch kein zusammenhängender Ort; doch bis 3500 v. Chr. wachsen mehrere Dörfer zur Residenz eines oberägyptischen Häuptlings zusammen. Die Menschen dort leben in rechteckigen Hütten, deren Wände aus Schilf sind, verputzt mit Lehm. Auf der Nordseite der Stadt erstreckt sich ein großes Handwerkerviertel, wo Brauer aus Weizen ein nahrhaftes, schwach alkoholisches Bier herstellen, neben Brot das Grundnahrungsmittel der Ägypter. Die Bewohner von Hierakonpolis errichten wohl auch einen der ersten Göttertempel des Landes; bis dahin haben sie die überirdischen Wesen, die sich ihrem Glauben nach in Tieren, Naturgewalten und Gestirnen manifestieren können, wohl an besonders eindrucksvollen Stellen in der näheren Umgebung verehrt.
Nun bauen sie dem falkengesichtigen Himmelsgott Horus ein Haus der Anbetung inmitten ihrer Siedlung. Die Fassade des Schreins schmücken sie mit bunt gewebten Matten und vier mächtigen Säulen, vermutlich aus phönizischem Zedernholz. Dieses Baumaterial ist nicht das einzige Gut, das aus der Ferne nach Hierakonpolis gelangt, denn die Stadt ist wohlhabend und hat weit gespannte Handelsbeziehungen. Aus dem Süden – aus Nubien und Zentralafrika – werden Gold, Edelsteine und Felle angeliefert. Kupfer für metallene Angelhaken und Beile bringen Händler aus Palästina, Obsidian aus Äthiopien wird zu Perlen verarbeitet. Und Schmuck aus afghanischem Lapislazuli nutzen die Oberägypter als Grabbeigabe. Denn sie glauben an ein Weiterleben nach dem Tod. Das Fruchtland des Niltals ist schmal, stets haben die Bewohner die lebensfeindliche Ödnis zu beiden Seiten des Flusses in Sichtweite. Descheret nennen sie die Wüste, das „Rote Land“: das Gebiet der Entbehrung und des Bösen. Liegt es an diesem Anblick, dass die Oberägypter, die ihre Toten in der Wüste bestatten, meinen, die Verblichenen mit allem Nötigen versorgen zu müssen? Vielleicht treibt sie die Angst vor dem Mangel dazu, den Verstorbenen (deren Körper zu jener Zeit noch nicht mumifiziert werden) Speisen wie etwa gekochten Fisch, Schälrippchen vom Schwein, geschmortes Rindfleisch, Feigenkompott, Kuchen und Käse mitzugeben. Ihnen Steinkeulen, elfenbeinerne Amulette, Schmuckkämme und Halsketten mit Perlen aus Türkis für ihre Reise ins Jenseits zur Seite zu legen. Offenbar scheint jenen frühen Bewohnern des Nillandes nichts zu wertvoll, um damit die Grabstätten der Mächtigen auszustatten, nicht einmal menschliches Leben. Denn im oberägyptischen Abydos haben Forscher in aufwendigen Herrschergräbern die Gebeine junger und kräftiger Menschen gefunden – vermutlich geopfert, um ihrem Fürsten im Totenreich zu dienen. (Die Sitte wird bald aufgegeben. In späteren Zeiten bekommen die Verstorbenen Dienerfiguren und bald auch uschebti mit ins Grab, kleine mumienförmige Gestalten, die stellvertretend für den Grabherrn im Jenseits arbeiten sollen.)
Im Delta hingegen, wo der fruchtbare Nilgürtel bis zu 250 Kilometer breit ist und die feindliche Wüste weit entfernt, scheinen die Menschen mehr dem Diesseits zugewandt. Zumindest werden Archäologen hier später kaum Grabbeigaben finden. Doch diese unterägyptische Kultur ist nicht von Dauer. Denn in dem vom Tod faszinierten Süden wächst eine überlegene kriegerische Macht heran. Irgendwann um 3400 v. Chr. gelingt es einem der Herren von Hierakonpolis, die anderen Häuptlinge Oberägyptens zu unterwerfen und einen Staat zu begründen, der bald von dem Ort Elephantine im Süden bis zum Beginn des Deltas im Norden reicht. Er ist der erste König in Ägypten. Der erste Pharao. Sein Name ist nicht überliefert, aber etliche seiner Nachfolger sind bekannt. Sie nennen sich Löwe, Kobra oder Skorpion, immer verbunden mit dem Königstitel Horus, dem Namen des falkengesichtigen Gottes von Hierakonpolis. Die Tiernamen dieser Herrscher symbolisieren Stärke, Kampfkraft und Aggressivität. Sie sind Ausdruck des außenpolitischen Programms ihrer Träger, die um 3300 v. Chr. ihre nördlichen Nachbarn unterwerfen. Doch es dauert noch fast 600 Jahre, ehe sie ihre Herrschaft gegen den Widerstand lokaler Fürsten sichern können.
Wie dieser Kampf wirklich abgelaufen ist, weiß niemand. Es gibt nur wenige Bildzeugnisse aus jener Zeit – etwa auf der Prunkpalette des Pharao Narmer, einer 63 Zentimeter hohen Tafel aus Schiefer, auf der Augenschminke angerührt wurde. Sie zeigt den Herrscher, der um 3050 v. Chr. den Thron bestiegen hat, wie er mit der Keule einen Feind erschlägt, sowie einen Stier, der eine Stadtmauer berennt. Objekte, die Narmers Namen tragen, finden sich in allen Teilen Ägyptens. Vermutlich ist also er einer der ersten Herrscher der „Beiden Länder“, des oberägyptischen Niltals und des unterägyptischen Deltas. Pharaonen wie er schmieden den ersten Territorialstaat in der Geschichte der Menschheit. Und sie entwickeln die Methoden, um ihn zu lenken. Denn noch während der Kampf um die Herrschaft über Unterägypten tobt, ersinnt wohl ein königlicher Beamter ein neues Zeichensystem, mit dem sich Steuerzahlungen sowie Herkunft, Art und Qualität von Produkten besser dokumentieren lassen. Zu kompliziert ist inzwischen die Verwaltung der Abgaben, als dass sie noch mit der üblichen Methode bezeichnet werden könnten, bei der ein Bild wie ein Piktogramm genau eine Bedeutung hat. Die Schreiber des Königs müssen einen neuen Weg finden, wie sich die bereits verwendeten Piktogramme universeller einsetzen lassen. Ihre geniale Idee: Wenn sich mehrere Symbole sowie die Laute, für die sie stehen, zu neuen Bedeutungen verknüpfen ließen, ergäbe das eine viel größere Zahl von möglichen Wörtern. Jene Elfenbeintäfelchen, in die königliche Buchhalter um 3300 v. Chr. diese neuen Zeichenfolgen ritzen (später „Hieroglyphen“ genannt), gehören zu den ältesten heute bekannten Zeugnissen einer revolutionären Schöpfung: der phonetisch lesbaren Schrift. Sie versetzt die Ägypter schon bald in die Lage, nicht bloß Inventare zu notieren, sondern auch ihren Glauben, ihre Träume und die eigene Geschichte zu dokumentieren. Um 2734 v. Chr. besteigt ein Pharao namens Chasechemui den Thron. Er nimmt seine Residenz – die seine Vorgänger nach Memphis an der Südspitze des Deltas verlegt hatten – wieder in Hierakonpolis. Und er gewinnt den seit fast sechs Jahrhunderten schwelenden Kampf in Unterägypten endgültig: 47 209 Feinde seien in Chasechemuis Schlachten gefallen, verkünden Inschriften auf den beiden erhaltenen Statuen des Herrschers.
Fast ein Dreivierteljahrtausend hat die Staatswerdung Ägyptens gedauert. Nun, am Ende der Regierung des Pharao Chasechemui, ist der gigantische Schöpfungsakt vollzogen, sind die Grundlagen der pharaonischen Zivilisation etabliert. Zu ihnen gehören:
- ein gottgleicher König an der Spitze eines Territorialstaates, dessen Gebiet von der Grenzstadt Elephantine im Süden bis zum Mittelmeer im Norden reicht und den ein Beamtenstab, auch dank der Hieroglyphenschrift, effizient verwaltet;
- eine – infolge der jährlichen Nilüberschwemmung – besonders ertragreiche Landwirtschaft;
- ein aufwendiger Totenkult und ein komplexer Götterglaube, die zur Erschaffung Tausender Monumente, Statuen und Bilder führen. Und damit zu einer ganz besonderen Kunst.
Denn in den meisterhaften Werken offenbart sich nicht weniger als die Essenz der ägyptischen Weltsicht – der feste Glaube daran, dass der Kult die Welt der Menschen mit der Sphäre der Götter verbindet, im Hier und Jetzt, vor allem aber auch über sämtliche Grenzen von Zeit und Raum hinaus. All die Gräber, Tempel und Figuren, die Särge, Amulette und Inschriften, die in den folgenden knapp drei Jahrtausenden entstehen, sollen ihre Auftraggeber auf magische Weise einbinden in die allumfassende, göttliche Ordnung des Universums. Die gewaltigsten Kunstwerke sind die Pyramiden; die erste entsteht ab etwa 2700 v. Chr. für Pharao Djoser, der direkt auf Chasechemui folgt. Djosers Architekt errichtet das erste himmelstürmende Grabmal der Welt und erfindet den monumentalen Steinbau. Mit dem Pyramidenbezirk des Djoser in Saqqara beginnt eine neue Zeitrechnung der Baukunst. Denn fortan konstruieren die Ägypter ihre Gräber und Heiligtümer möglichst aus Stein. Vergängliche Materialien wie Lehm, Holz oder Matten aus Pflanzenfasern dienen dagegen nur noch dem profanen Alltag. Die Reliefs in den unterirdischen Gängen des Grabmals prägt bereits jener ungewöhnliche Blick auf die Welt, der Ägyptens Kunst so besonders macht: Kopf, Arme und Beine eines Menschen etwa werden im Profil dargestellt, Auge und Schultern dagegen frontal. Dieses spezielle Bemühen der Künstler am Nil, ungeachtet anatomischer Richtigkeit von jedem Bestandteil des Dargestellten den charakteristischen Aspekt zu zeigen, wird bis zum Untergang der pharaonischen Zivilisation nahezu unverändert erkennbar bleiben. Für die Schöpfer dieser Bilder ist es der einzig denkbare Weg.
Zusätzlich schaffen sie mit ihrer Kunst eine neue Dimension von Realität, denn ein Relief, das beispielsweise einen siegreichen König zeigt, feiert nicht nur den kurzen Moment seines Triumphs, es schreibt ihn auf unbegrenzte Dauer fort. Eine Statue – vielleicht in einem Tempel oder in einem Grab aufgestellt – vertritt den Dargestellten als lebendiges Abbild für alle Zeiten, sei es ein Gott, ein Mensch, ein Tier. Und auf Grabwände gemalte Speisen und Getränke stehen dem Toten im Jenseits als tatsächliches Brot, Geflügel und Bier zur Verfügung, ganz gleich, ob seine Hinterbliebenen ihm Nahrung opfern oder nicht, die Familie seiner noch gedenkt oder ihn vergessen hat. Im alten Ägypten gibt es keine Kunst um ihrer selbst willen: Alles hat Bedeutung, alles einen tieferen Sinn. Alles dient dem Kult und folgt einer über Millennien hinweg gültigen religiösen Tradition. Und die Motive – etwa der falkengesichtige Himmelsgott Horus – reichen weit zurück in die Geschichte, bisweilen bis in die Frühzeit der Staatswerdung am Nil oder gar darüber hinaus.
Und so sind die Schöpfer der Kunst, die im Auftrag von Königen, Priestern und Beamten als Architekten, Bildhauer und Maler im Land der Pharaonen ans Werk gehen, auch keine Künstler im modernen Sinn. Sie verfolgen keine eigene, frei gewählte Mission, selbst wenn mancher durchaus einen eigenen Stil entwickelt. Die Meister des alten Ägypten sind vielmehr hochspezialisierte Handwerker, begnadete Erfüllungsgehilfen der Menschen am Nil, die vor allem ein Ziel haben: dem Vergänglichen Dauer zu verleihen. Fast drei Jahrtausende wird die ägyptische Zivilisation bestehen bleiben, bis im Jahr 31 v. Chr. Kleopatra, die letzte Königin des Pharaonenreichs, den römischen Legionen unterliegt. Bis dahin wird sich über Jahrhunderte immer wieder das gleiche Muster wiederholen: Auf eine Epoche der Zersplitterung des Landes und der Bürgerkriege folgt die Einigung Ober- und Unterägyptens, folgen lange Perioden der kulturellen Blüte und Stärke, bevor wieder eine Krise einsetzt und der Staat der Pharaonen abermals zerfällt – und die Geschichte der Reichseinigung von vorn beginnt. In jenem Land am Nil, das seine ganze Existenz dem Fluss und der Wüste verdankt, dem Leben und dem Tod.