Die Bühne, die Conrad von Soest dem Heiland bereitet, ist monumental: ein Flügelaltar, mehr als sechs Meter breit und fast zwei Meter hoch, in dessen Zentrum der Körper des Gottessohnes am Kreuz hängt, alle anderen Figuren der Szene überragend, leichenblass und feingliedrig.
Wie nach einer Schablone gefertigt wirkt sein Torso, seltsam verlängert sind die dünnen Arme und Beine, unproportional klein ist der Kopf. Umso stärker fällt der goldene Heiligenschein auf, der das Haupt umgibt. Auch der Himmel ist in Gold gehalten, das im Mittelalter für das Göttliche steht. Abgesetzt von diesem flächigen Hintergrund leuchten die langen grünen, roten und blauen Brokat-Gewänder, die einige Figuren um den Gekreuzigten herum tragen.
Dass es Conrad von Soest ist, der diesen Altar im Jahr 1403 malt, verrät eine Inschrift auf dem Rahmen: Als einer der ersten Künstler nördlich der Alpen hinterlässt er selbstbewusst seinen Namen - als hätte er damals schon geahnt, dass er ein Bild geschaffen hat, das dereinst für eine ganze Kunstepoche stehen wird. Denn der Flügelaltar ist ein Hauptwerk des "Schönen Stils!, der letzten einheitlichen Kunstrichtung des Mittelalters, die von etwa 1380 bis 1420 fast ganz Europa erfasst.
Überall auf dem Kontinent schaffen Künstler in dieser Zeit Gemälde in einem ausgesprochen dekorativen Stil, mit fließenden Linien, grazilen Figuren und leuchtenden Farben.
Stärker noch als die Maler zuvor verzichten sie auf Tiefenräumlichkeit und modellieren ihre Bilder auch kaum noch durch Licht und Schatten, nehmen also bewusst künstlerische Vereinfachungen in Kauf, um dem Stil ihrer Zeit zu entsprechen. Gefällig wirkt diese Bildsprache, tröstlich in ihrer anmutigen Harmonie.

Dabei ist sie ein Kind des Grauens. Denn in den Jahrzehnten vor 1380 suchen apokalyptische Katastrophen das Abendland heim. So bringen ungewöhnlich kalte und regnerische Sommer zu Beginn des 14. Jahrhunderts zahlreiche Missernten, es gibt nicht mehr genug Brot, die schlimmste der nun folgenden Hungersnöte dauert zwei Jahre an. 1337 beginnt der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England, der weite Regionen verheert. Wenig später zieht eine gewaltige Heuschreckenplage über Mitteleuropa.
Im Jahr 1347 schließlich erreicht der Schwarze Tod den Kontinent. Von Italien aus breitet sich die Pest unaufhaltsam aus. Bald sind die Friedhöfe überfüllt. Den Christen im Abendland muss es scheinen, als sei das Ende aller Tage gekommen.
Und inmitten dieser Kaskade des Verderbens spaltet sich auch noch jene Institution, die das Leben der Menschen bestimmt wie keine andere. Die ihnen sagt, was sie zu tun und zu denken haben, ihnen Hoffnung und Halt geben soll: die römische Kirche. 1378 wählen die zerstrittenen Kardinäle zwei Päpste, der eine residiert in Rom, der andere in Avignon. Das Amt des Stellvertreters Gottes auf Erden ist ins Zentrum eines profanen Machtkampfes gerückt. So ist es kein Zufall, dass die verunsicherten Gläubigen in dieser Zeit nach einer neuen religiösen Gewissheit suchen, sich nach Frieden und Eintracht sehnen.
Und sie finden all das in einer Kunst, die nicht aufrütteln oder schockieren will, sondern danach strebt, die Frömmigkeit der Betrachter durch immer gleiche, idealisierte Motive zu stärken. Denn nicht um die realistische Darstellung von Mensch und Natur geht es den Malern des Schönen Stils. Sie verstehen Figuren und Gegenstände vor allem als dekorative Elemente, die es zu einem harmonischen Ganzen zusammenzusetzen gilt: stets mit dem Ziel, die christliche Heilsgeschichte, das dominierende Thema der mittelalterlichen Kunst, zu verbreiten.
Dabei vermitteln sie eine Deutung der Passion, die intimer und tröstender ist als in früheren Jahren. Denn Jesus wird nun nicht mehr als triumphierender Gottessohn gesehen, sondern vor allem als Mensch, der für die Erlösung der Gläubigen körperliche und seelische Pein auf sich geladen hat – und daher eher Anteilnahme und Mitleid verdient als distanzierte Ehrfurcht.

Dieses neue, gefühlsbetonte Glaubensverständnis erfasst im 14. Jahrhundert ganz Europa. Zwar ist der Schöne Stil nicht überall vollkommen gleich, gibt es Unterschiede im Detail, doch die zentralen Merkmale bleiben stets einheitlich: die in die Länge gezogenen, feingliedrigen Figuren, die auffallenden, kostbaren Gewänder, der goldene Grund, das Fehlen von Tiefenräumlichkeit und Zentralperspektive.
Bis 1420 dominiert diese Manier die europäische Malerei. Doch dann enden allmählich die Erinnerungen an das so schreckenserfüllte 14. Jahrhundert, und es beginnt eine Ära des Aufbruchs, der Entdeckungen und des Wandels.
Wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfindungen revolutionieren das Weltbild wie auch den Alltag. Mit der Eroberung erster Stützpunkte in Afrika beginnt die europäische Expansion. Der von Johannes Gutenberg um 1454 entwickelte Buchdruck mit beweglichen Metall-Lettern ermöglicht die massenhafte Verbreitung von Flugblättern, Pamphleten und Schriften. Zur gleichen Zeit ordnet der Astronom Nikolaus Kopernikus das Universum neu, stellt die Sonne in sein Zentrum und gibt ihr damit jenen Platz, den seit jeher die Erde innehatte. In vielen Regionen prosperiert die zuvor stagnierende Wirtschaft, der Handel nimmt zu, die von der Pest entvölkerten Städte wachsen wieder. 1453 endet endlich auch der Hundertjährige Krieg.
Und so wie die epochalen Katastrophen langsam in Vergessenheit geraten, verschwindet auch die Kunst der Krisenzeit, bringt das Jahrhundert des Aufbruchs eine neue, raffiniertere Malerei hervor. In Italien entdecken die Künstler die Antike wieder. In ihren Werken feiern die Maler südlich der Alpen fortan den Glanz des alten Rom, bannen griechische Götter auf die Leinwand, schaffen dabei individuelle Figuren und vollkommene, perspektivisch korrekte Kompositionen. „Renaissance“, Wiedergeburt, werden Kunsthistoriker diese Ära später nennen.
Stärker noch als die Italiener konzentrieren sich die niederländischen Meister auf die wahrhaftige Wiedergabe von Menschen und Natur. Sie fertigen präzise Skizzen von Händen und Gesichtern, von Insekten und Blättern, um der Realität möglichst nahe zu kommen. Beide Richtungen, die virtuose räumliche Malerei der Italiener und die unbestechliche Präzision der Niederländer, beeinflussen bald auch die deutschen Künstler. Wie ihre Vorbilder wollen sie ihre Umwelt zunehmend realistisch abbilden, statt sie der Heilslehre unterzuordnen, sie streben nach Naturalismus und räumlicher Tiefe.
Als Conrad von Soest um 1422 stirbt, beginnen einige seiner Kollegen gerade, den von ihm mitgeprägten Schönen Stil zu überwinden. Einer der wichtigsten Künstler dieser Übergangsphase ist Stefan Lochner, der in Köln arbeitet, der größten deutschen Stadt jener Zeit. Um 1440 schafft er dort einen Altar, der Maria und das Christuskind inmitten der Schutzheiligen Kölns darstellt. Es ist ein Werk, das die alte und die neue deutsche Kunst in sich vereint.
So weist der Altar noch einige Merkmale des Schönen Stils auf, zeigt ein christliches Bildthema auf goldenem Grund ohne Tiefenräumlichkeit und idealisiert die Gesichtszüge der Frauen und der Engel in lieblicher Einförmigkeit. Doch viel stärker als Conrad von Soest wagt es Lochner, seine männlichen Figuren als Individuen darzustellen. Bei ihm erscheint der nackte Körper des Christuskindes proportional stimmig und detailliert, wirken die Gesichter der Patrone wie lebensnahe Porträts - einer ist fahl, glatzköpfig und hakennasig, ein anderer trägt langes, lockiges Haar.
Auch die Brokatgewänder, bei den älteren Meistern noch recht flächig präsentiert, arbeitet Lochner plastisch aus, verziert sie mit kleinen, glatten Perlen und besetzt sie mit weichem Pelz, der nahezu greifbar wirkt – fast perfekt gelingt es dem Maler, die Materialien zu imitieren. Auf der schrundigen Rasenfläche, auf der die Figuren stehen, wachsen 40 verschiedene Nutz- und Heilpflanzen, darunter Walderdbeeren und Spitzwegerich. Und auf den rechten Flügel malt Lochner am unteren Rand minutiös einen winzigen Hirschkäfer.
Wie bei Lochner vermischen sich in vielen deutschen Werken des 15. Jahrhunderts die Merkmale alter und neuer Malerei – auch weil der Geschmack der Auftraggeber vielfältiger geworden ist. Denn nicht mehr nur die Kirche ordert Gemälde: Das aufkommende, kaufkräftige Stadtbürgertum verlangt mittlerweile ebenfalls nach Bildern. Und die neuen Kunstkäufer schätzen durchaus jene innovative Bildsprache, die manche von ihnen auf Handelsreisen im Ausland kennengelernt haben.
Für diese Klientel arbeiten Künstler wie der Bamberger Hans Pleydenwurff und der Elsässer Martin Schongauer, die sich vollständig vom Schönen Stil lösen. Die Gemälde dieser neuen Generation, die ab etwa 1440 entstehen, haben zwar immer noch vornehmlich biblische Themen, sind aber viel deutlicher als frühere Werke von den Fähigkeiten und Interessen der Maler geprägt. Und sie sind erstmals spezifisch deutsch.
Anders als etwa die Meister Italiens, die in ihren Gemälden die makellose Schönheit feiern, versuchen die deutschen Maler des späteren 15. Jahrhunderts, den Betrachter nicht durch Anmut und Harmonie zu berühren, sondern durch ungewöhnliche, dynamische Kompositionen und eine drastische Erzählweise. Die Natur sowie Menschen aller Stände malen sie so, wie sie sie sehen: als kultiviert und schöngeistig – oder als roh und ungeschliffen. Sie erlauben ihren Figuren derbe Gesten und negative Gefühle, schrecken auch vor Hässlichkeit nicht zurück und geben die gesellschaftliche Realität daher unverblümter wieder als ihre ausländischen Kollegen.
Erst Albrecht Dürer wird es an der Wende zum 16. Jahrhundert gelingen, die Stile von Nord und Süd zu vereinen. 1505 reist er nach Italien, lässt sich dort von der Arbeit seiner Kollegen inspirieren und verbreitet nach der Rückkehr die Lehren der Renaissance in seiner Heimat. Und wird, indem er die technische Vollkommenheit der Italiener mit Darstellungen der Natur und typisch deutschen Motiven wie etwa ungeschönten Figuren kombiniert, zum Vorbild zahlreicher Maler nördlich wie südlich der Alpen.
Seine Herkunft prägt ihn dennoch ein Leben lang. Schon früh in seiner Karriere studiert Dürer beispielsweise die bahnbrechenden Werke Stefan Lochners. So reist er während seiner Wanderjahre wohl auch nach Köln und besichtigt Lochners Altarbild. Und malt später in einem seiner Aquarelle einen Hirschkäfer – ganz ähnlich jenem, den Lochner mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor als Vorboten einer neuen deutschen Kunstepoche in seinem Gemälde untergebracht hatte.