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Surrealismus Leseprobe: Angriff auf die Vernunft

Sie sind Revolutionäre, die den Geist befreien wollen: Ab 1919 versammelt der französische Dichter André Breton in Paris eine Gruppe von Künstlern um sich – die späteren Surrealisten. Gemeinsam erforschen sie die verborgenen Kontinente ihrer Seelen, experimentieren mit Hypnose, schreiben und dichten wie in Trance. Ihr Ziel: eine Kunst, in der sich das Unbewusste offenbart

Bürozeit: täglich von 16.30 bis 18.30 Uhr. Jeden Tag sind zwei Sachbearbeiter im Einsatz und betreuen den Publikumsverkehr. Störungen und Ablenkungen sind zu vermeiden: "Es ist absolut essenziell, dass man die beiden im Dienst befindlichen Surrealisten in Ruhe ihre Arbeit machen lässt." Ein Generalsekretär ist für die Disziplin verantwortlich.

Dabei rollt hier, in diesen sachlich organisierten Räumen, nichts weniger als der Generalangriff auf die Vernunft.

Hier, in der Rue de Grenelle Nummer 15, in gediegener Nachbarschaft zu den Ministerien, Botschaften und Großbürgerhäusern des 7. Arrondissements, amtiert seit dem 10. Oktober 1924 das "Büro für surrealistische Forschungen" – die Bodenstation des "Surrealen", des Über-Wirklichen, wie es der Dichter Guillaume Apollinaire genannt hat.

Hier geben die Literaten, die sich "Surrealisten" nennen, eine Zeitschrift heraus ("La Révolution surréaliste"), entwerfen Handzettel ("Eltern! Erzählt euren Kindern eure Träume"), verfassen Presseerklärungen, empfangen ausländische Journalisten. Und wer immer "verblüffende Zufälle" oder "intuitivste Gedanken über Mode ebenso wie über Politik" beisteuern mag, ist "inständig gebeten, sich zu melden".

Hier ist die Registratur der Wunder, die Kanzleistube der Träume, die Behörde des Befremdlichen, die Hauptverwaltung der Paradoxe. Und das größte Paradox sind die Surrealisten selbst.

Sie feiern den Aufstand der Triebe und des Begehrens – und panzern sich mit knochenharter Moral. Sie streiten für Zügellosigkeit und Revolte – und scharen sich um einen autoritären Führer.

Sie predigen die schrankenlose Freiheit des Geistes – und bestrafen jede abweichende Haltung mit Exkommunikation. Sie fordern die Allmacht der Fantasie – und knebeln sie zugleich durch ein Verfahren der Selbstbeschränkung, das jede poetische Absicht verbietet und das sie "Automatismus" nennen.

"Keine Künstlerbewegung zuvor", wird der Kunsthistoriker Uwe M. Schneede später befinden, "hat ein so perfektes, nach innen funktionierendes und nach außen wirksames System aufgerichtet wie die Surrealisten." Und in niemandem verkörpert sich der surrealistische Zwiespalt aus Überschwang und Pedanterie so rein wie in ihrem Anführer André Breton.

Der Polizistensohn aus der Normandie ist ein Mann mit mächtigem Schädel und rötlich brauner, glatt zurückgekämmter Mähne. Mit verziertem Spazierstock, flaschengrünem Anzug und einer Brille aus Fensterglas flaniert er durch die Straßen von Paris, taumelt zwischen euphorischen Höhen und dem "schwarzen Abgrund" der Depression.

Breton ist ein Star der Pariser Intellektuellencafés. Und seine Getreuen verehren ihn, "wie man eine Frau liebt" – so Jacques Prévert, einer der Jünger.

Arrogante Snobs und eiserne Nonkonformisten beugen sich dem Regiment des 28-Jährigen. Louis Aragon etwa, ein Mann mit dünnem Schnurrbart und gezierten Manieren, verkrachter Medizinstudent wie Breton selbst. Oder der Dandy Philippe Soupault mit dem gewellten Blondhaar und den englischen Zigaretten. Oder Paul Éluard, ein Frauenverführer aus gutem Haus. Sie alle verstehen sich als Schriftsteller; denn am Anfang auch dieser Glaubensgemeinschaft steht das Wort.

Breton ist, da sind Freund und Feind sich einig, der "Papst" dieser Kirche. Ein nüchtern-heiliger Inquisitor, der sich bisweilen "für den Geist die Gesetze der terreur" zurückwünscht, der Schreckensherrschaft während der Französischen Revolution – und bis dahin schon einmal freigebig Ohrfeigen an Kollegen und Passanten verteilt.

So groß ist die Angst vor Bretons Bannstrahl, dass Mitstreiter, die seine Ablehnung der Musik kennen, sich nur klammheimlich in ein Konzert wagen. Bürgerliches Berufsleben ist ohnehin verpönt – auch wenn Breton und Aragon sich zeitweise als Bücherkäufer und Trendscouts für den Modemacher, Sammler und Mäzen Jacques Doucet verdingen. Pflicht sind dafür die Gruppentreffen im "Cyrano" am Montmartre, gleich neben dem Erotikvarieté "Moulin Rouge", jeden Tag Schlag 17 Uhr. "Und wenn man auch nur einmal abwesend war", wird sich Soupault erinnern, "wurde am nächsten Tag argwöhnisch gefragt, weshalb."

Oder die Sitzungen in Bretons Zwei-Zimmer-Atelierwohnung in der Rue Fontaine gleich um die Ecke, jener Wunderkammer voller Fetische, die der Chef hortet, "um sich deren Kräfte anzueignen", und die er im Laufe der Jahre zu einer gewaltigen Sammlung anhäufen wird. Er hortet unter anderem Steine, afrikanische Masken, Kästen mit Schmetterlingen und Zikaden sowie Kultfiguren aus Mexiko, ein Navajo-Tomahawk, einen Schemel aus Kamerun, eine Kokosnussraspel von den Karolinen, einen mit Federn und Muscheln geschmückten Menschenschädel aus Neuguinea und einen Strauch, an dem exotische Vögel wie Trauben hängen.

Und zwischen all diesen Devotionalien: Bilder und Skulpturen von Picasso, Kandinsky, Duchamp und Giacometti.

Wie sein Mobiliar oszilliert auch Bretons Ehrgeiz zwischen Kunst und Magie. Er hört Stimmen, die ihm nie gesehene Bilder flüstern, und glaubt an die Astrologie. Er predigt die Ausschweifung – und scheut sie zugleich: Kontrollverluste durch Drogen, Alkohol und Liebe sind ihm ein Graus. Er verdammt nicht nur Homosexualität, Gruppensex, Voyeurismus und Exhibitionismus, sondern vermeidet auch Verkehr mit schwarzen Frauen und solchen, die kein Französisch sprechen.

Und er ist ein Schriftsteller, der die schöne Literatur hasst. Denn nicht elegantes Schreiben tut not, da ist man sich einig, sondern "eine unwahrscheinlich radikale, schonungslos durchgreifende, keinen Lebensbereich auslassende Revolution".

Den vollständigen Text können Sie in der neuen Ausgabe von GEOEPOCHE Edition "Surrealismus" nachlesen.

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GEO EPOCHE EDITION Nr. 8 - 05/13 - Surrealismus: Aufstand gegen die Vernunft

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