Zum Erscheinen des GEO Themenlexikons hat die Redaktion Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete gebeten, einige Fragen zu beantworten: über Bildung, Wissen und die Suche nach letzten Gewissheiten zwischen A und Z. In diesem Monat hat Professor Dr. Rolf Haubl unseren Fragebogen ausgefüllt. Er lehrt psychoanalytische Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt/Main und ist Stellvertretender Geschäftsführender Direktor des Sigmund-Freud-Instituts.
Welche Stichworte mit A haben für Sie als Psychoanalytiker besondere Bedeutung?
„Abwehrmechanismen“ und „Angst“ – weil Menschen trotz aller Coolness sehr verletzliche Wesen sind und weil ihre Handlungsfähigkeit davon abhängt, wie sie ihre Ängste bewältigen.


Zu welchem Thema müsste man für Sie persönlich ein Lexikon erfinden?
Ich hätte gern ein Lexikon der „Herzensbildung“, eine Darstellung der verschiedenen emotionalen Modi des Erlebens und Handelns – Liebe, Hass, Ekel, Hoffnung ... Ein solches Werk müsste interdisziplinär ausgerichtet sein: von der Neurobiologie bis zur Kunst, einschließlich der Kultivierung der Gefühle wie etwa in der „Liebeskunst“.
Welcher landläufige Irrtum sollte endlich mal aufgeklärt werden?
Dass die Psychoanalyse nicht über ihren Gründer Sigmund Freud hinausgekommen sei. Das Gegenteil trifft zu: Sie ist heute ein Dachbegriff für verschiedene Theorien und Therapien, die nur noch eine Art „Familienähnlichkeit“ besitzen.
Wie können Psychoanalytiker bei Abendgesellschaften Eindruck machen?
Indem sie klagenden Müttern und Vätern erklären, dass ihr Nachwuchs vor allem deshalb „missraten“ ist, weil Kinder sich nun mal nicht gemäß den Sonntagspredigten ihrer Eltern verhalten. Sie tun vielmehr das, was diese ihnen lieber verbergen wollen: Kinder leben die unbewussten Ängste und Wünsche ihrer Eltern aus.
Wozu braucht man Experten?
Der Experte als „Besserwisser“ hat sicher ausgedient – auch wenn sich viele wünschen, ihre Selbstverantwortung an ihn abzutreten. Man braucht Experten aber in einer anderen Funktion: damit sie Reflexionsprozesse anregen, ohne sie zu dominieren.
Nach welcher Information haben Sie zuletzt länger recherchiert?
Eine solche Suche muss ich mehrmals täglich machen. Gestern galt sie dem Stichwort „embodiment“. Diese Theorie besagt, dass Erfahrungswissen immer eng mit dem Körper verbunden ist, also „verkörpert“ ist. Und dass erfahrene Menschen meist mehr wissen, als sie in Worten ausdrücken können. So tun etwa erfahrene Psychotherapeuten oft intuitiv das, was in einem konkreten Fall angemessen ist. Sie wenden nicht einfach nur wissenschaftliches Wissen an. Ihr Wissen ist verkörpert, ist eher ein „Können“.
Welchen Lexikoneintrag würden Sie gern selbst schreiben?
Derzeit den über den „Hass“. Weil er eine Schicksalsfrage der menschlichen Gattung ist.
Welchem allzu unbekannten „Helden“ würden Sie unbedingt einen festen Eintrag im Lexikon wünschen?
Dem Engländer Donald Wood Winnicott (1896 bis 1972), einem Wegbereiter der Kinderpsychotherapie, dessen originelle Konzepte, etwa zur kulturellen Bedeutung des Spielens, nach wie vor zu wenig aufgegriffen werden.
Welchen Zusammenhang sollte jeder kennen?
Den Mechanismus der nachträglichen „Verfälschung“ der eigenen Erinnerung im Dienste der Selbstwertsicherung: Wer in einer mündlichen Prüfung schlecht abgeschnitten hat und sich dafür schämt, der verklärt das Ereignis Jahre später gern zu einem heldenhaften Kampf gegen einen ungerechten Prüfer.
Was haben Bilder mit Bildung zu tun?
Bildung ist auch Sozialisation nach einem Vor-Bild, das verinnerlicht wird. In der Mediengesellschaft werden diese mentalen Bilder zunehmend durch industriekulturell gefertigte Schablonen geliefert. Wichtig ist, nie zu vergessen, dass das „Bild“ in Bildung auf die nichtrationale, die sinnliche Seite von Erziehung verweist.
Wozu braucht man in Zeiten des Internet überhaupt noch ein Lexikon?
Um das lexikalische Wissen nicht immer nur optisch zur Verfügung zu haben: Bücher riechen. Und in Büchern blättern berührt.
Gibt es Wörter mit Z, mit denen Sie sich bei Ihrer Arbeit immer wieder befassen müssen?
„Zwang“ und „Zerstörung“, weil beides nicht aufhört – auch in der Form von Selbstzwang und Selbstzerstörung.