
Liebe Leserin, lieber Leser,
alle Darstellungen der Erde verkörpern bis auf den heutigen Tag "Weltbilder"
in der buchstäblichen Bedeutung des Wortes. Sie spiegeln Vorstellungen von der Ordnung des Kosmos und von der Position, die der Mensch darin einnimmt. Für die Babylonier war die Welt eine kreisrunde Landmasse um ihre Metropole am Euphrat, begrenzt von einem ringförmigen Ozean und einem Kranz entlegener Inseln - so jedenfalls ritzten sie es um das Jahr 600 vor unserer Zeitrechnung in eine be rühmt gewordene Tontafel. Gute 1000 Jahre später richteten christliche Mönche ihre Landkarten auf das Himmlische Jerusalem aus und setzten das Gotteswerk Erde ins Zentrum ihres Universums. Karten formten sich ebenso nach ganz weltlichen Wunsch- und Machtträumen: Europas Konquistadoren und Entdecker zeichneten akribische Inventare jener Landstriche, deren Besitz sie oft so überheblich proklamierten. Noch heute versuchen Staaten, ungeklärte Grenzfragen in ihrem Sinne zu lösen, indem sie sich umstrittene Gebiete auf dem Papier von Atlanten einverleiben.

Doch seit jeher gibt es bei Kartenmachern und ihren Auftraggebern neben dem Bedürfnis nach kosmologischer, nach religiöser oder politischer Selbstvergewisserung noch ein anderes: das nach praktischer Orientierung im Raum. Bereits die Menschen der Antike entwickelten Mess- und Rechenverfahren, um die Welt so darzustellen, dass sie sich physisch in ihr zurechtfinden konnten. Zuverlässige Seekarten leiteten Kapitäne bald entlang gefährlicher Ufer. Die Gelehrten der Renaissance und der Aufklärung, die Naturwissenschaftler der Neuzeit haben die kartografischen Techniken perfektioniert: Die Kenntnisse über die Beschaffenheit unseres Planeten erweiterten sich vielfach und manchmal dramatisch – auch wenn erst im vergangenen Jahrhundert die letzten "weißen Flecken" von den Landkarten getilgt worden sind.
Von der beeindruckenden Leistung der Kartografen, die Erde in ein erhellendes, immer exakteres System aus Zeichen zu bannen, zeugt dieser "Große Weltatlas". Und er soll zugleich ein weit umfassenderes Bild der Welt vermitteln, als dies Atlanten gemeinhin tun. Das Herzstück bildet der Kartenteil, der von dem renommierten amerikanischen Kartografie-Verlag Hammond World Atlas Corporation entwickelt wurde. Mithilfe neuester digitaler Technik gefertigt und höchst präzise zeigt er Meere, Kontinente, Länder - von Europa bis zu den Polarregionen. Satellitenfotos nehmen unseren Planeten auf andere Weise in den Blick, präsentieren ein Erdantlitz geprägt von klimatischem Wandel, von menschlicher Zivilisation - aber auch von der Schönheit natürlicher Formen. Dem auf herkömmlichen topografischen
Darstellungen Unsichtbaren widmet sich ein Abschnitt mit thematischen Weltkarten: zur fortschreitenden Globalisierung, zur Verteilung von Arm und Reich, zur Gesundheit und Bildung der Menschen, zum Energieverbrauch oder zur weltweiten Migration. Zwei umfangreiche Teile erschließen die historische Dimension unseres Bildes der Erde, ergründen dessen Werden. Der Wissenschafts- journalist und GEO-Autor Gerald Sammet zeichnet auf gut 200 Seiten die mehr als 8000-jährige Geschichte der Kartografie nach, die ein spannendes Epos ist aus genialen Erfindungen, frappierenden Irrtümern - und bezaubernden Kunstwerken. In 15 Reportagen porträtieren GEO-Autoren überdies jene Männer, die - mal tragisch, mal triumphal; mal rücksichtslos, mal naiv - Europas Horizont kontinuierlich ausweiteten. Die aus der kleinen Welt nach und nach einen kompletten Globus machten. Neben Kolumbus oder Magellan etwa den Spanier Francisco de Orellana, der durch Zufall den größten Strom der Erde, den Amazonas, für die Europäer entdeckte. Oder den Preußen Ludwig Leichhardt, der bei dem Versuch, Australien als erster Weißer zu durchqueren, verschollen ist. Mit einem biografischen Lexikon und einer Chronologie können Sie die Abenteuer dieser Pioniere - und die ihrer zahlreichen Schicksalsgenossen - noch einmal komprimiert nachverfolgen. Die Geschichten der großen Entdecker beweisen eines: Neues Wissen schafft neue Weltbilder, kann alte korrigieren. Jede Schärfung des Blicks auf unsere physische Umgebung ändert immer wieder auch unser Urteil über die Realität, lässt uns vermeintliche Gewissheiten überprüfen. Das, unter anderem, wünsche ich Ihnen bei der Lektüre dieses Werkes.
Herzlich Ihr
Peter-Matthias Gaede
Chefredakteur GEO