Langsam gleitet ihre Hand über das Stiegengeländer. Ein Schritt nach dem anderen. Immer weiter hinauf. Der Weg ist lang. Wann ist er aus? Wird er irgendwann enden? Ja. Gleich. Nur noch ein paar Stufen.
Oben. Ein Raum. Und eine Tür. Langsam bewegt sie ihre Hand, auf die Türklinke zu. Drückt sie hinunter.
Wird sie sich wirklich trauen? Sie kann nicht mehr. Die Schmerzen sind zu groß. Der Riss in ihrem Herzen zu weit. Ihre ganze Kraft aufgebraucht. Irgendwann nimmt alles ein Ende. Sie nimmt jetzt ein Ende. Warum auch nicht? Das Leben ist grausam. Trauern würden sie auch später. Jetzt kann sie nicht mehr.
So oft hat sie sich einen Engel gewünscht. Der sie in den Arm nimmt wenn sie traurig ist. Sie einfach festhält. Sie an sich gedrückt weinen lässt. Ihre Schmerzen versteht. Sie in den Schlaf wiegt - und mit einem sanften Kuss und einem liebevollem Lächeln aufweckt.
Doch nie ist dieser Engel gekommen. Und jetzt ist sie hier. Am Dach. Am Dach ihres Hauses. Der Wind lässt ihre Haare fliegen. Bald würde er auch sie fliegen lassen.
Würde sie Angst haben? Oder würde sie den Flug ins Nichts genießen?
Der Wind trocknet ihre Tränen. Ihr weißes Nachthemd flattert im Takt ihrer Schmerzen. Bald ist es aus. Wozu die Schmerzen ertragen, wenn sie auch enden konnten? Für nichts.
Es ist eine schöne Nacht. Klar. Die Sterne leuchten hell. Der Vollmond wartet nur auf das Heulen von Werwölfen. Doch Werwölfe gibt es nicht. Auch Feen gibt es nicht. Oder Einhörner und Drachen. Und auch keine geheimnisvollen Vampire. Keine Magie. Und auch keinen Gott. Keinen gerechten Gott, der alle Menschen gleich viel liebt. Wenn das so wäre gäbe es keine Trauer. Keine Kriege. Keinen Hass. Keine Menschen. Denn Menschen sind schlecht. Durch und durch schlecht. Wenn es einen Gott gäbe, würde sie nicht so leiden müssen. Dann wäre sie jetzt nicht hier auf dem Dach. Würde dem Tod nicht ins Auge blicken. In sein kaltes, schwarzes, tiefsinniges Auge. Gäbe es einen Gott, gäbe es auch Einhörner und Drachen. Und Vampire und Werwölfe. Dann müsste auch der Mond nicht Nacht für Nacht auf ein herzzerreisendes Heulen warten.
Doch so ist es nun mal.
Die Schritte sind vollendet. Alle. Alle bis auf einen. Den alles entscheidenden. Der, der sie hinunter in das schwarze Ende stürzen würde.
Sie konnte den Boden nicht erkennen. Doch bald würde er ihr höllische Schmerzen bereiten. Alles aus. Gleich.
Sie schließt die Augen. Hebt den Fuß. Will stürzen.
Doch spürt sie eine zarte Macht, die sie festhält. Sie sanft zurückzieht. Sie lässt es geschehen. Durchsichtige Hände umarmen sie. Sie dreht sich um. Öffnet die Augen - und weint.
Ihr Engel ist gekommen. Es gibt ihn doch. Sie sinkt in die Knie. Der Engel geht mit ihr zu Boden. Umschlingt sie noch immer, mit seinen durchsichtigen Armen. Wippt sie hin und her. Immer nur hin und her. Ihr Bewusstsein schwindet.
In ihrem Bett, wacht sie auf. Sanfte Augen begegnen den ihren. Zarte, vorsichtige, behutsame Lippen berühren die ihren. Ich bin da. Flüstert eine Stimme in ihrem Kopf. Endlich kann alles wieder gut werden. Ihr Engel ist gekommen um sie zu retten.