Ich schluckte und zerrte den Reisverschluss meiner Fleecejacke zu. Der eisige Wind pfiff durch jeden Schlitz. Ich zog die Ärmel über meine Handgelenke und stopfte die Hände in die Jackentaschen. Die Ohrstöpsel drückten unangenehm, ich hatte sie in letzter Sekunde aus der Schreibtischschublade meiner Schwester gezogen, bevor ich zur Straßenbahn rennen musste. Zum Glück hatte ich sie nicht verpasst. Allerdings wäre das jetzt auch egal gewesen, denn der Zug hatte sowieso Verspätung. Ich vergrub mein Kinn in dem weichen roten Fleece und schloss müde die Augen. Klar und intensiv sprudelte die Melodie meines Lieblingsliedes in meine Ohren. Ich konzentrierte mich auf die Gitarrenakkorde, das Geklimper des Klaviers im Hintergrund, den stetigen Bass und den Rhythmus des Schlagzeugs. Ich lauschte auf jedes Wort des Sängers und die Wirkung ließ meine kalten Finger kribbeln und Gänsehaut über meine Beine ziehen.
Hold on to the past
Present runs so fast
I’ll catch a part
Hold on to my heart
This is my secret
And I keep it
Until I die
Oh it defines me
I select the sea
Of important things
Built to a chain of rings
The enemy attacks me
Oh I’m fleeing
This will be, this will be a fight
Against air bubbles in the moonlight
I feel afraid of losing
I’m afraid of smelling out
What I hide from the others
This only belongs to me
I select the sea
Keep carrying the best
Piggy-back in a chest
Hold on to what I love
Hold on to my secrets
Any place and any time
Because they’ve the right to be just mine
Nobody knows excepting me
In my heart it flows
It flows into the sea
Into ocean of my secrets
Ich öffnete die Augen und sah mich unauffällig um. Der Bahnsteig war bis auf eine Frau mit einem riesigen Rucksack und einem Kinderwagen fast leer. Nur vorne am Gleis lungerte noch eine Gruppe Jungs herum, die immer wieder zu mir herüber starrten. Und zwar nicht sehr unauffällig. Der eine mit einer schwarzen Irokesenfrisur drehte sich um, hob die Augenbrauen. Als er etwas sagte, lachten die anderen los. Ein Typ mit kahlem Kopf und Cap grinste mich an. Ich senkte den Blick und sah den Bahnsteig hinunter. Wenn sie wüssten, dass sich in meinem Koffer keine zehn Paar High Heels befanden, sondern Gummistiefel! Mich würde allzu sehr ihre Reaktion interessieren.
Ich lächelte, als ich an den Satz dachte, den meine beste Freundin jetzt verständnislos ausstoßen würde, wenn ihr das erzählte.
"Moa, über was du dir alles Gedanken machst! Das ist doch scheißegal!"
Ich ließ meinen Blick wieder über die Jungs wandern. Sie glotzten immer noch herüber. Was würden sie sagen, wenn ich ihnen erzählen würde, dass ich zu meiner Oma fuhr, um ihr beim Unkraut jäten und Marmelade einkochen zu helfen?
Ich nahm meinen Trolley und ging auf die Bank an der Wand zur Bahnhofshalle zu. Erschöpft ließ ich mich darauf fallen und streckte meine schmerzenden Beine aus.
Ich dachte an die Lyrics von dem Song von COLE zurück und musste grinsen. Ich hatte auch ein Geheimnis. Natürlich nicht nur eines. Aber allerdings nur eines, das ich mit niemandem teilte. Neben mir tauchte ein Schatten auf und ich hob den Kopf. Ein alter Mann stand vor der Bank und stupste meine Füße mit einem Regenschirm an. Ich runzelte fragend die Stirn und leise Angst wuchs in mir. Der Mann war wahrscheinlich gar nicht sonderlich alt. Er war ungepflegt, die Haare fettig, der Bart verfilzt, die zerrissene Kleidung starrte vor Schmutz.
Ich sah wie sich seine Lippen bewegten und ich zog mir hastig die Ohrstöpsel aus den Ohren. "Entschuldigung, was haben Sie gesagt?", fragte ich, meine Stimme zitterte. Ich sollte aufstehen und gehen. Mein Zug kam sicherlich gleich.
"Kannst du ein Stück zur Seite rücken, Herzchen?", sagte er. Mein Gesicht blieb stehen. Herzchen?! Gänsehaut zog sich über meinen Hals in den Nacken und den Rücken hinunter. Ich sprang hektisch auf, griff nach meinem Koffer und machte Platz. Der Mann lächelte mich dankbar an und setzte sich genau dorthin, wo ich noch vor einer Sekunde gesessen hatte. Er lehnte den Regenschirm neben sich an die Bank und faltete seine Hände im Schoss.
Er sah zu mir auf und fragte: "Herzchen, willst du dich nicht wieder setzen?"
Ich schüttelte wild den Kopf. "Nein, nein. Ich stehe gerne."
Unsicher sah ich ihn an. Seine Augen waren gruselig. Durch die Brillengläser wirkten sie doppelt so breit und als hätte er mehrere fleckige Pupillen.
Er klopfte neben sich auf den freien Platz auf der Bank. "Komm, setz dich. Ich will dir etwas erzählen."
Ich weiß nicht, warum ich den Griff meines Koffers losließ und mich wieder setzte, aber ich tat es. Er beugte sich zu mir herüber und sein stinkender Atem strich über mein Gesicht. Sofort bereute ich es, mich gesetzt zu haben und begann mich zu fragen, warum ich es überhaupt getan hatte.
"Herzchen, kennst du die Stadt mit dem Fluss?" fragte er leise. Ich rückte ein wenig von ihm ab.
Was sollte das? War er gestört? Krank?
"Nein?", antwortete ich ebenso leise. Für einen winzigen Augenblick huschte ein Lächeln über seine Lippen.
"Kennst du die Stadt mit den Häusern?" fragte er.
Ich runzelte die Stirn. Der Typ war eindeutig verrückt! Ich blickte zu den Jungs am Gleis. Sie waren dabei sich Zigaretten zu drehen. Waren hier denn nur komische Leute?
"Jede Stadt hat Häuser", erwiderte ich. Diesmal verweilte sein stummes Lachen auf seinem verquollenen Gesicht.
"Nein. Das stimmt nicht", sagte er. Wieder überlief mich ein Schauer von Gänsehaut. Ich sollte aufstehen und gehen!
Plötzlich zerfiel sein Lächeln und seine Mundwinkel rutschten traurig nach unten.
"Ich warte", sagte er. Ich hörte die Hoffnung und den Mut in diesen zwei Wörtern. Und ich hörte, wie traurig er war. Ich schluckte.
"Worauf warten Sie?" fragte ich zögernd. Sollte man sich mit geistig verwirrten Menschen unterhalten? Oder rasteten sie dann aus? Oder irrten danach noch verwirrter umher?
"Auf Katalin", antwortete er und sah mich flehend an. Misstrauisch schaute ich zurück und zuckte zusammen, als ich die kleinen Tränen sah, die seine Wangen hinunterflossen. Es würgte mich und ich hatte für einen kurzen Moment den Drang ihn in den Arm zu nehmen, bevor ich wieder seinen schmuddeligen Anblick registrierte. Ich zuckte zurück und zupfte an meinen Fingernägeln herum.
"Hast du Katalin gesehen?" fragte er hoffnungsvoll.
"Ich weiß nicht. Wer ist Katalin?"
"Sie... sie ist weg. Verschwunden. Vor zwölf Jahren verließ sie das Haus. Das letzte Mal sah ich sie hier am Bahnhof. Sie wollte in die Stadt mit dem Fluss und den Häusern. Weißt du, wo sie ist? Sag es mir, Herzchen! Wo ist Katalin?"
Ich holte zittrig Luft. Konnte ich ihm seine Hoffnung zerstören und ihm sagen, dass ich keine Ahnung hatte?
"Warum ist sie gegangen?" hakte ich nach.
Er schüttelte den Kopf und meinte abfällig: "Sie sagte, sie muss gehen."
Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Tolle Antwort! Ich schwieg und wunderte mich über mich selbst. Warum machte ich mir überhaupt Gedanken darüber? Warum saß ich hier noch und unterhielt mich mit ihm?
"Sie hatte ein Geheimnis", fügte er leise hinzu. Ich hob ruckartig den Kopf.
"Ein Geheimnis?"
Er nickte. "Ja. Ein Geheimnis. Sie hat es mir erzählt und dann ist sie gegangen."
"Was war das für ein Geheimnis?"
Er presste die Lippen aufeinander. "Geheimnisse plaudert man nicht aus." Wieder liefen ihm Tränen über das Gesicht. "Ich werde es mit ins Grab nehmen."
Ich war schockiert. Ich kann nicht bestimmen, warum, aber es schockierte mich total.
"Werden Sie es niemandem anvertrauen?"
Er schüttelte den Kopf und streckte die Hand aus. "Herzchen, dein Zug."
Ich sah auf und starrte den mit Graffiti besprühten Zug an. Ich stand auf, nahm meinen Koffer und stieg ein.