Krause wie er leibt und lebt
Wir haben alle mal die unterschiedlichsten Lehrer kennengelernt: Manche können sich keine Namen merken und sprechen desshalb alle Schüler mit Madam oder Mister an, andere bereiten nie ihren Unterricht vor und improvisieren fröhlich an der Tafel. Und wieder andere haben legendäre Wutausbrüche, brechen vor Verzweiflung in Tränen aus oder verlassen beim Klingeln fluchtartig den Klassenraum.
Die Schule, ein ebenso aufregender wie eintöniger Ort, in dem wir alle einen Teil unseres Lebens verbringen dürfen. Und wer kennt es nicht, das Warten auf die Pause, das Beobachten des langsamen Vorrückes des Minutenzeigers auf die 13:15 Uhr zu. Oder die mitunter interessanten Mitschüler, die man kennen und lieben oder eben hassen lernt.
Hier ein Auszug aus meinem Mathematik-Unterricht bei "nennen wir ihn doch einfach Krause".
Krause ist vielleicht Mitte vierzig, rasiert sich regelmäßig alle Haare weg und sieht damit aus wie Stromberg. Außer Mathematik unterrichtet er Chemie, seine große Leidenschaft. Krause ist dafür bekannt, dass er, sagen wir, einzigartigen Unterricht macht.
Krause bewegt sich stets auf dem schmalen Grad zwischen Genie und Wahnsinn.
Ich persönlich halte ihn für ein wahnsinniges Genie und kann ehrlich sagen, dass er der beste Mathelehrer war, den ich je hatte.
Wir springen zu einem wundervollen Donnerstagmorgen. Draußen hängen Regenwolken über dem Land, drinnen ist die Luft so heizungswarm, dass zwei Drittel der Klasse mehr dösen als aufpassen. Krause, der dies natürlich bemerkt hat, zieht einen Stuhl zu sich heran, steigt darauf und von dort aus auf den Tisch einer Schülerin. Immerhin, die Hälfte der Klasse blickt ihn jetzt irritiert an, aber die andere Hälfte schläft immernoch mit offenen Augen.
Krause beginnt auf der Platte zu springen, auf und ab, auf und ab. Jetzt passen beinahe alle auf, nur in der letzten Reihe gibt es noch einige Langschläfer. Und so macht Krause sich auf den Weg. Über die Tische hinweg spaziert er in kleinen Schrittchen nach hinten. Schließlich gibt es nur noch eine einzige Seele, die noch immer nichts mitbekommen hat und friedlich schläft, obwohl es ansonsten mucksmäußchenstill ist. Zu still eigentlich.
Krause baut sich auf dem Nebentisch auf, leiht sich einen Stift vom Tischnachbarn und tippt dem Schläfer damit gegen die Stirn. Der Kopf des Schülers ruckt hoch, orientierungslos sieht er sich um und bemerkt endlich Krause, der von oben auf ihn hinunteräugt. "Mitdenken", trällert Krause und geht wieder nach vorne. Von seinem Tisch aus setzt er den Mathe-Unterricht fort, diktiert einen Lernkasten und beendet schließlich die Stunde.
Krause unterrichtet bekanntlich auch Chemie.
An einem einladend schönem Sommertag, kurz vor den Zeugnissen trägt sich in Krauses Chemie-Unterricht Folgendes zu:
Wer kennt ihn nicht, den Knallgasversuch? Ein Luftballon voll Knallgas wird unter der Decke befestigt, anschließend hält ein besonders mutiger Schüler eine entzündete Kerze darunter und der Ballon explodiert mit einem Knall wie bei einem Kanonenschuss. "Liebe Klasse", beginnt Krause. (Hier muss er sich nicht weiter Gehör verschaffen, im Chemie-Unterricht sind alle wachsam. "Wir beschäftigen uns heute mit dem Knallgasversuch. Wer von Ihnen hatte heute Morgen Müsli zum Frühstück?"
Ein Schüler meldet sich vorsichtig. "Paul, hervorragend! Dann sind Sie heute unser Zunderaffe", ruft Krause. Der Lehrer freut sich sichtlich, verschwindet in der Chemiesammlung, kommt mit einem Gasbehälter, Luftballon und Kerze am Stock zurück und beginnt zu erklären: "Wir jagen jetzt gleich etwas in die Luft!"
Das war es auch schon wieder mit Erklärungen. "Man macht diesen Versuch normalerweise mit etwas Knallgas im Luftballon. Aber Sie alle kennen mein liebstes Motto: Viel hilft viel. Ganz besonders bei Knallgas. Wir nehmen also die doppelte Menge."
Gesagt, getan. Kurz darauf bekommt der Zunderaffe Paul die Steckenkerze in die Hand gedrückt mit dem Auftrag, sie dicht unter den Ballon zu halten. "Aber erst, wenn wir alle in Deckung gegangen sind.", setzt Krause dazu und strahlt. Kurz bevor er sich abwendet fragt er aber doch nochmal nach. "Paul, Sie haben doch ruhige Hände, oder?" Paul nickt. "Sehr gut, und mögen sie laute Geräusche?" Der Schüler nickt: "Ich spiele Paintball und Schlagzeug." Krause nickt zufrieden. Und marschiert zu seinem Pult zurück. "In Deckung!", ruft er durch das Klassenzimmer.
[Anmerkung: Es ist Sommer. Alle Fenster sind geöffnet und der Chemieraum liegt über Eck neben dem Büro des Schulleiters.]
Sämtliche Schüler rutschen von ihren Stühlen und knien sich hin, um über die Tischplatte luschern zu können. Krause selbst nimmt auf dem Lehrerpult Platz. "Zunderaffe, jetzt!" Paul hält die Kerze unter den Ballon, es knallt und rote Fetzen segeln durch die Luft. Sämtliche Anwesenden spenden spontan Applaus. Nur Augenblicke später wird die Tür des Klassenzimmers aufgerissen und der Schulleiter kommt hereingestürmt: "Krause, was geht hier vor?" Krause sieht ihn etwas überrascht an. Schließlich erklärt er: "Wir haben Spaß!"
Krause wie er leibt und lebt. Obwohl er teilweise extreme Ansichten hatte, ist er doch der genialste Mensch, den ich bisher kennengelernt habe. So kann er die Zahl Pi bis zur 47. Ziffer auswendig aufsagen, ist menschlich ein Arsch und hat mir selbst trockene Themen verständlich gemacht. Ich bin ihm sehr dankbar dafür, denn obwohl ich meistens schlechte Noten hatte, habe ich doch etwas mitgenommen. Krause hat mit uns in zwei Jahren Mathe-Unterricht den Stoff von 4 Jahren behandelt, da sein Vorgänger eine Pfeife war.
Danke Krause!